Wahlen in der Türkei: Was bedeuten sie für die Türkei und Erdoğan

Am 31. März gingen die Türken zur Wahlurne, um Bür­ger­meister für ihre Städte zu wählen. Angeblich mar­kierte das Wahl­er­gebnis den 15. auf­ein­an­der­fol­genden Wahlsieg von Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan seit dem Amts­an­tritt seiner (isla­mis­ti­schen) Partei für Gerech­tigkeit und Ent­wicklung (AKP) im November 2002. Die AKP gewann bun­desweit die meisten Stimmen (44%). Ihr ultra-natio­na­lis­ti­scher Ver­bün­deter, die Natio­nalist Movement Party (MHP), gewann 7% der Stimmen. Das waren gute Nach­richten für Erdoğan. In Wirk­lichkeit war es eine gute, jedoch unvoll­ständige Nach­richt für den isla­mis­ti­schen starken Mann der Türkei.
“Wer [bei Wahlen] Istanbul ver­liert, ver­liert die Türkei”, tönte Erdoğan in einer Rede 2018, die Bedeutung der tür­ki­schen Groß­städte bei Kom­mu­nal­wahlen betonend.
Viel­leicht hat er Recht. Mit dem Sieg in Istanbul und Ankara gewann der poli­tische Islam schließlich die Türkei. Vor genau 25 Jahren, im März 1994, ver­ur­sachten die Kom­mu­nal­wahlen eine Reihe seis­mi­scher Erschüt­te­rungen in der damals säku­laren tür­ki­schen poli­ti­schen Land­schaft: In einem ins­gesamt scho­ckie­renden Wahl­er­gebnis gewann die (isla­mis­tische) Wohl­fahrts­partei (RP) Ankara und Istanbul, Erdoğan wurde zum Bür­ger­meister der größten Stadt der Türkei gewählt. Der Mentor von RP, Nec­mettin Erbakan, Erdoğan’s Mentor, wurde der erste isla­mis­tische Pre­mier­mi­nister der Türkei, nachdem er 1995 bei den Par­la­ments­wahlen die meisten Stimmen gewonnen hatte, nur ein Jahr nachdem die Partei zwei der größten Städte der Türkei gewonnen hatte.

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Iro­ni­scher­weise ver­loren die Isla­misten der Türkei 25 Jahre später bei einer wei­teren Kom­mu­nalwahl Ankara und Istanbul, obwohl die AKP von Erdoğan unter Berufung auf Wahl­ma­ni­pu­lation und andere Unre­gel­mä­ßig­keiten das Ergebnis in Frage stellte. Der Vorwurf ist besonders iro­nisch, denn Erdogan wurde bei allen ver­gan­genen Wahlen der Wahl­ma­ni­pu­lation bezichtigt, aber erst jetzt, zum ersten Mal, beklagen sie sich selber über Unre­gel­mä­ßig­keiten. Nach Angaben des Obersten Wahl­aus­schusses, der bisher als eine pro-Erdoğan-Stem­pel­be­hörde bekannt war, gewannen Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten sowohl Ankara als auch Istanbul. Ruşen Çakır, ein tür­ki­scher Kolumnist, sagte, viel­leicht zu früh:
“Die heutige Wahl ist genauso his­to­risch wie die Kom­mu­nalwahl 1994. Es ist die Ankün­digung, dass eine Seite, die vor 25 Jahren geöffnet wurde und nun wieder geschlossen wird”.
“Während der Verlust von Istanbul eine nukleare Nie­derlage für Erdoğan wäre”, sagte Soner Çagaptay, Direktor des tür­ki­schen For­schungs­pro­gramms am Washing­toner Institut für Nah­ost­po­litik, “ist der Verlust von Ankara, das die Abkürzung für poli­tische Macht und Regierung ist, ein ziemlich großer Verlust”.
Darüber hinaus gewann der Oppo­si­ti­ons­block mehrere Groß­städte, die tra­di­tionell für die AKP von Erdoğan gestimmt hatten. Mit den Ergeb­nissen vom Sonntag gingen die gesamte tür­kische Küste der Ägäis und des Mit­tel­meeres sowie die Haupt­stadt Ankara, einige Groß­städte in Zen­tral­ana­tolien, die gesamte Region Thrakien und zwei Pro­vinzen im Nord­osten der Türkei an die Oppo­sition. Der über­wiegend kur­dische Süd­osten war wie immer zwi­schen der pro­kur­di­schen Volks­partei und der AKP geteilt.
Was bedeuten die Wahl­er­geb­nisse für die Türkei und Erdoğan? Ein paar Beobachtungen:
  • Vor­würfen über die Wahl­ma­ni­pu­lation von Erdoğan/AKP fehlten noch nie die Über­zeu­gungs­kraft, doch die Grös­sen­ordnung war schwer zu beweisen. Jeder ver­mutete: von 1% bis 10%. Dieser Autor lag am unteren Ende des breiten Spek­trums. Das Wahl­er­gebnis in Istanbul, das jetzt von der AKP bestritten wird, brachte den Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten in einer Stadt mit 10,5 Mil­lionen Wählern mit 23.000 Stimmen an die Spitze.
  • Es war die Wirt­schaft, nicht die Politik, die den durch­schnitt­lichen Türken, der ansonsten ein über­zeugter Anhänger von Erdoğan war, dazu brachte, sich gegenüber der Regierung ver­bittert zu fühlen. Im Jahr 2018 erreichte die tür­kische Lira gegenüber den wich­tigsten west­lichen Wäh­rungen ein Rekordtief; die Arbeits­lo­sen­quote erreichte ein Neun­jah­reshoch; die Inflation stieg an, und die Wirt­schaft schrumpfte im letzten Quartal des Jahres um 2,4% und im dritten Quartal um 1,6%. Jesse Colombo von Forbes schrieb: “Obwohl die tür­kische Regierung und viele Kom­men­ta­toren die Trump-Regierung und aus­län­dische Spe­ku­lanten für den wirt­schaft­lichen Abschwung des Landes ver­ant­wortlich machen, ist die Rea­lität so, dass sie bereits vor vielen Jahren auf­grund der ent­stan­denen Kre­dit­blase ‘in den Kuchen gebacken’ wurde”.
  • Dieses “in den Kuchen backen” ist der schlimmste Alb­traum von Erdoğan. Seine Wahl­nie­derlage, gepaart mit einer neuen Welle von Wirt­schafts- und Finanz­krisen (ein neuer Ein­bruch der tür­ki­schen Lira, stei­gende Anleihe- und Infla­ti­ons­raten, mehrere Kon­glo­merate vor dem Konkurs, mehr arbeitslose Wähler, Preis­er­hö­hungen, mehr Steuern und Ban­ken­be­schrän­kungen) könnte Erdoğan zu vor­ge­zo­genen Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wahlen zwingen (die nun für Juni 2023 geplant sind). Erdoğan, der sich auf seinen natio­na­lis­ti­schen Partner MHP ver­lässt, hat die Bot­schaft der Kom­mu­nal­wahlen her­un­ter­ge­spielt und vor­ge­zogene nationale Wahlen derzeit aus­ge­schlossen. “Bitte seien Sie wegen dieses Ergeb­nisses nicht untröstlich”, sagte Erdoğan den Par­tei­freunden, nachdem die Wahl­er­geb­nisse vom 31. März ein­ge­troffen waren. “Ab morgen früh werden wir anfangen, unsere Mängel zu finden und aus­zu­gleichen”, fügte Erdogan hinzu.
  • Iro­ni­scher­weise werden die beiden “Königsmacher”-Kräfte in der nahen Zukunft der tür­ki­schen Politik die beiden Lager sein, die tra­di­tionell am feind­lichsten zuein­ander standen: Tür­kische und kur­dische Natio­na­listen, die beide bei lan­des­weiten Wahlen eine Popu­la­rität von rund 10% haben. Bis 2016 warb Erdoğan um die Kurden und bekämpfte tür­kische Natio­na­listen stark, dar­unter seinen besten Ver­bün­deten, MHP-Chef Devlet Bahçeli. Dann ver­senkte er alle Frie­dens­ge­spräche mit den Kurden, wendete und ver­bündete sich mit Bahçeli — ein kluges Manöver, das ihm die Stimmen für das Prä­si­dent­schafts­rennen 2018 ein­brachte. Nach dem 31. März kann Erdoğan leicht berechnen, dass seine Abhän­gigkeit von Bahçeli noch größer geworden ist. Bahçeli sei­ner­seits könnte ver­sucht sein, Erdoğan auf­zu­geben und, bevor eine Beinahe-Krise zu einem per­fekten Sturm geworden ist, unter Berufung auf wirt­schaft­liche Miss­wirt­schaft vor­ge­zogene nationale Wahlen zu fordern.

Ein­facher reli­giöser isla­mis­ti­scher Kon­ser­va­ti­vismus und ultra-natio­na­lis­ti­scher Popu­lismus halten Erdoğan immer noch an der Macht, doch es gibt Anzeichen dafür, dass, wenn es der Wirt­schaft immer schlechter geht, diese Kräfte ihn viel­leicht nicht retten können. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass dies geschieht.
 


Burak Bekdil, einer der füh­renden Jour­na­listen der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der renom­mier­testen Zeitung des Landes ent­lassen, weil er in Gatestone geschrieben hat, was in der Türkei geschieht. Er ist Fellow beim Middle East Forum.
Quelle: Gatestone Institute