Mehr als 80 Prozent der Unternehmen, die in den USA an die Börse gehen, haben noch nie Gewinn gemacht. Zuletzt war das im Jahr 2000 der Fall.
Martin Gore, Mastermind der legendären Synthie-Pop-Band Depeche Mode und längst selbst eine Legende, wird morgen mit dem Moog Innovation Award 2019 des ebenfalls legendären Keyboard-Herstellers Moog ausgezeichnet. „Lots of surprises in store / This isn’t a party / It’s a whole lot more“ schrieb der für seine sozialkritischen Texte berühmte Brite schon 1983 in seinem Song „It’s more than a Party“. Gore, der nach dem Schulabschluss in einer Londoner Bank arbeitete, konnte damals nicht ahnen, dass 16 Jahre später, 1999, ein Partyjahr von besonderer Klasse an den Weltbörsen sein würde. Und vermutlich hätte es ihn auch nicht interessiert. Trotzdem passen viele Zeilen seines Songs auch auf diese Börsenparty, die schon damals durch zu viel und vor allem von zu billigem Geld der US-Notenbank Fed angetrieben wurde.
Zum billigen Geld kamen die schier grenzenlosen Möglichkeiten des Internets hinzu, was zu einem wahren Boom an Börsengängen führte. Immerhin fast 80 Prozent der Unternehmen, die damals an die Börse gingen, machten Verluste. Es galt sogar die Regel, dass eine Aktie umso attraktiver sei, je größer die Verluste. Galten diese doch als ein Zeichen für künftige Gewinne. Statt um Cashflow und Profit ging es um Besucherzahlen auf Webpages und andere mehr oder eher weniger zuverlässige Indikatoren für das Wachstum der Geschäfte. Die Party fand wenig später ihr Ende und konnte erst durch eine weitere Runde noch billigeren Geldes wiederbelebt werden (Immobilienblase), um nach der Finanzkrise zur heutigen „Alles-Blase“ zu führen.
Verluste sind wieder „sexy“
So verwundert es nicht, dass wir auch heute wieder jene Unternehmen feiern, die möglichst hohe Verluste machen. Wie schon 1999 weisen auch heute fast 80 Prozent der Unternehmen, die an die US-Börse kommen, Verluste aus. Der Unterschied zu damals: Die Verluste sind noch größer und die Bewertungen noch beeindruckender!
Jüngstes Beispiel ist der US-Fahrdienstvermittler Lyft. Obwohl mit tiefroten Zahlen (2018: 911 Millionen Verlust bei 2,3 Milliarden Umsatz) und intensivem Wettbewerbsumfeld kämpfend, gelang dem Uber-Rivalen ein eindrucksvolles Börsendebüt. Über zwei Milliarden US-Dollar konnten bei einer Bewertung von über 23 Milliarden Dollar eingesammelt werden. Zunächst stieg die Aktie noch um 21 Prozent, so groß war das Interesse der Investoren. Doch schon bald setzte Ernüchterung ein: Von ihrem Höchststand von 88,60 Dollar verlor die Aktie innerhalb weniger Tage in der Spitze 33 Prozent. Vielleicht haben dann doch einige Investoren genauer hingeschaut, warnte doch das Management vor weiteren, anhaltenden Verlusten.
Wettbewerber Uber dürfte in den kommenden Wochen die Börsengänge von Verlustunternehmen (vorläufig?) krönen. Obwohl das Unternehmen noch nie Gewinne erzielte und wohl auf absehbare Zeit nicht erzielen wird, dürfte die Börse das Unternehmen mit mehr als 100 Milliarden US-Dollar bewerten. Wenn es noch eines Zeichens für die Exzesse billigen Geldes bedurft hätte, das ist es – ungeachtet erheblichen Wettbewerbsdrucks, zunehmender Probleme mit der Regulierung und sich häufenden Skandalen.
Wagniskapital im Überschuss
Dabei machen die Börsianer nur verspätet das mit, was schon eine Stufe vorher bei den Wagniskapitalgebern passiert. Denn auch dort gibt es eine Entwicklung, die stark an die Jahre vor dem Platzen der New-Economy-Blase erinnert. Damals stieg der US-Technologieindex NASDAQ zwischen 1995 und 2000 von 1000 auf mehr als 5000 Punkte. Diesmal hat sich der Wert der Einhörner – also der Start-ups, die in Finanzierungsrunden mit einer Milliarde oder mehr bewertet werden –, innerhalb von fünf Jahren von 100 auf über 500 Milliarden US-Dollar erhöht. Insgesamt werden in den USA seit 2006 138 solcher Einhörner gezählt. Pro Jahr kommen rund 30 weitere hinzu. Immer mehr solcher Unternehmen können sich in privaten Finanzierungsrunden 100 Millionen US-Dollar und mehr an frischem Kapital besorgen.
Dahinter steht nicht so sehr die Brillanz der Geschäftsideen, sondern vermutlich mehr der enorme Anlagedruck der Wagniskapitalgeber. Die Venture-Capital-Fonds haben so viel Geld eingesammelt wie noch nie. Sequoia Capital, eine der bekanntesten und erfolgreichsten Risikokapital-Beteiligungsgesellschaften, hat kürzlich mit acht Milliarden US-Dollar den größten je aufgelegten Fonds einer Wagniskapitalgesellschaft platziert. Geld, das investiert werden will.
So wundert es nicht, dass die oben beschriebenen Start-ups immer schneller den Einhornstatus erlangen. An dieser Stelle drei Beispiele:
- Bird, ein Rollerverleih-Unternehmen mit Sitz in Santa Monica, Kalifornien, das Elektroroller in Städten in ganz Nordamerika betreibt, wurde erst im April 2017 gegründet. Innerhalb von zwölf Monaten konnte das Unternehmen vier Finanzierungsrunden abschließen und mehr als 300 Millionen Dollar Kapital einsammeln.
- DoorDash, ein 2013 gegründeter Lieferservice für Essen, hat seine Bewertung innerhalb von zwölf Monaten von 1,4 auf 7,1 Milliarden US-Dollar gesteigert. Zu den Investoren gehören unter anderem Softbank und Sequoia Capital, die mehrere hundert Millionen US-Dollar investiert haben.
- Robinhood, eine Smartphone-App, mit der Investoren Aktien und Exchange Traded Fonds günstig handeln können, steigerte die Bewertung in kürzester Zeit von 1,3 auf 5,6 Milliarden.
Nicht alle Profis sehen die Entwicklung positiv. Zwar führt Investorenlegende Peter Thiel vor allem das einseitige und seiner Meinung nach intolerante politische Klima im Silicon Valley als Grund für seinen Umzug nach Hollywood an, doch stört ihn auch der zunehmende Mangel an kritischem Diskurs. „There’s a trend of monoculture and closed-mindedness“, lässt er sich zitieren. Kein gutes Umfeld für dauerhaft gute Investitionsentscheidungen.
Ponzi-Schema statt solider Gewinne?
Doch vielleicht geht es gar nicht so sehr um gute Geschäftsideen und nachhaltige Gewinne? Vielleicht geht es vielmehr darum, ein Geschäft so aufzublasen, dass man es zu einer überhöhten Bewertung an weniger clevere Investoren weiterreichen kann. Wenn ein Unternehmen wie Uber seit der Gründung gut 20 Milliarden verbrannt hat, auf absehbare Zeit keine Gewinne machen wird und dennoch für 100 Milliarden plus x an die Börse gebracht wird, müssen alle Alarmglocken läuten. Wenn ein Unternehmen wie WeWorK – eine edlere Version von Regus-Büros auf Zeit – bei einem Umsatz von 1,8 Milliarden einen Verlust von 1,9 Milliarden US-Dollar macht, erst recht.
Börsengänge dienen dann dazu, den Investoren der ersten Stunde einen Ausstieg zu ermöglichen. Und dieser Ausstieg erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Börse aufnahmebereit und liquide ist. Tendenziell also an der Spitze des Zyklus, nicht am Tiefpunkt. Ich habe das in der Vergangenheit an dieser Stelle schon am Beispiel von Glencore und Rocket Internet erläutert. Investoren der ersten Stunde liegen beim IPO mit beiden Werten noch deutlich im Minus.
Die Lehren daraus gelten erst recht bei den nun anstehenden Börsengängen:
- Insider sind keine Menschenfreunde. Wenn Unternehmen an die Börse gehen, geschieht dies nur selten aus dem Motiv heraus, die Allgemeinheit an den Erträgen teilhaben zu lassen. Entweder ist es echte finanzielle Not, oder es ist Zeit für die Insider, Kasse zu machen. Welcher Insider wird schon verkaufen, wenn er es nicht muss und er weitere hohe Erträge erwartet? Im Fall von Rocket Internet hat sich das wieder einmal bewahrheitet. Das Vermögen der Gebrüder Samwer unterlag einem erheblichen Klumpenrisiko. Es war also an der Zeit, zu diversifizieren und Geld aus dem Unternehmen abzuziehen. Dies macht niemand, wenn er davon ausgeht, dass die große Wertsteigerung noch bevorsteht. Rocket an die Börse zu bringen, war deshalb mehr der finanziellen Optimierung der Eigentümer geschuldet, als der Notwendigkeit, Geld einzusammeln. Außer man sah es auf „dummes Geld“ ab, welches keine Mitsprache sucht. Auch keine gute Motivation aus Sicht der neuen Aktionäre.
- Euphorie ist ein schlechter Ratgeber. Als Glencore an die Börse ging, lag ein Jahrzehnt Rohstoffboom hinter uns. Von Chinas unersättlichem Rohstoffhunger getrieben, kannten die Rohstoffe nur eine Richtung: nach oben. Man sprach bereits von einem strukturellen Wandel und einem Superzyklus. Überall wurden im Glauben an den immerwährenden Boom neue Kapazitäten geschaffen. Dabei hätte ein Blick in die Geschichte genügt. Auch früher gab es im Rohstoffsektor die Hoffnung auf einen ewigen Boom –, der bitter enttäuscht wurde.
Der enorme Kapitalbedarf und das oftmals wenig differenzierende Geschäftsmodell der Unternehmen sind eine gefährliche Konstellation. Selbst wenn das Geschäft gut ist, kann es an Mangel an Kapital vor Erreichen des Zieles – also echter Gewinne – pleitegehen. Geschieht dies, bevor das Unternehmen an die Börse gegangen ist, verlieren die Investoren ihren Einsatz. Gelingt zuvor ein Börsengang, sichern sich Gründer und Investoren der Vorrunden einen schönen Gewinn und partizipieren dennoch überproportional an der weiteren Entwicklung, sollte es doch gut gehen. Die neuen Aktionäre kommen spät ins Spiel und tragen ein deutlich höheres Risiko, ohne dafür adäquat vergütet zu werden.
Je unsolider das Geschäft und je größer der Kapitalbedarf, desto mehr ähnelt das Ganze einem Ponzi-Schema. Man muss nur solange mitmachen, bis sich ein anderer – dümmerer – Investor findet, der einem den Ausstieg ermöglicht.
Einhörner und Zombies
So haben Einhörner und Zombies mehr gemein, als man denken möchte. Beide leben von der Liquiditätsflut der Notenbanken. Beide leben von der Tatsache, dass in einer Welt, wo mehr als zehn Billionen US-Dollar Anleihen nur noch negative Zinsen abwerfen, die Gier der Investoren nach Rendite immer größere Blüten treibt. Beide sind Indikatoren dafür, dass unser Finanzsystem marode und unsolide ist. Und beide mahnen, dass die nächste Krise noch schlimmer sein wird, als die letzte.
Die Flut an Börsengängen von Unternehmen ohne Gewinn und Gewinnaussicht ist vor allem eines: ein absolutes Warnsignal für die Märkte oder in den Worten von Martin Gore: „Der gefallene Magier schwingt seinen Zauberstab / Und sofort erstirbt das Gelächter / Es ist mehr als eine Party.“
Dr. Daniel Stelter – www.think-beyondtheobvious.com
→ wiwo.de: „Verluste sind wieder „sexy““, 25. April 2019