Brexit backers block Westminster roads chanting ‘Bye-bye, EU’ Tiocfaidh ár lá 1916 Foto von Tiocfaidh (CC BY-ND 2.0) https://www.flickr.com/photos/31738902@N00/32555454257

„Wir wollen raus!“: Warum es um den Brexit in Deutschland so still geworden ist

Weniger als zwei Wochen vor den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament ist es still geworden um den Brexit. Hier­zu­lande gewinnt man als Nach­rich­ten­kon­sument fast den Ein­druck, das Thema habe sich erledigt. Nachdem sich das bri­tische Par­lament nicht auf eine Vor­ge­hens­weise beim Aus­stieg hat einigen können, müssen die Briten am euro­päi­schen Urnengang teil­nehmen. Eine gro­teske Situation ist ent­standen, an deren Ende 73 gewählte bri­tische EU-Par­la­men­tarier aller Vor­aus­sicht nach niemals ihren Sitz ein­nehmen werden. Die Euro­päische Union hat vor­ge­sorgt: 27 der dann frei­wer­denden Sitze sollen auf andere Mit­glieds­staaten ver­teilt werden. Tat­sächlich pro­fi­tieren aber nur wenige Nationen davon. Deutschland geht als größter Net­to­zahler hin­gegen leer aus. Mehr als 96 Abge­ordnete will uns niemand zuge­stehen, nachdem wir schon von der letzten Neu­ver­teilung zur Euro­pawahl 2014 mit drei Man­dats­ver­lusten negativ betroffen waren. Gestärkt werden hin­gegen die Süd­länder: Spanien, Italien und Frank­reich dürfen knapp die Hälfte der neu ver­ge­benen Mandate unter sich auf­teilen. Ein klarer Fin­gerzeig. Künftig werden die Umver­teiler mehr denn je das Sagen in Europa haben. Groß­bri­tannien wird die Union noch eine kurze Zeit mit­fi­nan­zieren. Danach wird Jahr für Jahr eine Finanz­lücke von min­destens 10 Mil­li­arden Euro klaffen, die vor allem Deutschland zu schließen hat. Mehr Mit­sprache werden wir aber nicht erhalten. Im Gegenteil: Weil die Zahl der Abge­ord­neten auf 751 begrenzt ist und kein Land auch nur auf einen ein­zigen Sitz zu unseren Gunsten ver­zichten wird, ver­größert sich das Miss­ver­hältnis zwi­schen Finan­zie­rungs­anteil und Stimm­ge­wicht weiter.

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Es ist zur Unsitte geworden, Inter­essen in statthaft und unge­hörig ein­zu­teilen und dabei selbst Mehr­heits­ent­schei­dungen als unde­mo­kra­tisch abzukanzeln

Unter­dessen erlebt Groß­bri­tannien eine immer größere Abkehr der Bevöl­kerung von der Euro­päi­schen Union. Hier­zu­lande zeigt man uns aller­dings lieber die Bilder Hun­dert­tau­sender Stu­denten, die in der 8‑Mil­lionen-Stadt London für einen EU-Ver­bleib demons­trieren, und tut so, als sprächen sie für die Mehrheit. Es soll an dieser Stelle gar nicht in Abrede gestellt werden, dass vor allem junge Briten ihr Land gerne auch künftig in der Euro­päi­schen Union sehen würden. Die Motive sind dabei so rational wie ego­is­tisch: Es geht in erster Linie um die unein­ge­schränkte Mög­lichkeit, im Ausland zu stu­dieren und zu arbeiten. Daran ist nichts Ver­werf­liches, im Gegenteil, es ist höchst begrü­ßenswert, dass wir die Errun­gen­schaften der EU-Frei­zü­gigkeit genießen können. Ver­werflich ist aber, wenn der Ein­druck ver­mittelt wird, alle anderen Motive, vor allem die der Brexit-Befür­worter, seien selbst­süchtig, unsozial oder unso­li­da­risch. So sind dies nicht mehr als For­de­rungen von Sozi­al­hil­fe­emp­fängern nach mehr finan­zi­eller Unter­stützung oder von Rad­fahrern nach mehr Rad­wegen. Es ist zur Unsitte geworden, Inter­essen in „statthaft“ und „unge­hörig“ ein­zu­teilen und dabei selbst Mehr­heits­ent­schei­dungen als unde­mo­kra­tisch abzu­kanzeln, weil sie sich nicht mit dem gewünschten Nar­rativ decken. Auf diese Weise werden die Urheber der Brexit-Abstimmung ver­teufelt, vor allem Nigel Farrage, der mit seiner dama­ligen UKIP-Partei Ex-Pre­mier­mi­nister Cameron über­haupt erst so stark in Bedrängnis gebracht hatte, dass dieser sich genötigt sah, ein Refe­rendum über den EU-Ver­bleib anzu­setzen. Stören kann sich daran nur, wer abwei­chende poli­tische Auf­fas­sungen für unzu­lässig hält.

Mehr als ein Drittel der Briten plant der neu gegrün­deten „Brexit Party“ Nigel Farrages bei den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament ihre Stimme zu geben

Nigel Farrage ist und bleibt eine der schil­lerndsten Figuren der bri­ti­schen Politik. Seine im Zuge der miss­glückten Suche nach den Aus­tritts­mo­da­li­täten gegründete Brexit-Partei hat es aus dem Stand an die Spitze der Wäh­ler­gunst geschafft. Sie führt in den Umfragen mit so großem Vor­sprung, dass sie inzwi­schen stärker ist als die beiden domi­nie­renden bri­ti­schen Par­la­ments­par­teien zusammen. Mehr als ein Drittel der Briten plant der „Brexit Party“ bei den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament ihre Stimme zu geben. Statt darüber sachlich und nüchtern in der gleichen Breite zu berichten, in der alle genehmen Ent­wick­lungen zum Brexit dar­ge­stellt werden, halten sich Deutsch­lands Jour­na­listen nun aber vornehm zurück. Zu groß die Sorge, die deut­schen Wähler könnten sich davon beein­drucken lassen, dass die EU-Skepsis in Groß­bri­tannien immer neue Höhen erreicht. A propos Farrage: Immer und immer wieder ver­breitet Deutsch­lands polit-mediale Kaste die Behauptung, die bri­ti­schen Bürger seien den Lügen übler Rechts­po­pu­listen auf den Leim gegangen. Unab­hängig vom Wahr­heits­gehalt solcher Unter­stel­lungen sollte man sich klar machen, dass Wahl­kämpfe stets mit Zuspit­zungen und fal­schen Ver­hei­ßungen geführt werden. Dies lassen die Bericht­erstatter geflis­sentlich uner­wähnt, so als wären die Unwahr­heiten linker und grüner Rat­ten­fänger ehrenwert. Ver­schwiegen wird auch, dass das bri­tische EU-Refe­rendum 1975 durch die Lügen der Befür­worter ent­schieden wurde, nachdem es zuvor eine breite Ablehnung des vom Par­lament beschlos­senen Bei­tritts im Jahr 1972 gegeben hatte. Die Briten haben genug von den euro­päi­schen Lügen. Kann man es ihnen verdenken?


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