Kanzlerin Merkel hat doch in Harvard tatsächlich zur „Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und uns selbst“ aufgerufen. „Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheit nennen und nicht Wahrheit Lügen.“ Dafür bekam sie Standing Ovations. Die deutschen Meinungsmache-Medien, mit Ausnahme der FAZ, stellten besonders diesen Satz bei ihren Lobpreisungen der Kanzlerin heraus und trugen damit zur Irreführung der Öffentlichkeit bei.
Um nur wenige Beispiele zu nennen: Was ist die Wahrheit, dass Multikulti gescheitert oder unser Zukunftsmodell ist, dass eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke notwenig oder der schnellere Ausstieg alternativlos ist, dass die Maut mit Merkel als Kanzlerin nicht kommt, oder dass sie unvermeidlich ist, dass die Griechenlandhilfe eine einmalige Sache bleibt, oder wiederholte Hilfen notwendig sind, die Einwanderung reguliert wird, oder sie unkontrolliert bleiben muss?
Wenn man will, kann man noch mehr „Wahrheiten“ finden, von denen Merkel früher oder später das Gegenteil verkündet hat. Die Studenten, die ihr zujubelten, weil sie diese Sätze als gegen ihren ungeliebten Präsidenten gerichtet empfanden, wissen sicher nichts von Merkels laxem Umgang mit der Wahrheit. Sie wissen auch nicht, dass unsere Kanzlerin, die in selbiger Rede behauptet hat, dass sie in der DDR immer kurz vor der Freiheit abbiegen musste und das kaum aushielt, tatsächlich dort ein privilegiertes Leben, Westreisen inklusive, geführt hat.
Aber unsere Medien müssten das wissen. Unsere Qualitätsjournalisten, die allen vermuteten Abweichlern von der politisch-korrekten Ideologie nicht den geringsten Irrtum durchgehen lassen, verhalten sich in Bezug auf Merkel wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Sie loben überschwänglich die schillernden Gewänder, wo der Kaiser doch tatsächlich nackt ist.
Merkels Harvard-Rede wurde auch interpretiert als ihre Abschiedsrede von der Macht. Nur wenige Tage später demonstriert die Kanzlerin, wie sehr sie sich an eben diese Macht klammert.
Es ist ihr mit der Abgabe des Parteivorsitzes tatsächlich gelungen, die krachende Niederlage bei der Europawahl allein Annegret Kramp-Karrenbauer anzuheften. Gleichzeitig haben ihre Verbündeten in den Meinungsmache-Medien in den vergangenen Wochen immer wieder AKKs angebliche Unfähigkeit, das Kanzleramt zu übernehmen, behauptet. AKK hat natürlich dazu beigetragen, indem sie höchstens halbherzige Versuche machte, eigene Akzente zu setzen und die CDU aus dem Dilemma der Merkelschen fatalen politischen Fehlentscheidungen zu befreien.
Sich von einer Influencer-Kampagne à la Rezo treiben zu lassen, statt für die Wiederbelebung der politischen Debatte zu kämpfen, ist nur der vorläufige Tiefpunkt des anscheinend unaufhaltsamen Abstiegs des einstigen Erfolgsmodells CDU. Nur wird mit der CDU auch endgültig die alte Bundesrepublik verschwinden.
Die Medien beginnen schon mit der nächsten Kampagne. Sie trommeln für einen grünen Kanzler Habeck und damit für eine nochmalige Beschleunigung einer Politik, die auf die Deindustrialisierung Deutschlands zielt.
Ausgerechnet Deutschland, das den „Klimaschutz“ bis an den Rand des Kollapses der Energieversorgung getrieben hat, soll diesen Weg verstärkt fortsetzen. Dabei steht das Land schon am energiepolitschen Abgrund, wie inzwischen vereinzelt schon eigeräumt wird. Kürzlich wies die Welt darauf hin, dass auch Europa die deutsche Stromversorgung nicht retten könne. Die deutsche Annahme, unbesorgt Kapazitäten der traditionellen Kraftwerke abbauen zu können, weil es eine Überkapazität von 60 Gigawatt bei der Energieerzeugung in Europa gäbe, ist irrig. Der Kollaps ist bereits programmiert, die Frage ist nur, wann er eintritt. In dieser Situation, in der die „Energiewende“ vor dem Aus steht, wird die Propaganda für sie enorm verstärkt. Dahinter stehen mächtige Interessen der Energiewende-Profiteure, von denen viele zu Millionären wurden, weil das größte Umverteilungsprogramm von unten nach oben zuverlässig Geld in ihre Kassen spült.
Merkel war die Wegbereiterin dieses Irrwegs. Nun wollen die Grünen selbst übernehmen.
Das wird um so wahrscheinlicher, je länger es Merkel gelingt, an der Macht zu bleiben. Dass sie das zu tun gedenkt, hat sie in ihrer Reaktion auf den Entschluss von Andrea Nahles, nicht nur ihre Ämter aufzugeben, sondern auch ihr Bundestagsmandat niederzulegen, bekräftigt.
“Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit. Und vor allen Dingen auch mit großem Verantwortungsbewusstsein.“ Die Themen lägen auf dem Tisch.
Nur, da liegen sie seit Langem. Statt die wirklichen Probleme, den immer sichtbarer werdenden Abstieg Deutschlands in Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und innere Sicherheit anzupacken, beschäftigt sich Merkel lieber mit der Rettung des Klimas und der Welt. Das soll so weiter gehen.
Möglich ist das, weil sich die Politik weitgehend von ihrer Verantwortung für das Land entkoppelt hat. Mehr noch, Politiker wollen nichts mehr davon wissen, dass sie Verantwortung übernehmen müssten. Nach Nahles’ Rücktrittsankündigung, war die überwiegende Reaktion bis hin zur Linken, dass man doch nicht so hart mit ihr ins Gericht hätte gehen solle. Dabei ist Nahles maßgeblich für die Wählerverachtung, die von der SPD immer stärker demonstriert wurde, verantwortlich. Sie hat den Trend zu immer linksradikaleren Forderungen, wie Enteignungen nach sozialistischem Vorbild, nicht gebremst. Sie hat als Parteivorsitzende maßgeblich den Versuch, die Wähler mit einer unfinanzierbaren bedingungslosen Grundrente zu ködern und hinters Licht zu führen, gestützt. Von all ihren Entscheidungen ist diejenige, nicht nur ihre Ämter, sondern auch ihr Mandat aufzugeben, die einzig richtige.
Merkel dagegen denkt nicht daran, Konsequenzen aus ihren Fehlentscheidungen zu ziehen, obwohl deren Wirkung weit über alles hinausgeht, was Andrea Nahles angerichtet hat. Merkel hat nicht nur ihre Partei als Korrektiv in der Politik ausgeschaltet, sie ist für den um sich greifenden Zerfall eines einstmals fast reibungslos funktionierenden Landes verantwortlich.
Die Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte und Wissenschaftler hat ein Ausmaß erreicht, das an den Brain-Drain der DDR erinnert. Die Infrastruktur ist ein Reparaturfall. Deutschland ist nicht mehr in der Lage, einen Flughafen zu bauen. Selbst die Regierungsmaschinen funktionieren nicht mehr. Bundespräsident Steinmeier „musste“ in der vergangenen Woche für 30.000 € mit einem Privatjet nach Karlsruhe fliegen. Von den insgesamt neun Flugzeugen der Flugbereitschaft waren sieben in der Werkstatt und die Kanzlerin mit einem weiteren Flieger unterwegs. Das ist die x‑te Panne in diesem Jahr. Warum unsere Regierung allerdings nicht endlich Linie fliegt, wie der österreichische Ex-Kanzler Sebastian Kurz, ist eine Frage, die von den Merkel-Medien nicht gestellt wird.
Nach Merkels Ansage, unbedingt weiter machen zu wollen, wird der Abstieg unseres Landes ungebremst weiter gehen.
Die Forderung nach Neuwahlen sollte deshalb von allen, die diesen Weg nicht mitgehen wollen, auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Vera Lengsfeld — Erstveröffentlichung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de