Brexit – Deal or no deal und viele Fragen offen

Kommt in Gesprächen dieser Tage die Rede auf den Brexit, liegen bei vielen Deut­schen die Nerven so blank, wie sie das angeblich in Brüssel tun. Doch sobald Sätze mit „Dieser Idiot Johnson…“ beginnen, rate ich zu Tee, Jam, Scones und Pick­nick­decke, damit sich der Dampf ein wenig ver­ziehen kann und man etwas klarer sieht. Denn trotz aller Fehler, welche bri­tische Poli­tiker vor und nach dem Refe­rendum anein­an­der­ge­reiht haben, sollte man die Agenda Brüssels nicht aus den Augen verlieren.
(von Roger Letsch)
Machen wir uns nichts vor, die Situation ist ver­fahren! Selbst wenn man nicht aus­ge­rechnet deutsche Medien kon­sul­tiert, die als gefühlter Teil einer ver­hin­derten Welt­re­gierung ohnehin besser wissen was einem Land geziemt und frommt, als dessen Bewohner. Das ist im Fall Groß­bri­tan­niens nicht anders als in Ungarn, Polen, Öster­reich, Italien oder den USA. Dabei weiß man beim Brexit im Grunde nicht, bei welchem über­fah­renen Stopp­schild man mit der Klage anfangen soll, deshalb nur kurz eine Auf­zählung: Merkels offene Grenzen, ihr prak­tisch feh­lendes Werben für „remain“, die Unfä­higkeit unserer Poli­tiker, die Bedeutung der Briten als EU-Netto-Zahler an unserer Seite zu erkennen, die feh­lenden Pläne der Briten für die irische Grenze, die klamm­heim­liche bis offene Unter­stützung der EU für Sepa­ra­ti­ons­ge­lüste (Gibraltar, Nord­irland und Schottland betreffend), obwohl sie diese bei halbwegs auf Linie lau­fenden Mit­gliedern wie Spanien oder Italien strikt ablehnt… und natürlich die Unfä­higkeit Mays, die in Brüssel auf Unwil­ligkeit traf. Und dann wurde bei den Briten in der Ver­län­gerung aus­ge­rechnet jener Poli­tiker ein­ge­wechselt, an dem unsere Presse ohnehin einen Trump gefressen hat.
Die Fakten
Hier bestellen!

Weder May noch Johnson bekommen den soge­nannten „Backstop“ durchs Par­lament, den May sich in den Ver­trags­entwurf hat dik­tieren lassen. Wiki­pedia fasst diese Regel fol­gen­der­maßen zusammen:
Die Backstop-Klausel soll ver­hindern, dass die inner­i­rische Grenze zu einer Außen­grenze der Euro­päi­schen Union würde, und würde dies dadurch erreichen, dass das gesamte Ver­ei­nigte König­reich vor­läufig den Bin­nen­markts- und Zoll­regeln der Euro­päi­schen Union unter­worfen bliebe.“
Das bedeutete, dass die Briten nach wie vor in allen Zoll- und Han­dels­fragen voll­ständig an die EU gebunden bleiben würden. Alle EU-Markt­regeln gälten weiter, also keine Frei­han­dels­ver­träge mit Dritt­staaten, die auch mit der EU Handel treiben – was prak­tisch alle sind. Genau das war aber ein gewich­tiges Argument für den Brexit. Ver­schlim­mernd käme hinzu, dass die Briten nicht nur alle künf­tigen Bin­nen­markt­regeln der EU über­ge­stülpt bekämen, sondern bei deren Zustan­de­kommen auch nicht beteiligt sein werden. Zahlen, zischen, Zähne knirschen!
Alles halb so schlimm, sagt Brüssel, das bleibt ja nicht so! Wir ver­handeln danach doch erst richtig los! Der Vertrag beinhalte ja auch fol­genden Passus:
…falls nach dem offi­zi­ellen Aus­tritt aus der EU (aktuell am 31. Oktober 2019) beide Ver­hand­lungs­partner bis zum 31. Dezember 2020 keine ander­weitige, bessere Regelung vereinbaren.“
Das würde aber bedeuten, dass der Status Quo mit der EU auch nach dem Aus­tritt der Briten erhalten bliebe, es sei denn, London schafft es, binnen eines Jahres mit der EU einen Vertrag zu schließen, der den Status Quo für die Briten in ihrem Sinne ver­bessert. Es fragt sich nur, warum um alles in der Welt sollte Brüssel einem solchen Vertrag zustimmen, statt auf Zeit zu spielen? Man hätte doch bereits genau den Vertrag, den man wollte: EU-Recht bricht nach wie vor bri­ti­sches Recht. Besser geht’s nicht – einen Mit­glieds­staat ver­lieren, eine Kolonie erhalten!
Im Moment kann Groß­bri­tannien aktu­elles EU-Recht nutzen, um regel­konform aus­zu­treten. Stimmte man dem Backstop zu, hätte man nach einem Jahr keine Mög­lichkeit mehr, auf eine wei­ter­ge­hende Einigung zu drängen. Es dürfte Brüssel ein leichtes sein, dieses Jahr mit erfolg­losen Ver­hand­lungen zu füllen… Ein „Eman­zi­pa­tions-Deal“ wäre dann aus­ge­schlossen oder noch schlechter als das, was man heute bereits nicht haben will.
Bemer­kenswert ist hier die Heu­chelei der EU, man wolle doch nur Schaden vom Mit­gliedsland Irland abhalten, die unter einem No-Deal-Brexit am meisten zu leiden hätten. Denn gerade weil man am Backstop in seiner aktu­ellen Form als Vertrag zur ewigen und unent­rinn­baren Leib­ei­gen­schaft festhält, macht man den No-Deal-Brexit wahr­schein­licher, den man angeblich ver­hindern möchte.
Und um das Chaos kom­plett zu machen, möchte ein Teil des bri­ti­schen Par­la­ments nun ein Gesetz haben, dass einen No-Deal-Brexit prin­zi­piell unmöglich macht – und gäbe dadurch sein ein­ziges Druck­mittel gegenüber der EU aus der Hand. Denn wenn die EU keinen ver­än­derten Deal will, die Briten keinen No-Deal-Brexit mehr durch­führen können und auch den schlechten Deal nicht wollen, hätten EU und die Poli­tiker in London erfolg­reich den 2016 in Groß­bri­tannien geäu­ßerten Wäh­ler­willen tor­pe­diert. Viel Glück bei wei­teren Frie­dens­pro­jekten, liebe EU, viel Glück bei der anste­henden Unter­hauswahl, liebe Tories und Labour-Abge­ordnete. Ach, und Grüße an Nigel Farage, der in euren Wahl­kreisen schon auf euch wartet.
Ausweg? Viel­leicht…
Viel­leicht wäre es noch möglich, dass EU und London sich darauf einigten, den Bexit mit Backstop durch­zu­führen. Aber, Achtung! Großes Aber! Anstatt einen Zeit­punkt fest­zu­legen, ab dem der Backstop quasi auto­ma­tisch weiter gültig wäre (1. Januar 2021), müsste der Vertrag ein unwi­der­ruf­liches Ver­falls­datum erhalten. Viel­leicht ein Jahr, wahr­schein­licher zwei oder drei.
Das würde sowohl EU als auch London unter Druck setzen und niemand könnte davon aus­gehen, im Fall eines Schei­terns den gewünschten Status Quo zu behalten, während der andere nur ver­lieren kann. Die Zeit könnte genutzt werden, um das gestaf­felte und wei­test­gehend unsichtbare Grenz­regime zwi­schen Irland und Groß­bri­tannien tech­nisch umzu­setzen, um dort nicht alte Kon­flikte wieder aus­brechen zu lassen. Eine echte Deadline, die den Status Quo für alle ver­schlechtert, würde alle unter Druck setzen, sich zu bewegen.
Sati­ri­sches PS: Man stelle sich übrigens nur mal vor, die Briten würden wirklich einen No-Deal-Brexit durch­ziehen! Die Insel und die EU fielen im Ver­hältnis zuein­ander zunächst auf die WTO-Regeln zurück und müsste Handel treiben, wie China und Europa das heute tun. Niemand dürfe benach­teiligt werden, Zoll zöge Gegen-Zoll nach sich, Ein­fuhr­steuer hier bedeutete Ein­fuhr­steuer dort. Nicht aus­zu­denken! Wer hätte jemals davon gehört, dass die Chi­nesen in Europa auch nur eine einzige Schraube ver­kaufen! Wie soll das gehen? Handel ohne EU-Mit­glied­schaft? Einfach lächerlich!

Der Autor Roger Letsch ver­öf­fent­licht seine sehr lesens­werten Bei­träge auf www.unbesorgt.de