Die Unmög­lichkeit der Gleichheit

Die wohl häu­figste ethische Kritik an der Markt­wirt­schaft ist, dass sie das Ziel der Gleichheit nicht erreicht. Gleichheit wird in ver­schie­denen „wirt­schaft­lichen“ Bereichen befür­wortet, wie z.B. bei der sozialen Sicherung oder dem abneh­menden Grenz­nutzen von Geld (siehe das vor­herige Kapitel über Steuern). Aber in den letzten Jahren haben Öko­nomen erkannt, dass sie Gleich­ma­cherei (Ega­li­ta­rismus) auf wirt­schafts­wis­sen­schaft­licher Basis nicht begründen können und dass sie letztlich eine ethische Begründung für Gleichheit benötigen.
(von Murray N. Rothbard — Ent­nommen aus Kapitel 7 von „Man, Economy an State“)
Zwar lassen sich mit der Volks­wirt­schafts­lehre oder der Lehre vom mensch­lichen Handeln (Pra­xeo­logie) keine Aus­sagen zu der Gül­tigkeit ethi­scher Wer­te­vor­stel­lungen machen, aber auch ethische Ziele müssen zweck­mäßig gestaltet werden. Sie müssen daher den pra­xeo­lo­gi­schen Test als in sich stimmig und über­haupt erreichbar erfüllen. Die Kern­bau­steine der „Gleichheit“ wurden dar­aufhin bisher nicht aus­rei­chend untersucht.

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Unbe­streitbar wurden schon viele Ein­wände vor­ge­bracht, die die Ver­fechter der Gleichheit ver­stummen ließen. Manchmal führt die Ein­sicht in die unaus­weich­lichen Folgen ihrer Politik dazu, dass gleich­ma­che­rische Kon­zepte fallen gelassen werden. In den meisten Fällen jedoch werden diese nur ver­langsamt. Das bedeutet, erzwungene Gleich­ma­cherei erstickt nach­weislich die Leis­tungs­an­reize, unter­bindet markt­wirt­schaft­liche Anpas­sungs­pro­zesse, zer­stört die effi­ziente Befrie­digung von Ver­brau­cher­wün­schen, redu­ziert die Kapi­tal­bildung und ver­ur­sacht Kapi­tal­verzehr. Alles Effekte, die einen dras­ti­schen Rückgang des all­ge­meinen Lebens­stan­dards zur Folge haben. Darüber hinaus gibt es nur in einer freien Gesell­schaft keine Kasten und deshalb ermög­licht nur die Freiheit die Ein­kom­mens­ver­teilung nach dem Leis­tungs­prinzip. Staat­licher Diri­gismus hin­gegen würde die Wirt­schaft in eine Form der (unpro­duk­tiven) Ungleichheit einfrieren.
Doch diese Argu­mente, obwohl sie stich­haltig sind, sind für viele nicht aus­schlag­gebend. Einige Men­schen werden so oder so Gleichheit anstreben. Viele werden diese Über­le­gungen berück­sich­tigen und sich mit einigen Kür­zungen des Lebens­stan­dards zufrieden geben, um mehr Gleichheit zu erreichen.
In allen Dis­kus­sionen über Gleichheit gilt sie wie selbst­ver­ständlich als ein erstre­bens­wertes Ziel. Aber das ist kei­neswegs selbst­ver­ständlich. Denn zu allererst steht die Gleichheit an sich zur Debatte. Die Lehren der Pra­xeo­logie leiten sich aus drei all­gemein gül­tigen Grund­sätzen (Axiomen) ab: Dem Haupt­axiom der Existenz von ziel­ge­rich­tetem, mensch­lichem Handeln und zwei klei­neren Pos­tu­laten (oder Axiomen) der Ver­schie­den­ar­tigkeit mensch­licher Fähig­keiten und natür­licher Roh­stoffe sowie dem Arbeitsleid. Obwohl es möglich ist, eine öko­no­mische Gesell­schafts­theorie ohne diese beiden kleinen Axiome (aber eben nicht ohne das Haupt­axiom) zu ent­wi­ckeln, werden sie mit ein­be­zogen, um unsere Theorie auf Gesetz­mä­ßig­keiten zu beschränken, die direkt auf die Wirk­lichkeit anwendbar sind.[1] Jeder, der eine Theorie für aus­tauschbare Men­schen auf­stellen will, ist dazu eingeladen.
Die Ver­schie­den­ar­tigkeit der Men­schen ist somit ein grund­le­gendes Pos­tulat unseres Wissens über die Menschheit. Aber wenn die Men­schen ver­schieden und indi­vi­duell sind, wie kann dann jemand Gleichheit als Ideal vor­schlagen? Jedes Jahr ver­an­stalten Wis­sen­schaftler Kon­fe­renzen zur Gleichheit und fordern mehr davon, aber niemand stellt den Grund­ge­danken an sich in Frage. Aber welche Recht­fer­tigung kann Gleichheit in der Natur des Men­schen finden? Wenn jeder Mensch ein­zig­artig ist, wie sonst kann man ihn mit anderen „gleich“ machen, außer indem man das meiste von dem, was ihn menschlich macht, zer­stört und die mensch­liche Gesell­schaft auf die geistlose Gleich­för­migkeit eines Amei­sen­haufens redu­ziert? Es ist die Pflicht des Gleich­ma­chers, der selbst­be­wusst her­vor­tritt und den Öko­nomen über sein oberstes ethi­sches Ziel belehrt, seinen Stand­punkt zu beweisen. Er muss zeigen, wie Gleichheit mit der Natur des Men­schen ver­einbar sein kann, und die Mach­barkeit einer mög­lichen gleich­ma­che­ri­schen Welt verteidigen.
Aber der Ver­fechter der Gleichheit befindet sich in noch schär­ferer Notlage, denn es lässt sich zeigen, dass die Ein­kom­mens­gleichheit ein unmög­liches Ziel für die Menschheit ist. Das Ein­kommen kann nie gleich sein. Ein­kommen muss natürlich realer und nicht bloß geld­werter Art sein, sonst gäbe es keine echte Gleich­stellung. Doch das reale Ein­kommen kann nie gleich­ge­macht werden. Denn wie kann der Genuss eines New Yorkers an der Skyline Man­hattans mit dem eines Inders gleich­ge­macht werden? Wie kann der New Yorker sich bei einem Bad im Ganges so wohl fühlen wie ein Inder? Da sich jeder Ein­zelne not­wen­di­ger­weise in einer anderen Lage befindet, muss sich das reale Ein­kommen jedes Ein­zelnen von Gut zu Gut und von Person zu Person unter­scheiden. Es gibt schlicht keine Mög­lichkeit, Waren ver­schie­dener Art zu kom­bi­nieren und ein gewisses Ein­kom­mens­niveau zu messen. Daher ist es unsinnig zu ver­suchen, auf eine Art „gleiches“ Niveau zu gelangen. Es ist eine unum­gäng­liche Tat­sache, dass Gleichheit nicht erreicht werden kann, weil schon die Idee an sich ein unmög­liches Ziel für den Men­schen auf­grund seiner gege­benen regio­nalen Ver­streuung und indi­vi­du­eller Vielfalt dar­stellt. Aber wenn Gleichheit selbst schon ein wider­sprüch­liches (und damit ver­nunft­wid­riges) Ziel ist, dann ist jeder Versuch, sich der Gleichheit zu nähern, ent­spre­chend abwegig. Wenn ein Ziel sinnlos ist, dann ist auch jeder Versuch, es zu erreichen, sinnlos.
Viele Men­schen glauben, weil die Ein­kom­mens­gleichheit ein unsin­niges Leitbild ist, können sie es durch das Leitbild der Chan­cen­gleichheit ersetzen. Doch auch das ist ein genauso hohles Konzept wie das andere. Wie kann die Chance des New Yorkers und des Inders, Man­hattan zu umsegeln oder im Ganges zu schwimmen, „aus­ge­glichen“ werden? Die unaus­weich­lichen regio­nalen Unter­schiede der Men­schen schließen jede Mög­lichkeit des Aus­gleichs von „Chancen“ effektiv aus.
Blum und Kalven unter­liegen einem häu­figen Fehler,[2] wenn sie behaupten, dass Gerech­tigkeit Chan­cen­gleichheit bedeutet und dass diese Gleichheit vor­aus­setzt, dass „die Teil­nehmer vom gleichen Start­punkt starten“, damit das „Spiel“ „gerecht“ ist. Das mensch­liche Leben ist aber kein Rennen oder Spiel, bei dem jeder von einem gleichen Start­punkt beginnen sollte. Es ist der Versuch eines jeden Men­schen, so glücklich wie möglich zu sein. Und jeder Mensch kann nicht von dem­selben Punkt aus beginnen, denn die Welt ist kein eigen­schafts­leerer Raum, sie ist viel­ge­staltig und unter­scheidet sich von Ort zu Ort. Die bloße Tat­sache, dass ein Indi­viduum not­wen­di­ger­weise an einem anderen Ort als ein anderes geboren wird, bewirkt unmit­telbar, dass seine ver­erbten Chancen nicht die gleichen sein können wie die seines Nachbarn. Das Streben nach Chan­cen­gleichheit würde auch die Abschaffung der Familie erfordern, da unter­schied­liche Eltern ungleiche Fähig­keiten haben. Kindern müssten demnach durch die Gemein­schaft erzogen werden. Der Staat müsste alle Neu­ge­bo­renen ver­staat­lichen und unter „gleichen“ Bedin­gungen in staat­lichen Kin­der­ta­ges­stätten auf­ziehen. Aber auch hier sind die Bedin­gungen nicht gleich, denn ver­schiedene Staats­be­dienstete werden selbst unter­schied­liche Fähig­keiten und Per­sön­lich­keiten haben. Und Gleichheit kann niemals erreicht werden, weil es not­wendige Stand­ort­un­ter­schiede gibt.
Dem Ver­fechter der Gleichheit darf es daher nicht länger erlaubt sein, die Dis­kussion zu beenden, indem er einfach Gleichheit als abso­lutes ethi­sches Ziel ver­kündet. Er muss sich zunächst allen sozialen und wirt­schaft­lichen Folgen der Gleich­ma­cherei stellen und ver­suchen zu zeigen, dass sie nicht im Wider­spruch zur grund­le­genden Natur des Men­schen stehen. Er muss den Einwand wider­legen, dass der Mensch nicht für eine erzwungene Amei­sen­hau­fen­existenz geschaffen ist. Und schließlich muss er erkennen, dass die Ziele der Ein­kommens- und der Chan­cen­gleichheit an sich nicht umsetzbar und damit unsinnig sind. Jeder Drang, sie zu erreichen, ist folglich eben­falls unsinnig.
Die Gleich­ma­cherei ist daher buch­stäblich eine sinnlose Sozi­al­phi­lo­sophie. Ihre einzige sinn­volle Aus­for­mu­lierung ist das Ziel der „Gleichheit der Freiheit“ – for­mu­liert von Herbert Spencer in seinem berühmten Gesetz der gleichen Freiheit: „Jeder Mensch hat die Freiheit, alles zu tun, was er will, sofern er nicht gegen die gleiche Freiheit eines anderen Men­schen ver­stößt.“[3]
Diese Ziel­setzung ver­sucht nicht, den Gesamt­zu­stand jedes Ein­zelnen gleich zu machen, denn das ist ein absolut unmög­liches Unter­fangen. Sondern befür­wortet vielmehr die Freiheit – einen Zustand der Abwe­senheit von Zwang über andere Person und deren Eigentum.[4]
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Doch auch diese Fassung der Gleichheit hat viele Mängel und kann erkennt­nis­bringend ver­worfen werden. Erstens öffnet sie die Tür für Mehr­deu­tigkeit und Gleich­ma­cherei. Zweitens kenn­zeichnet der Begriff „Gleichheit“ messbare Über­ein­stimmung mit einer festen, bestimmten Einheit. „Gleiche Länge“ bezeichnet die Über­ein­stimmung einer Messung mit einer objektiv bestimm­baren Einheit. In der Lehre vom mensch­lichen Handeln, sei es in der Pra­xeo­logie oder in der Sozi­al­phi­lo­sophie, gibt es keine solche men­gen­mäßige Einheit, und daher kann es keine solche „Gleichheit“ geben. Es ist viel besser zu sagen, dass „jeder Mensch X haben sollte“, als zu sagen, dass „alle Men­schen in X gleich sein sollten.“ Wenn jemand alle Men­schen zum Kauf eines Autos drängen will, for­mu­liert er sein Ziel auf diese Weise: „Jeder sollte ein Auto kaufen“, und nicht in solchen Worten wie: „Alle sollten die Gleichheit beim Autokauf haben.“ Die Ver­wendung des Begriffs „Gleichheit“ ist sowohl unan­genehm als auch irreführend.
Und schließlich, wie Clara Dixon Davidson vor vielen Jahren so über­zeugend betonte, ist Spencers Gesetz der gleichen Freiheit über­flüssig. Denn wenn jeder Mensch die Freiheit hat, alles zu tun, was er will, folgt aus dieser Annahme, dass die Freiheit keines Men­schen miss­achtet oder ange­griffen wurde. Der ganze zweite Abschnitt des Gesetzes nach „was er will“ ist über­flüssig und unnötig.[5] Seit seiner Ver­öf­fent­li­chung haben Gegner von Spencer den Qua­li­fi­zie­rungs­ab­schnitt in seinem Gesetz genutzt, um Löcher in die libertäre Phi­lo­sophie zu bohren. Doch die ganze Zeit über zielten sie auf eine Ein­schränkung und nicht auf das Wesent­liche des Gesetzes. Das Konzept der „Gleichheit“ hat keinen recht­mä­ßigen Platz im „Gesetz der gleichen Freiheit“, das durch den logi­schen Zusatz „jeder“ ersetzt werden kann. Das „Gesetz der gleichen Freiheit“ könnte durchaus in das „Gesetz der totalen Freiheit“ umbe­nannt werden.
[1] Für eine wei­ter­füh­rende Behandlung dieser Axiome, siehe Rothbard (1957): In Defense of Extreme Apriorism, Sou­thern Eco­nomic Journal, S. 314–20.
[2] Blum and Kalven: Uneasy Case for Pro­gressive Taxation, S. 501ff.
[3] Spencer, Social Statics, p. 121.
[4] Dieses Ziel wurde manchmal als „Gleichheit vor dem Gesetz“ oder „Gleichheit der Rechte“ bezeichnet. Beide For­mu­lie­rungen sind jedoch mehr­deutig und irre­führend. Ers­teres könnte als sowohl als Gleichheit von Skla­verei und als auch als Gleichheit von Freiheit ver­standen werden und wurde in den letzten Jahren sogar so stark ein­ge­schränkt, dass es von unter­ge­ord­neter Bedeutung ist. Bei letz­terem kann jede Art von „Recht“ hin­ein­ge­deutet werden, ein­schließlich des „Rechts auf ein gleiches Einkommen“.
[5] „… der erste Teil beinhaltet bereits das was folgt. Denn wenn jemand die Freiheit eines anderen ver­letzt, wären nicht alle gleich frei.“ Clara Dixon Davidson (1892): Liberty, Sep­tember 3, 1892; zitiert nach Ben­jamin R. Tucker (1893): Instead of a Book, New York: Ben­jamin R. Tucker, S. 137. Davidsons Aussage wurde völlig übergangen.
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Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Arno Stöcker. Der Ori­gi­nal­beitrag mit dem Titel The Impos­si­bility of Equality ist am 21.8.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dor­tigen Uni­ver­sität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Mise­sia­nische Theorie noch einmal grund­legend zusam­men­fasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kri­ti­schen Über­prüfung unterzogen.

Quelle: misesde.org