By Rafael Matsunaga - Flickr, CC BY 2.0, Link

Ein­hörner, Zombies und Insider — Oder: Ver­luste und Ponzi-Schema statt solider Gewinne?

Mehr als 80 Prozent der Unter­nehmen, die in den USA an die Börse gehen, haben noch nie Gewinn gemacht. Zuletzt war das im Jahr 2000 der Fall.
Martin Gore, Mas­termind der legen­dären Synthie-Pop-Band Depeche Mode und längst selbst eine Legende, wird morgen mit dem Moog Inno­vation Award 2019 des eben­falls legen­dären Key­board-Her­stellers Moog aus­ge­zeichnet. „Lots of sur­prises in store / This isn’t a party / It’s a whole lot more“ schrieb der für seine sozi­al­kri­ti­schen Texte berühmte Brite schon 1983 in seinem Song „It’s more than a Party“. Gore, der nach dem Schul­ab­schluss in einer Lon­doner Bank arbeitete, konnte damals nicht ahnen, dass 16 Jahre später, 1999, ein Par­tyjahr von beson­derer Klasse an den Welt­börsen sein würde. Und ver­mutlich hätte es ihn auch nicht inter­es­siert. Trotzdem passen viele Zeilen seines Songs auch auf diese Bör­sen­party, die schon damals durch zu viel und vor allem von zu bil­ligem Geld der US-Notenbank Fed ange­trieben wurde. 
Zum bil­ligen Geld kamen die schier gren­zen­losen Mög­lich­keiten des Internets hinzu, was zu einem wahren Boom an Bör­sen­gängen führte. Immerhin fast 80 Prozent der Unter­nehmen, die damals an die Börse gingen, machten Ver­luste. Es galt sogar die Regel, dass eine Aktie umso attrak­tiver sei, je größer die Ver­luste. Galten diese doch als ein Zeichen für künftige Gewinne. Statt um Cashflow und Profit ging es um Besu­cher­zahlen auf Web­pages und andere mehr oder eher weniger zuver­lässige Indi­ka­toren für das Wachstum der Geschäfte. Die Party fand wenig später ihr Ende und konnte erst durch eine weitere Runde noch bil­li­geren Geldes wie­der­belebt werden (Immo­bi­li­en­blase), um nach der Finanz­krise zur heu­tigen „Alles-Blase“ zu führen. 
Ver­luste sind wieder „sexy“
So ver­wundert es nicht, dass wir auch heute wieder jene Unter­nehmen feiern, die mög­lichst hohe Ver­luste machen. Wie schon 1999 weisen auch heute fast 80 Prozent der Unter­nehmen, die an die US-Börse kommen, Ver­luste aus. Der Unter­schied zu damals: Die Ver­luste sind noch größer und die Bewer­tungen noch beeindruckender! 
Jüngstes Bei­spiel ist der US-Fahr­dienst­ver­mittler Lyft. Obwohl mit tief­roten Zahlen (2018: 911 Mil­lionen Verlust bei 2,3 Mil­li­arden Umsatz) und inten­sivem Wett­be­werbs­umfeld kämpfend, gelang dem Uber-Rivalen ein ein­drucks­volles Bör­sen­debüt. Über zwei Mil­li­arden US-Dollar konnten bei einer Bewertung von über 23 Mil­li­arden Dollar ein­ge­sammelt werden. Zunächst stieg die Aktie noch um 21 Prozent, so groß war das Interesse der Inves­toren. Doch schon bald setzte Ernüch­terung ein: Von ihrem Höchst­stand von 88,60 Dollar verlor die Aktie innerhalb weniger Tage in der Spitze 33 Prozent. Viel­leicht haben dann doch einige Inves­toren genauer hin­ge­schaut, warnte doch das Management vor wei­teren, anhal­tenden Verlusten. 
Wett­be­werber Uber dürfte in den kom­menden Wochen die Bör­sen­gänge von Ver­lust­un­ter­nehmen (vor­läufig?) krönen. Obwohl das Unter­nehmen noch nie Gewinne erzielte und wohl auf absehbare Zeit nicht erzielen wird, dürfte die Börse das Unter­nehmen mit mehr als 100 Mil­li­arden US-Dollar bewerten. Wenn es noch eines Zei­chens für die Exzesse bil­ligen Geldes bedurft hätte, das ist es – unge­achtet erheb­lichen Wett­be­werbs­drucks, zuneh­mender Pro­bleme mit der Regu­lierung und sich häu­fenden Skandalen. 
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Wag­nis­ka­pital im Überschuss
Dabei machen die Bör­sianer nur ver­spätet das mit, was schon eine Stufe vorher bei den Wag­nis­ka­pi­tal­gebern pas­siert. Denn auch dort gibt es eine Ent­wicklung, die stark an die Jahre vor dem Platzen der New-Economy-Blase erinnert. Damals stieg der US-Tech­no­lo­gie­index NASDAQ zwi­schen 1995 und 2000 von 1000 auf mehr als 5000 Punkte. Diesmal hat sich der Wert der Ein­hörner – also der Start-ups, die in Finan­zie­rungs­runden mit einer Mil­liarde oder mehr bewertet werden –, innerhalb von fünf Jahren von 100 auf über 500 Mil­li­arden US-Dollar erhöht. Ins­gesamt werden in den USA seit 2006 138 solcher Ein­hörner gezählt. Pro Jahr kommen rund 30 weitere hinzu. Immer mehr solcher Unter­nehmen können sich in pri­vaten Finan­zie­rungs­runden 100 Mil­lionen US-Dollar und mehr an fri­schem Kapital besorgen. 
Dahinter steht nicht so sehr die Brillanz der Geschäfts­ideen, sondern ver­mutlich mehr der enorme Anla­ge­druck der Wag­nis­ka­pi­tal­geber. Die Venture-Capital-Fonds haben so viel Geld ein­ge­sammelt wie noch nie. Sequoia Capital, eine der bekann­testen und erfolg­reichsten Risi­ko­ka­pital-Betei­li­gungs­ge­sell­schaften, hat kürzlich mit acht Mil­li­arden US-Dollar den größten je auf­ge­legten Fonds einer Wag­nis­ka­pi­tal­ge­sell­schaft plat­ziert. Geld, das inves­tiert werden will. 
So wundert es nicht, dass die oben beschrie­benen Start-ups immer schneller den Ein­horn­status erlangen. An dieser Stelle drei Beispiele: 
  • Bird, ein Rol­ler­verleih-Unter­nehmen mit Sitz in Santa Monica, Kali­fornien, das Elek­tro­roller in Städten in ganz Nord­amerika betreibt, wurde erst im April 2017 gegründet. Innerhalb von zwölf Monaten konnte das Unter­nehmen vier Finan­zie­rungs­runden abschließen und mehr als 300 Mil­lionen Dollar Kapital einsammeln.
  • DoorDash, ein 2013 gegrün­deter Lie­fer­service für Essen, hat seine Bewertung innerhalb von zwölf Monaten von 1,4 auf 7,1 Mil­li­arden US-Dollar gesteigert. Zu den Inves­toren gehören unter anderem Softbank und Sequoia Capital, die mehrere hundert Mil­lionen US-Dollar inves­tiert haben.
  • Robinhood, eine Smart­phone-App, mit der Inves­toren Aktien und Exchange Traded Fonds günstig handeln können, stei­gerte die Bewertung in kür­zester Zeit von 1,3 auf 5,6 Milliarden.
Nicht alle Profis sehen die Ent­wicklung positiv. Zwar führt Inves­to­ren­le­gende Peter Thiel vor allem das ein­seitige und seiner Meinung nach into­le­rante poli­tische Klima im Silicon Valley als Grund für seinen Umzug nach Hol­lywood an, doch stört ihn auch der zuneh­mende Mangel an kri­ti­schem Diskurs. „There’s a trend of mono­culture and closed-min­dedness“, lässt er sich zitieren. Kein gutes Umfeld für dau­erhaft gute Investitionsentscheidungen. 
Ponzi-Schema statt solider Gewinne?
Doch viel­leicht geht es gar nicht so sehr um gute Geschäfts­ideen und nach­haltige Gewinne? Viel­leicht geht es vielmehr darum, ein Geschäft so auf­zu­blasen, dass man es zu einer über­höhten Bewertung an weniger clevere Inves­toren wei­ter­reichen kann. Wenn ein Unter­nehmen wie Uber seit der Gründung gut 20 Mil­li­arden ver­brannt hat, auf absehbare Zeit keine Gewinne machen wird und dennoch für 100 Mil­li­arden plus x an die Börse gebracht wird, müssen alle Alarm­glocken läuten. Wenn ein Unter­nehmen wie WeWorK – eine edlere Version von Regus-Büros auf Zeit – bei einem Umsatz von 1,8 Mil­li­arden einen Verlust von 1,9 Mil­li­arden US-Dollar macht, erst recht. 
Bör­sen­gänge dienen dann dazu, den Inves­toren der ersten Stunde einen Aus­stieg zu ermög­lichen. Und dieser Aus­stieg erfolgt zu einem Zeit­punkt, an dem die Börse auf­nah­me­bereit und liquide ist. Ten­den­ziell also an der Spitze des Zyklus, nicht am Tief­punkt. Ich habe das in der Ver­gan­genheit an dieser Stelle schon am Bei­spiel von Glencore und Rocket Internet erläutert. Inves­toren der ersten Stunde liegen beim IPO mit beiden Werten noch deutlich im Minus. 
Die Lehren daraus gelten erst recht bei den nun anste­henden Börsengängen: 
  1. Insider sind keine Men­schen­freunde. Wenn Unter­nehmen an die Börse gehen, geschieht dies nur selten aus dem Motiv heraus, die All­ge­meinheit an den Erträgen teil­haben zu lassen. Ent­weder ist es echte finan­zielle Not, oder es ist Zeit für die Insider, Kasse zu machen. Welcher Insider wird schon ver­kaufen, wenn er es nicht muss und er weitere hohe Erträge erwartet? Im Fall von Rocket Internet hat sich das wieder einmal bewahr­heitet. Das Ver­mögen der Gebrüder Samwer unterlag einem erheb­lichen Klum­pen­risiko. Es war also an der Zeit, zu diver­si­fi­zieren und Geld aus dem Unter­nehmen abzu­ziehen. Dies macht niemand, wenn er davon ausgeht, dass die große Wert­stei­gerung noch bevor­steht. Rocket an die Börse zu bringen, war deshalb mehr der finan­zi­ellen Opti­mierung der Eigen­tümer geschuldet, als der Not­wen­digkeit, Geld ein­zu­sammeln. Außer man sah es auf  „dummes Geld“ ab, welches keine Mit­sprache sucht. Auch keine gute Moti­vation aus Sicht der neuen Aktionäre.
  2. Euphorie ist ein schlechter Rat­geber. Als Glencore an die Börse ging, lag ein Jahr­zehnt Roh­stoffboom hinter uns. Von Chinas uner­sätt­lichem Roh­stoff­hunger getrieben, kannten die Roh­stoffe nur eine Richtung: nach oben. Man sprach bereits von einem struk­tu­rellen Wandel und einem Super­zyklus. Überall wurden im Glauben an den immer­wäh­renden Boom neue Kapa­zi­täten geschaffen. Dabei hätte ein Blick in die Geschichte genügt. Auch früher gab es im Roh­stoff­sektor die Hoffnung auf einen ewigen Boom –, der bitter ent­täuscht wurde.
Der enorme Kapi­tal­bedarf und das oftmals wenig dif­fe­ren­zie­rende Geschäfts­modell der Unter­nehmen sind eine gefähr­liche Kon­stel­lation. Selbst wenn das Geschäft gut ist, kann es an Mangel an Kapital vor Erreichen des Zieles – also echter Gewinne – plei­te­gehen. Geschieht dies, bevor das Unter­nehmen an die Börse gegangen ist, ver­lieren die Inves­toren ihren Einsatz. Gelingt zuvor ein Bör­sengang, sichern sich Gründer und Inves­toren der Vor­runden einen schönen Gewinn und par­ti­zi­pieren dennoch über­pro­por­tional an der wei­teren Ent­wicklung, sollte es doch gut gehen. Die neuen Aktionäre kommen spät ins Spiel und tragen ein deutlich höheres Risiko, ohne dafür adäquat ver­gütet zu werden. 
Je unso­lider das Geschäft und je größer der Kapi­tal­bedarf, desto mehr ähnelt das Ganze einem Ponzi-Schema. Man muss nur solange mit­machen, bis sich ein anderer – düm­merer – Investor findet, der einem den Aus­stieg ermöglicht. 
Ein­hörner und Zombies
So haben Ein­hörner und Zombies mehr gemein, als man denken möchte. Beide leben von der Liqui­di­tätsflut der Noten­banken. Beide leben von der Tat­sache, dass in einer Welt, wo mehr als zehn Bil­lionen US-Dollar Anleihen nur noch negative Zinsen abwerfen, die Gier der Inves­toren nach Rendite immer größere Blüten treibt. Beide sind Indi­ka­toren dafür, dass unser Finanz­system marode und unsolide ist. Und beide mahnen, dass die nächste Krise noch schlimmer sein wird, als die letzte. 
Die Flut an Bör­sen­gängen von Unter­nehmen ohne Gewinn und Gewinn­aus­sicht ist vor allem eines: ein abso­lutes Warn­signal für die Märkte oder in den Worten von Martin Gore: „Der gefallene Magier schwingt seinen Zau­berstab / Und sofort erstirbt das Gelächter / Es ist mehr als eine Party.“

Dr. Daniel Stelter – www.think-beyondtheobvious.com
→ wiwo.de: „Ver­luste sind wieder „sexy““, 25. April 2019