Was bisher über den Mord in Berlin bekannt ist und was der Spiegel daraus macht

In Berlin wurde vor knapp einer Woche ein Georgier erschossen, es war eine regel­rechte Hin­richtung und in der Presse kann man nun lesen, dass es Spuren zu rus­si­schen Geheim­diensten gäbe. Was ist bisher tat­sächlich bekannt?
Ich bekomme per Mail Fragen, warum ich über den Mord in Berlin noch nichts geschrieben habe. Daher will ich kurz darauf ant­worten, aber bisher liegen noch zu wenig belastbare Infor­ma­tionen vor, um etwas ein­deu­tiges dazu zu sagen.
Es ist bekannt, dass das Opfer min­destens im zweiten Tsche­tschenien-Krieg gegen Russland gekämpft hat. Die Tsche­tschenien-Kriege werden im Westen als „Frei­heits­kampf“ des tsche­tsche­ni­schen Volkes beschrieben, dabei stimmt das so nicht. Auf Seiten der Rebellen haben mehr­heitlich Aus­länder gekämpft, das waren Isla­misten aus ara­bi­schen Ländern, aus Afgha­nistan und auch aus ehe­ma­ligen Sowjet­re­pu­bliken. Das Kriegsziel war nicht etwa die Unab­hän­gigkeit Tsche­tsche­niens, sondern die Errichtung eines „Isla­mi­schen Staates“ oder eines „Kali­fates Kau­kasus“, das weit über die Grenzen Tsche­tsche­niens hinaus reichen sollte. Es sollte vom Schwarzen Meer bis zum Kas­pi­schen Meer reichen.
Der in Berlin erschossene Georgier Zelimkhan Khan­goshvili war einer der aus­län­di­schen Kämpfer auf Seiten der Isla­misten, führte eine kleine Einheit an und war mit dem Isla­mis­ten­führer Aslan Maschadow befreundet.
Nach dem Krieg ging er zurück nach Georgien. Er kam aus dem Pan­kissi-Tal im Nord­osten des Landes. Georgien ist ein christlich-ortho­doxes Land, aber entlang der Schwarz­meer­küste lebt eine isla­mische Min­derheit, die heute eine Isla­mi­sierung vor­an­treibt (das ist nicht meine For­mu­lierung, sondern sie wird in Georgien benutzt). Unter­stützung kommt dabei aus der Türkei, denn Erdogan möchte seinen Ein­fluss auf die Muslime der Nach­bar­länder aus­dehnen. Darüber habe ich vor einigen Monaten eine Reportage des rus­si­schen Fern­sehens über­setzt.
Es gibt Stimmen, die Khan­goshvili als Isla­misten bezeichnen, aber seine Freunde bestreiten das. Es steht in dieser Frage Aussage gegen Aussage, genaues weiß man nicht. Gläubig war er jeden­falls, denn er wurde erschossen, als er auf dem Weg zur Mosche war.
Er hatte mit tsche­tsche­ni­schen Klans zu tun, die durchaus auch mit orga­ni­sierter Kri­mi­na­lität in Zusam­menhang stehen. Bei den Tsche­tschenen ist auch Blut­rache immer noch durchaus üblich. Und allein da dürfte es, nachdem Khan­goshvili im Krieg Men­schen getötet hat, sicherlich einige geben, die es als eine Frage der Ehre ansehen, Blut­rache an ihm zu verüben.
Natürlich könnte auch der tsche­tsche­nische Prä­sident Kadirov (Tsche­tschenien gehört zu Russland, hat aber eine starke Auto­nomie) ein Motiv haben. Und auch die orga­ni­sierte Kri­mi­na­lität kommt in Frage und eben auch noch Gründe der Blutrache.
Auch Russland könnte ein Motiv haben, die Frage ist nur, welches. Der Krieg ist lange vorbei, der Mann war zwar anti-rus­sisch, aber auch unwichtig. Dass der rus­sische Geheim­dienst in Berlin auf offener Straße Leute mit Kopf­schüssen hin­richtet, ist in meinen Augen eine Räu­ber­pistole. So plump arbeitet kein Geheim­dienst. Aber man kann es nach der aktu­ellen Fak­tenlage natürlich auch nicht aus­schließen. Es gibt einfach zu wenige gesi­cherte Fakten, um irgend­etwas aus­schließen oder bestä­tigen zu können.
Auch die deut­schen Behörden wissen anscheinend noch nicht wesentlich mehr. Wenn die Staats­an­walt­schaft schon sicher wäre, dass es sich um einen Geheim­dienstmord der Russen handelt, dann wäre der Fall beim Gene­ral­bun­des­anwalt gelandet, ist er aber bisher nicht.
Fakt ist, dass der Tat­ver­dächtige eben­falls Tsche­tschene ist, obwohl die deut­schen Medien von einem Russen sprechen. Das ver­wirrt natürlich die Leser. Aber letztlich ist beides richtig: Als eth­ni­scher Tsche­tschene hat er die rus­sische Staats­bür­ger­schaft, Tsche­tschenien gehört zu Russland.
Daher werde ich mich zu dem Fall auch noch nicht äußern, es gibt viel zu viel, was noch völlig unklar ist. Unter anderem auch, warum das Opfer nicht längst abge­schoben wurde, wenn seine Abschiebung nach Medi­en­be­richten schon seit 2017 beschlossene Sache war.
Während also noch immer kaum etwas bekannt ist, weiß der Spiegel schon alles besser, wie man am Freitag lesen konnte:

„Im Fall des in Berlin ermor­deten Geor­giers Zelimkhan Khan­goshvili gibt es Hin­weise auf eine mög­liche Betei­ligung rus­si­scher Geheim­dienste. Wie Recherchen des SPIEGEL mit den Inves­ti­ga­tiv­netz­werken Bel­lingcat und The Insider ergaben, reiste der Tat­ver­dächtige ver­mutlich mit einer fal­schen Iden­tität ein. (…) Im natio­nalen rus­si­schen Pass­re­gister ist jedoch niemand unter den ange­ge­benen Per­so­nalien gemeldet. In ganz Russland findet sich weder in der Pass­da­tenbank noch im Füh­rer­schein­re­gister ein Eintrag, der mit den gemachten Angaben – Name, Geburts­datum, Geburtsort – übereinstimmt.“

Das kennen wir doch irgendwo her. Beim Fall Skripal hatte Bel­lingcat auch die Pass­nummern der angeb­lichen Ver­däch­tigen und The Insider hatte damals auch angeblich Zugriff auf das rus­sische Passregister.
Das wirft Fragen auf: Wie kam Bel­lingcat an die Pass­nummer des Tat­ver­däch­tigen? Die kann Bel­lingcat nur von euro­päi­schen Behörden haben. Aber egal, ob es ein euro­päi­sches Außen­mi­nis­terium war, das das Schengen-Visum aus­ge­stellt hat, oder die ermit­telnde deutsche Staats­an­walt­schaft: Solche Infor­ma­tionen werden nicht an irgend­welche Internet-Portale weitergegeben!
Es sei denn, dass Bel­lingcat von west­lichen Geheim­diensten mit Infor­ma­tionen ver­sorgt wird, wonach es ja ohnehin aus­sieht, wenn man sich die „Recherchen“ von Bel­lingcat aus der Ver­gan­genheit anschaut.
Und in Russland sind die Pass­re­gister nicht offen zugänglich. Woher will The Insider, ein Blogger, der in Russland sitzt und nach eigenen Angaben vom Westen mit min­destens 10.000 Dollar pro Monat unter­stützt wird, Zugang zum rus­si­schen Pass­re­gister haben? Dieses Schema gab es bei den Skripals auch schon: Bel­lingcat bekommt wun­der­ba­rer­weise die Pässe der angeblich Ver­däch­tigen zuge­spielt und The Insider steuert angeblich die Infor­ma­tionen aus dem rus­si­schen Pass­re­gister bei. Diese Geschichte war schon damals unglaub­würdig, umso ver­rückter, dass es nun wieder nach dem gleichen Schema abläuft.
Die Details über diese Hin­ter­gründe von The Insider und Bel­lingcat finden Sie hier.
Aber der Spiegel berichtet diese Geschichte stolz, ohne danach zu fragen, woher die Infor­ma­tionen kommen.
Ich werde den Fall wei­terhin beob­achten, aber derzeit kann man dazu noch nichts hand­festes mit­teilen. Sobald es etwas Belast­bares gibt, werde ich berichten. Aber da ich nur ungern spe­ku­liere, sondern lieber über nach­prüfbare Fakten berichte, kann das noch etwas dauern.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“