Die EU gibt sich als Kämpfer für die Demokratie, nur nimmt sie es bei sich selbst damit nicht so genau. EU-Kritiker sagen solche Dinge gerne und sprechen davon, die EU sei komplett undemokratisch. Was ist da dran? Ein Facktencheck.
In einer Demokratie, so lernen wir immer, geht alle Macht vom Volke aus und das Volk wählt seine Vertreter, die es dann stellvertretend regieren. In der EU gibt es am Wochenende Wahlen zum EU-Parlament und man sollte meinen, dass wir dann von den Abgeordneten regiert werden, die wir gewählt haben.
Stimmt das? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich einmal anschauen, welche Vollmachten und Entscheidungsbefugnisse das Parlament überhaupt hat.
Ein Parlament kann normalerweise Gesetze ausarbeiten, vorschlagen und dann über ihre Annahme abstimmen. Das EU-Parlament darf das nicht, es darf keine Gesetze einbringen, sondern darf nur über die Gesetze mitentscheiden, die von der EU-Kommission ins Parlament eingebracht werden. Die Betonung liegt auf mitentscheiden, denn das Parlament trifft die Entscheidung zusammen mit dem EU-Rat, in dem die Vertreter der Regierungen der EU-Staaten sitzen. Und da Kommission und Rat ihre Initiativen in der Praxis absprechen, steht das Parlament im Zweifel auf verlorenem Posten.
Wenn das Parlament, was selten genug vorkommt, mal mit einem neuen Gesetz nicht einverstanden ist, dann gibt es einen Vermittlungsausschuss, wo die Fraktionschefs sich hinter verschlossenen Türen mit dem EU-Rat auf einen Kompromiss einigen, der in der Regel vom ursprünglichen Gesetzestext kaum abweicht. Zuletzt gab es das bei den umstrittenen Uploadfiltern, wo das Parlament sich mal auf die Hinterbeine gestellt hat. Das Gesetz ging am Ende trotzdem praktisch unverändert durch.
Da dieses Verfahren sehr zeitaufwendig ist, wird es in der Regel umgangen. Um den hohen Zeitaufwand dieses Verfahrens zu umgehen, werden immer mehr Gesetzesvorschläge im informellen Trilogverfahren ausgehandelt, um dann bereits in erster Lesung beschlossen werden zu können: zwischen 2004 und 2009 etwa traf dies auf 72% aller Gesetzesentwürfe zu, im Vergleich zu 33% zwischen 1999 und 2004.
Das bedeutet in der Praxis, das Gesetze in der EU von der Kommission in Absprache mit dem Rat vorbereitet werden und das Parlament dann mit dem Rat darüber reden darf. Am Ende hat es keine andere Wahl als sie durchzuwinken. Eigene Gesetze kann das Parlament nicht einbringen und Vorschläge endgültig ablehnen kann es auch nicht.
Aber es gibt reichlich Bereiche, wo das Parlament praktisch gar kein Mitspracherecht hat. So muss das Parlament im Bereich der Wettbewerbspolitik lediglich konsultiert werden. Auch in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hat es gemäß Art. 36 EUV kaum Mitspracherechte.
Und das wichtigste Recht eines Parlaments ist es in einer Demokratie, über den Haushalt zu entscheiden. Schließlich hängt am Ende alles am Geld. Man kann ein Projekt beschließen, aber wenn es nicht finanziert wird, dann stirbt es einen schnellen Tod. Leider sieht es dabei ganz düster aus, denn der Haushalt wird wieder von der Kommission eingebracht.
Die Europäische Kommission schlägt einen Haushaltsentwurf vor. Im Haushaltsverfahren können dann Parlament und Ministerrat Änderungen beschließen. Sind sich beide einig, tritt der Haushaltsplan mit den Änderungen in Kraft. Gibt es zwischen Parlament und Rat Differenzen über den Plan, wird ein komplexes Verfahren mit gegenseitigen Konsultationen und Abstimmungen durchgeführt. Gibt es auch nach dieser politischen Feinabstimmung keine Einigkeit, wird als letztes Mittel der Vermittlungsausschuss eingeschaltet. In der politischen Praxis führt das dann zu einem Kompromiss und einer Einigung.
Auch hier darf das Parlament also nichts alleine bestimmen, sondern muss sich mit dem Rat einigen, der normalerweise den Vorschlag der Kommission unterstützt. Das Parlament darf nicht, wie in einer Demokratie üblich, den Haushalt einfach ablehnen.
Übrigens ist ja auch die Kommission nicht demokratisch gewählt oder legitimiert, vielmehr darf jedes EU-Land einen Kommissar stellen, in der Regel wird auf den Posten irgendein Politiker „weggelobt“, so wie in Deutschland Herr Oettinger, für den man nach seinen verlorenen Wahlen in Deutschland keine Verwendung mehr hatte und ihn auf den gut dotierten Posten eines EU-Kommissares nach Brüssel abschob. Qualifiziert war er für sein Fachgebiet bekanntermaßen nicht, man suchte nur eine Beschäftigung für ihn. Und so läuft es in der ganzen EU, die Kommissare sind also in der Regel abgehalfterte Politiker, denen man einen gut bezahlten Posten besorgen muss.
Die Kommission ist aber auch die „Regierung“ der EU. Und wie gesehen, darf das Parlament diese Regierung nicht wählen oder abwählen, wie es in einer Demokratie üblich ist. Das Parlament darf zwar formell den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen, aber der Kandidat wird vom EU-Rat vorgeschlagen. Es gab noch nie einen Fall, dass dieser vorgeschlagene Kandidat abgelehnt worden wäre.
Das bedeutet, dass die Regierungen der EU-Staaten hinter verschlossenen Türen einen Kandidaten ausklüngeln und dieser dann vom Parlament durchgewunken wird.
Außer dem Kommissionspräsidenten bestätigt das Parlament ebenfalls die gesamte Kommission. Auch hier werden die Kandidaten formell durch den Europäischen Rat nominiert, wobei die Entscheidung, wie erwähnt, den nationalen Regierungen überlassen wird. Es kam in dem 40-jährigen Bestehen des Parlaments seit 1979 ganze zwei Mal vor, dass das Parlament vorgeschlagene Kommissare abgelehnt hat: 2004 Rocco Buttiglione und 2009 Rumjana Schelewa.
Auch hier also entscheidet letztlich nicht das Parlament, sondern die EU-Staaten klüngeln hinter verschlossenen Türen ihre Kandidaten aus und das Parlament winkt sie durch.
Wie man sieht, hat das EU-Parlament keinerlei Machtbefugnisse. Wenn es gegen etwas ist, wird es am Ende trotzdem umgesetzt, es kann sich höchstens ein wenig verzögern. Und das soll demokratisch sein?
Und jetzt möchte ich etwas tun, was man fast schon als Satire bezeichnen kann, wenn es nicht wahr wäre.
Wir lernen doch in der Schule, dass das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm keine Demokratie, sondern eine Diktatur war. Und eine Demokratie war es ja auch tatsächlich nicht. Aber es hatte ein gewähltes Parlament, den Reichstag. Und der hatte sehr viel mehr Macht, als das EU-Parlament heute.
Der Reichstag im Deutsche Kaiserreich durfte Gesetze selbst einbringen und sie auch beschließen, außerdem konnte er den Staatshaushalt ablehnen. Wer sich für Geschichte interessiert, der weiß, wie sehr Bismarck und später Kaiser Wilhelm mit dem Reichstag zu kämpfen hatten, weil er nicht nur auf dem Papier Rechte hatte, sondern diese auch konsequent nutzte.
Wenn man nun die Rechte des EU-Parlaments dagegen sieht, dann fragt man sich, wie diese EU überhaupt von Demokratie reden kann, wenn sie sich ein Scheinparlament ohne Rechte hält, wie es nicht einmal der deutsche Kaiser Wilhelm gewagt hat.
Wer all dies weiß, dem bleibt das ironische Lachen im Halse stecken, wenn man die Versuche der Medien liest, die nun versuchen, dem Wähler die Wichtigkeit der Wahl zu erklären. Dort wird es so formuliert, als habe das Parlament tatsächlich etwas zu melden in der EU. Im Spiegel kann man zu den Befugnissen des Parlaments lesen:
„Die Macht des Europaparlaments ist seit seiner Gründung stark gewachsen. Inzwischen ist es bei der Gesetzgebung ein fast gleichberechtigter Gegenpart zu dem mit nationalen Regierungsmitgliedern besetzten (Minister-)Rat. Das Parlament entscheidet in vielen Bereichen gemeinsam mit dem Rat über neue Regelungen und Gesetze.“
Klingt gut, bedeutet aber genau das, was ich ausgeführt habe: Das Parlament hat nichts zu entscheiden, sondern ist fast gleichberechtigt mit dem (Minister-)Rat. Der ist aber gar nicht demokratisch gewählt, was bedeutet, dass das Parlament bei dem Erlassen von Gesetzen weniger Rechte hat, als ein nicht gewähltes Organ der EU. Wo ist hier die Demokratie?
Weiter steht im Spiegel:
„Die Abgeordneten haben zwar kein Initiativrecht für Gesetze. Sie können aber die Kommission auffordern, Gesetze zu bestimmten Themen zu erarbeiten.“
Genau. Nur wie die Gesetze aussehen, die die Kommission dann erarbeitet und dem Parlament zur Entscheidung vorlegt, darauf hat das Parlament keinen Einfluss. Und wie gesehen, hat es auch keine Möglichkeit, solche Gesetze endgültig abzuschmettern. Was aus der von niemandem frei gewählten Kommission kommt, wird auch Gesetz. In der 40-jährigen Praxis gibt es dafür kein Gegenbeispiel.
Um uns zu zeigen, wie gut und wichtig das EU-Parlament ist, fragt der Spiegel dann:
„Wie bestimmen Entscheidungen des Europaparlaments unseren Alltag?“
Als Antwort werden diverse positive Beispiele aufgezählt, wie zum Beispiel die weitgehende Abschaffung der hohen Roaming-Gebühren im EU-Ausland. Nur wir erinnern uns: Diese Gesetze waren ja nicht vom Parlament, sie kamen aus der Kommission und wurden vom Parlament durchgewunken. Das gilt für alle im Spiegel genannten Beispiele, sie alle wären auch ohne das Parlament entstanden. Das Parlament hat kein Recht, selbst Gesetze einzubringen.
Bleibt eine Frage: Wozu wählen gehen, wenn das Parlament ohnehin nichts bewegen oder entscheiden kann?
Nun, das hat rein politische Gründe. Wenn Sie den etablierten Parteien eins auswischen wollen, dann machen Sie Ihr Kreuz bei einer „Protestpartei“. Wenn Sie gegen die „Protestparteien“ sind, dann machen Sie Ihr Kreuz bei einer etablierten Partei. Bei welcher, ist egal, sie hat ja eh nichts zu entscheiden im EU-Parlament.
Es geht bei der Wahl also nur darum, zu sehen, wie die Stimmung in Europa ist. Gewinnen die euroskeptischen Parteien, führt das zu Unruhe bei den Regierungen und vielleicht sogar zu Veränderungen. Gewinnen die etablierten Parteien, geht es weiter wie bisher.
Um mehr geht es nicht, es macht – aufgrund der fehlenden Rechte des EU-Parlaments – keinerlei Unterschied, ob Sie CDU, SPD, FDP oder Grüne wählen. Die Abgeordneten dort haben nichts zu sagen und stimmen sowieso praktisch immer gemeinsam ab.
Besonders deutlich zu sehen war das bei der TV-Debatte der EU-Spitzenkandidaten, wo alle Kandidaten im Grunde einer Meinung waren. Eine russische Nachrichtenagentur hat das zutreffend kommentiert:
„Diese Gemeinsamkeit der Ansichten ließ nur eine Frage offen: Warum sechs Kandidaten nominieren, wenn die gemeinsamen Positionen auch einer allein verkünden kann?“
Und so sind auch die Wahlplakate und Slogans so gleich, dass man nicht wüsste, von welcher Partei sie kommen, wenn es nicht drauf stehen würde. Nur was ist das für eine Wahl, wenn man nicht zwischen verschiedenen Positionen wählen kann?
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“