Ich bekomme per Mail Fragen, warum ich über den Mord in Berlin noch nichts geschrieben habe. Daher will ich kurz darauf antworten, aber bisher liegen noch zu wenig belastbare Informationen vor, um etwas eindeutiges dazu zu sagen.
Es ist bekannt, dass das Opfer mindestens im zweiten Tschetschenien-Krieg gegen Russland gekämpft hat. Die Tschetschenien-Kriege werden im Westen als „Freiheitskampf“ des tschetschenischen Volkes beschrieben, dabei stimmt das so nicht. Auf Seiten der Rebellen haben mehrheitlich Ausländer gekämpft, das waren Islamisten aus arabischen Ländern, aus Afghanistan und auch aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Kriegsziel war nicht etwa die Unabhängigkeit Tschetscheniens, sondern die Errichtung eines „Islamischen Staates“ oder eines „Kalifates Kaukasus“, das weit über die Grenzen Tschetscheniens hinaus reichen sollte. Es sollte vom Schwarzen Meer bis zum Kaspischen Meer reichen.
Der in Berlin erschossene Georgier Zelimkhan Khangoshvili war einer der ausländischen Kämpfer auf Seiten der Islamisten, führte eine kleine Einheit an und war mit dem Islamistenführer Aslan Maschadow befreundet.
Nach dem Krieg ging er zurück nach Georgien. Er kam aus dem Pankissi-Tal im Nordosten des Landes. Georgien ist ein christlich-orthodoxes Land, aber entlang der Schwarzmeerküste lebt eine islamische Minderheit, die heute eine Islamisierung vorantreibt (das ist nicht meine Formulierung, sondern sie wird in Georgien benutzt). Unterstützung kommt dabei aus der Türkei, denn Erdogan möchte seinen Einfluss auf die Muslime der Nachbarländer ausdehnen. Darüber habe ich vor einigen Monaten eine Reportage des russischen Fernsehens übersetzt.
Es gibt Stimmen, die Khangoshvili als Islamisten bezeichnen, aber seine Freunde bestreiten das. Es steht in dieser Frage Aussage gegen Aussage, genaues weiß man nicht. Gläubig war er jedenfalls, denn er wurde erschossen, als er auf dem Weg zur Mosche war.
Er hatte mit tschetschenischen Klans zu tun, die durchaus auch mit organisierter Kriminalität in Zusammenhang stehen. Bei den Tschetschenen ist auch Blutrache immer noch durchaus üblich. Und allein da dürfte es, nachdem Khangoshvili im Krieg Menschen getötet hat, sicherlich einige geben, die es als eine Frage der Ehre ansehen, Blutrache an ihm zu verüben.
Natürlich könnte auch der tschetschenische Präsident Kadirov (Tschetschenien gehört zu Russland, hat aber eine starke Autonomie) ein Motiv haben. Und auch die organisierte Kriminalität kommt in Frage und eben auch noch Gründe der Blutrache.
Auch Russland könnte ein Motiv haben, die Frage ist nur, welches. Der Krieg ist lange vorbei, der Mann war zwar anti-russisch, aber auch unwichtig. Dass der russische Geheimdienst in Berlin auf offener Straße Leute mit Kopfschüssen hinrichtet, ist in meinen Augen eine Räuberpistole. So plump arbeitet kein Geheimdienst. Aber man kann es nach der aktuellen Faktenlage natürlich auch nicht ausschließen. Es gibt einfach zu wenige gesicherte Fakten, um irgendetwas ausschließen oder bestätigen zu können.
Auch die deutschen Behörden wissen anscheinend noch nicht wesentlich mehr. Wenn die Staatsanwaltschaft schon sicher wäre, dass es sich um einen Geheimdienstmord der Russen handelt, dann wäre der Fall beim Generalbundesanwalt gelandet, ist er aber bisher nicht.
Fakt ist, dass der Tatverdächtige ebenfalls Tschetschene ist, obwohl die deutschen Medien von einem Russen sprechen. Das verwirrt natürlich die Leser. Aber letztlich ist beides richtig: Als ethnischer Tschetschene hat er die russische Staatsbürgerschaft, Tschetschenien gehört zu Russland.
Daher werde ich mich zu dem Fall auch noch nicht äußern, es gibt viel zu viel, was noch völlig unklar ist. Unter anderem auch, warum das Opfer nicht längst abgeschoben wurde, wenn seine Abschiebung nach Medienberichten schon seit 2017 beschlossene Sache war.
Während also noch immer kaum etwas bekannt ist, weiß der Spiegel schon alles besser, wie man am Freitag lesen konnte:
„Im Fall des in Berlin ermordeten Georgiers Zelimkhan Khangoshvili gibt es Hinweise auf eine mögliche Beteiligung russischer Geheimdienste. Wie Recherchen des SPIEGEL mit den Investigativnetzwerken Bellingcat und The Insider ergaben, reiste der Tatverdächtige vermutlich mit einer falschen Identität ein. (…) Im nationalen russischen Passregister ist jedoch niemand unter den angegebenen Personalien gemeldet. In ganz Russland findet sich weder in der Passdatenbank noch im Führerscheinregister ein Eintrag, der mit den gemachten Angaben – Name, Geburtsdatum, Geburtsort – übereinstimmt.“
Das kennen wir doch irgendwo her. Beim Fall Skripal hatte Bellingcat auch die Passnummern der angeblichen Verdächtigen und The Insider hatte damals auch angeblich Zugriff auf das russische Passregister.
Das wirft Fragen auf: Wie kam Bellingcat an die Passnummer des Tatverdächtigen? Die kann Bellingcat nur von europäischen Behörden haben. Aber egal, ob es ein europäisches Außenministerium war, das das Schengen-Visum ausgestellt hat, oder die ermittelnde deutsche Staatsanwaltschaft: Solche Informationen werden nicht an irgendwelche Internet-Portale weitergegeben!
Es sei denn, dass Bellingcat von westlichen Geheimdiensten mit Informationen versorgt wird, wonach es ja ohnehin aussieht, wenn man sich die „Recherchen“ von Bellingcat aus der Vergangenheit anschaut.
Und in Russland sind die Passregister nicht offen zugänglich. Woher will The Insider, ein Blogger, der in Russland sitzt und nach eigenen Angaben vom Westen mit mindestens 10.000 Dollar pro Monat unterstützt wird, Zugang zum russischen Passregister haben? Dieses Schema gab es bei den Skripals auch schon: Bellingcat bekommt wunderbarerweise die Pässe der angeblich Verdächtigen zugespielt und The Insider steuert angeblich die Informationen aus dem russischen Passregister bei. Diese Geschichte war schon damals unglaubwürdig, umso verrückter, dass es nun wieder nach dem gleichen Schema abläuft.
Die Details über diese Hintergründe von The Insider und Bellingcat finden Sie hier.
Aber der Spiegel berichtet diese Geschichte stolz, ohne danach zu fragen, woher die Informationen kommen.
Ich werde den Fall weiterhin beobachten, aber derzeit kann man dazu noch nichts handfestes mitteilen. Sobald es etwas Belastbares gibt, werde ich berichten. Aber da ich nur ungern spekuliere, sondern lieber über nachprüfbare Fakten berichte, kann das noch etwas dauern.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“