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Roth­bards Wohlfahrtsökonomik

Jedem Stu­denten der Wirt­schafts­wis­sen­schaften wird im ersten Semester bei­gebracht, dass die Wirt­schafts­wis­sen­schaft eine empi­risch-ana­ly­tische Wis­sen­schaft ist. Ein­füh­rende Lehr­bücher betonen gleich zu Beginn, dass der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler als Wirt­schafts­wis­sen­schaftler niemals ethische Urteile fällen kann. Als Sozi­al­wis­sen­schaftler, der sich mit wirt­schaft­lichen Pro­blemen aus­ein­an­der­setzt, kann er die Welt nur so beschreiben und erklären, wie sie ist, nie so, wie sie sein soll.
(von Ohad Osterreicher)

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Bei­spiels­weise lehrt die Grund­la­gen­öko­nomik, dass die Fest­setzung des Milch­preises unter dem Preis, der sich auf dem freien Markt ergeben hätte, zu einem Milch­mangel führt. Ebenso führt die Fest­legung der Löhne über dem markt­wirt­schaft­lichen Gleich­ge­wichts­preis zu unfrei­wil­liger Arbeits­lo­sigkeit. Diese Fest­stel­lungen sagen aber nichts über die Erwünschtheit dieser Aus­wir­kungen aus. Sie sind für sich genommen wertfrei.
Aber dann stellt sich eine andere Frage: Kann die Wirt­schafts­wis­sen­schaft sagen, welche Aus­wir­kungen eine bestimmte Ver­än­derung auf das Sozi­al­wesen haben wird? Kann sie fest­stellen, wann der „gesamt­ge­sell­schaft­liche Nutzen“ maxi­miert ist, und wenn ja, wie lässt sich dieser erreichen? Wenn diese Fragen bejaht werden können, scheint es, dass der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler auf den ersten Blick poli­tisch-ethische Aus­sagen tätigen kann, ohne dabei den wert­freien Wesenszug seiner Wis­sen­schaft zu verletzen.
Der Zweig der Wirt­schafts­wis­sen­schaften, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, ist die Wohl­fahrts­öko­nomik. Es ist ein ver­wor­renes Teil­gebiet, das im Verlauf der Geschichte raue Zeiten, Höhen und Tiefen, zahl­reiche Unter­gänge und Wie­der­ge­burten erlebt hat. Im Fol­genden wird kurz die Ent­wicklung der Wohl­fahrts­öko­nomik bis zu Roth­bards Beitrag umrissen, ihre Aus­wir­kungen erörtert und auf die gegen sie erho­benen Kri­tik­punkte eingegangen.
Hin­ter­grund
Die klas­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler wie Smith, Ricardo und Mill hatten eine ver­ein­fachte, vor-sub­jektive Auf­fassung von Wohl­fahrt. Sie ver­traten die Ansicht, dass man jene öffent­lichen Maß­nahmen ergreifen sollte, die darauf abzielen, die tat­säch­liche Ertrags­menge zu erhöhen (häufig als Stei­gerung der Ern­te­er­träge beschrieben). Auf­grund ihrer in sich geschlos­senen Unter­su­chungen war der Weg zur Ziel­er­rei­chung einfach: Den Umfang der Arbeits­teilung so weit wie möglich zu fördern und so viel Kapital wie möglich ein­zu­setzen.[1]
Während die klas­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler in ihrer Unter­su­chung über die Aus­wir­kungen der Arbeits­teilung und der Kapi­tal­bildung weit­gehend richtig lagen, irrten sie sich in der Vor­stellung, dass für die Recht­fer­tigung ihrer wirt­schafts­po­li­ti­schen Maß­nahmen allein die mate­ri­ellen Erfolge genügen würden. Für den sub­jektiv den­kenden, neo­klas­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler liegt der Fehler in ihrem Denken auf der Hand: Das Wohl­ergehen ist nicht von der tat­säch­lichen, sach­lichen Menge an Ver­brauchs­gütern in der Gesell­schaft abhängig, sondern hängt vielmehr von den Vor­lieben und der Fähigkeit der Men­schen ab, diese zu erfüllen.
Es ist durchaus möglich, dass mehr Ver­brauchs­güter, wenn alle anderen Dinge gleich bleiben, ein höheres Wohl­fahrts­niveau bedeuten können, jedoch ist die Güter­pro­duktion mit Kosten ver­bunden. Wenn die Kosten für ihre Her­stellung, z.B. der Ver­zicht auf Freizeit, höher sind als der Bedarf, den diese Güter decken, dann führen mehr Güter zu weniger Wohlstand.
Man könnte nach den Dar­le­gungen der klas­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftlern gar ver­muten, dass es möglich ist, die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt zu erhöhen, indem man die Men­schen zwingt, mehr zu arbeiten als sie wollen oder indem man Ver­mögen von armen Men­schen mit hoher Zeit­prä­ferenz auf wohl­ha­bende Men­schen mit nied­ri­gerer Zeit­prä­ferenz über­trägt, wodurch sich die Gesamt­ka­pi­tal­menge erhöht.
Die Ablehnung der alten Wohlfahrtstheorie
Mit dem Auf­kommen der Grenz­wert­re­vo­lution und ihrer Betonung der sub­jek­tiven, indi­vi­dua­lis­ti­schen Auf­fassung von Wohl­fahrt wurde die klas­sische Wohl­fahrts­öko­nomik abge­lehnt. Statt­dessen nutzten neo­klas­sische Öko­nomen unter der Feder­führung von Pigou, Edge­worth und Mar­shall die neue Wer­te­lehre und das Gesetz vom abneh­menden Grenz­nutzen, um das zu ent­wi­ckeln, was als alte Wohl­fahrts­öko­nomik bekannt wurde. Das Haupt­ar­gument war, dass, da jeder einen abneh­menden Nutzen von Geld hat, der Grenz­nutzen des Ein­kommens eines reichen Mannes kleiner ist als der eines armen. Eine Umver­teilung von erwirt­schaf­tetem Ein­kommen von den Reichen zu den Armen erhöht daher den „Gesamt­nutzen“ und ist daher wirt­schaftlich gerecht­fertigt, solange dabei der Her­stel­lungs­prozess auf­recht­erhalten werden kann.
Nicht zufällig ist diese Recht­fer­tigung auch heute noch ver­traut. Poli­tiker und Wirt­schafts­wis­sen­schaftler greifen diesen Ansatz auch heute immer wieder auf. Vor kurzem nutzte Paul Krugman ihn, um das Anliegen der US-Abge­ord­neten Alex­andria Ocasio-Cortez zu unter­stützen, einen höheren Spit­zen­steu­ersatz einzuführen.
Diese Über­le­gungen mögen auf den ersten Blick über­zeugend erscheinen, so dass es sich lohnt, die damit ver­bun­denen Annahmen genauer zu unter­suchen. Erstens gingen die alten Wohl­fahrts­theo­re­tiker davon aus, dass alle Men­schen die gleiche Befrie­di­gungs­fä­higkeit haben. Sie gaben zu, dass es sich hierbei um nicht mehr als um eine meta­phy­sische Vor­aus­setzung han­delte, aber es war ein ver­nünf­tiger Aus­gangs­punkt und meist unge­fährlich. Von viel grö­ßerer Bedeutung war aber die zweite Annahme des kar­di­nalen Nutzens. Nach den Weg­be­reitern der Grenz­wert­re­vo­lution, Jevons und Walras, ver­standen die alten Wohl­fahrts­theo­re­tiker den Nutzen als eine bezif­ferbare phy­sio­lo­gische Größe, die außerhalb der Wahl des Indi­vi­duums exis­tiert.[2] Sie dachten, dass sich diese Größe für mathe­ma­tische Berech­nungen und Aggre­gation eignet. Unter dieser Annahme sind inter­per­so­nelle Nut­zungs­ver­gleiche zulässig, und deshalb ist es sinnvoll, zu dem Schluss zu kommen, dass der „Gesamt­nutzen“ gestiegen ist, auch wenn es einigen Men­schen schlechter geht.
Die Bemü­hungen der alten Wohl­fahrts­theo­re­tiker endeten abrupt mit Lionel Robbins Nachweis der Unan­wend­barkeit von inter­per­so­nellen Nut­zungs­ver­gleichen. Robbins zeigte, dass diese Wirt­schafts­wis­sen­schaftler sich geirrt haben, als sie das Gesetz vom abneh­menden Grenz­nutzen über ihr eigent­liches Anwen­dungs­gebiet hinaus aus­dehnten, denn das Gesetz gilt nur für den wirt­schaftlich han­delnden Ein­zelnen, der Mittel ein­setzt, um seine Ziele zu erreichen. Es ist möglich, von einer indi­vi­du­ellen Güter­rang­folge auf einer Wer­te­skala und dem abneh­menden Nutzen zusätz­licher Ein­heiten zu sprechen. Ein Tausch kann erklärt werden, indem man sich auf die gegen­sätz­liche Rang­folge der Waren auf den Wer­te­skalen der Indi­viduen bezieht. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, diese Wer­tigkeit zwi­schen den Indi­viduen zu ver­gleichen. Da es keine objektive Maß­einheit für den Nutzen gibt, ist es zudem unzu­lässig, von men­gen­mä­ßigen Unter­schieden in der Zufrie­denheit zu sprechen. So schloss Robbins, die Erklärung der alten Wohl­fahrts­theo­re­tiker sei nichts anderes als ein ethi­sches Urteil und müsse als solches von der Wirt­schafts­wis­sen­schaft aus­ge­klammert werden.
Von da an blieb den Wirt­schafts­wis­sen­schaftlern nichts anderes übrig, als die soge­nannte Ein­stim­mig­keits- oder Pareto-Regel zu über­nehmen, da inter­per­so­nelle Nut­zungs­ver­gleiche weg­fielen. Die Pareto-Regel, die 1906 vom ita­lie­ni­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Vil­fredo Pareto ent­wi­ckelt wurde, besagt, dass wir nur dann von einer Erhöhung des gesamt­ge­sell­schaft­lichen Nutzens sprechen können, wenn es einem Men­schen besser geht, ohne dass es einem anderen schlechter geht. Wenn eine Ver­än­derung dies ermög­licht, wird sie als Pareto-Ver­bes­serung bezeichnet. Wenn keine Pareto-Ver­bes­se­rungen mehr möglich sind, wird die Situation als Pareto-Optimum bezeichnet; andern­falls ist die Situation nicht Pareto-effi­zient.[3]
Die Pareto-Regel stellte die Bewäh­rungs­probe dar, die alle Aus­sagen zur gesamt­ge­sell­schaft­lichen Wohl­fahrt bestehen müssen, wenn sie wertfrei bleiben sollen. Wenn zwei Per­sonen an einem Tausch oder einer indi­vi­du­ellen Handlung teil­nehmen, ohne jemand anderem zu schaden, dann darf der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler daraus schließen, dass die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt tat­sächlich zuge­nommen hat. Wenn jedoch eine Gruppe von Indi­viduen auf Kosten einer anderen Gruppe pro­fi­tiert, wie es bei allen staat­lichen Ein­griffen der Fall ist, dann kann der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler keine gehalt­volle Aussage über die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt machen.
Es ist diese Ein­schränkung, der sich die neue Wohl­fahrts­öko­nomik Mitte des zwan­zigsten Jahr­hun­derts ent­ziehen wollte und statt­dessen eine wirt­schaft­liche Begründung für staat­liche Ein­griffe liefern wollte. Dazu wurden zwei ver­schiedene Wege beschritten: Der erste Ansatz, der von der Harvard Uni­versity ausging, ver­ein­fachte die Pareto-Regel, indem er sie in einen all­ge­meinen Gleich­ge­wichts­rahmen einband. Die zweite, die von der London School of Eco­nomics ausging, umging die Regel mit Hilfe des Ent­schä­di­gungs­prinzips. Der erste Ansatz führte zur Ent­wicklung der gesamt­ge­sell­schaft­lichen Wohl­fahrts­funktion und des Kon­zepts des Markt­ver­sagens, der zweite zum Kaldor-Hicks Kom­pen­sa­ti­ons­kri­terium.[4]
Die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrts­glei­chung wurde zunächst vom ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Abram Bergson[5] ent­wi­ckelt und später von Paul Samu­elson wei­ter­ent­wi­ckelt.[6] Dieser Ansatz ver­kürzte die Pareto-Regel, indem er die Aspekte des Pareto-Optimums übernahm und sich auf den sta­ti­schen End­zu­stand des Markt­er­geb­nisses beschränkte. Durch die Schaffung meh­rerer Effi­zi­enz­be­din­gungen lässt sich für die soziale Wohl­fahrts­glei­chung ein opti­males Pareto-Gleich­ge­wicht ableiten, das gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt maxi­miert. Die Nicht­er­rei­chung dieses Maximums lässt sich dann zur Recht­fer­tigung staat­licher Ein­griffe nutzen.[7]
Diese Her­an­ge­hens­weise ist ver­gleichbar mit der Ermittlung des opti­malen Kon­sum­gü­ter­pakets für die indi­vi­duelle Nut­zen­funktion unter einer gege­benen Bud­get­be­schränkung. Anstelle der indi­vi­du­ellen Indif­fe­renz­kurve und einer Bud­get­be­schränkung wird eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Indif­fe­renz­kurve am Schnitt­punkt mit einer soge­nannten Nut­zen­mög­lich­keits­kurve maxi­miert – ähnlich einer Produktionsmöglichkeitenkurve.
Von Anfang an wurde die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrts­glei­chung von anderen neo­klas­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaftlern heftig kri­ti­siert, vor allem, weil wei­terhin ein kar­di­nales Nut­zen­ver­ständnis und der inter­per­so­nelle Nut­zen­ver­gleich bei­be­halten wurden. Der Todesstoß kam jedoch mit Kenneth Arrows berühmtem „All­ge­meinen Unmög­lich­keits­theorem“.[8] Arrow zeigte, dass es unmöglich ist, eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrts­glei­chung zu kon­stru­ieren, die gleich­zeitig mehrere grund­le­gende Bedin­gungen erfüllt. Daher gibt es keine Methode zur Bün­delung indi­vi­du­eller Prä­fe­renzen, die zu einer ein­heit­lichen Skala der gesamt­ge­sell­schaft­lichen Prä­fe­renzen führt. Die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrts­glei­chung musste auf­ge­geben werden.
Der Ansatz des Markt­ver­sagens hatte eine viel tief­grei­fendere Wirkung. Dieser Ansatz beruht auf den soge­nannten ersten und zweiten grund­le­genden Wohl­fahrts­theo­remen. Das erste Wohl­fahrts­theorem besagt, dass unter der Annahme eines per­fekten Wett­be­werbs[9] der Markt unwei­gerlich zu einem Gleich­ge­wicht im Pareto-Optimum ten­diert. Das zweite Theorem besagt, dass der Markt, bei einer gege­benen Ein­kom­mens­an­fangs­aus­stattung zwi­schen Indi­viduen unter den Bedin­gungen des freien Markts durch die Markt­kräfte ein Pareto-opti­maler Zustand erreicht wird.[10]
Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass Wirt­schafts­wis­sen­schaftler dann auf Fälle in der echten Welt ver­weisen können, in denen der Markt dieses Ergebnis nicht erzielt. In der zweiten Hälfte des zwan­zigsten Jahr­hun­derts wurden hun­derte von Artikeln zu diesem Thema ver­öf­fent­licht, die alle ver­suchten, neue Formen von Markt­ver­sagen zu finden und staat­liche Ein­griffe zu deren Behebung zu fordern. Zu den Fällen von Markt­ver­sagen, die in der Lite­ratur bis heute überlebt haben, gehören öffent­liche Güter, asym­me­trische Infor­ma­tionen, natür­liche Monopole und Externalitäten.
Neben dem Harvard-Ansatz ent­wi­ckelten die Wirt­schafts­wis­sen­schaftler von der London School of Eco­nomics, John Hicks und Nicholas Kaldor, das „Ent­schä­di­gungs­kri­terium“. Dieses Kri­terium besagt, das sich die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt steigern lässt, wenn die Gewinner die Ver­lierer hypo­the­tisch ent­schä­digen können und immer noch wohl­ha­bender bleiben als vor der Ver­än­derung. Dass diese Ent­schä­digung nicht tat­sächlich statt­finden muss, ist uner­heblich. Wirt­schafts­wis­sen­schaftler können dieses Kri­terium nutzen, um bestimmte wirt­schafts­po­li­tische Maß­nahmen zu emp­fehlen, ohne auf Wert­ur­teile zurück­zu­greifen, aber dennoch im Ein­klang mit der Pareto-Regel zu ver­bleiben.[11]
Ein klas­si­sches Bei­spiel, das häufig ver­wendet wird, um die Über­le­genheit des Ent­schä­di­gungs­kri­te­riums gegenüber der Pareto-Regel zu ver­an­schau­lichen, war die Auf­hebung des Mais­ge­setzes im neun­zehnten Jahr­hundert. Wirt­schafts­wis­sen­schaftler haben darauf hin­ge­wiesen, dass es für einen Wirt­schafts­wis­sen­schaftler quasi unmöglich ist, solche Maß­nahmen zu unter­stützen. Obwohl es offen­sichtlich allen auf lange Sicht besser geht, hätte die Abschaffung des Zolls den kurz­fris­tigen Inter­essen der Grund­be­sitzer geschadet. Daher argu­men­tierten Kaldor und Hicks, das Ent­schä­di­gungs­prinzip ver­meidet diese Falle, indem es nur darauf ver­weist, dass die Gewinne hypo­the­tisch unter den Ver­lierern ver­teilt werden können.
Rothbard tritt auf den Plan
Dies war der For­schungs­stand in der Wohl­fahrts­öko­nomik, als Murray N. Rothbard mit seinem weg­wei­senden Artikel „Toward a Recon­s­truction of Utility and Welfare Eco­nomics“ [Auf dem Weg zu einer Neu­ordnung der Nutzen- und Wohl­fahrts­öko­nomie] auf den Plan trat. Es gab zu dieser Zeit kaum viel­ver­spre­chende Theo­rie­an­sätze für die zukünftige Wei­ter­ent­wicklung. Roth­bards Lösung für die Wie­der­be­lebung des Feldes war einfach und doch weit­sichtig. Sie bestand darin, die Pareto-Regel in das Rah­menwerk der demons­trierten Prä­fe­renzen ein­zu­führen. Der Begriff der demons­trierten Prä­fe­renzen ist einfach: Der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler kann die Prä­fe­renzen des Ein­zelnen nur durch seine Hand­lungen erkennen. Jeder Handlung wohnt eine Wahl inne. Wenn ein Indi­viduum A gegenüber B wählt, zeigt er, dass er A bevorzugt. Der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler kann daraus nicht ableiten, wie sehr der Ein­zelne A bevorzugt, denn dies ist eine rein sub­jektive und ordinale Frage und wird nicht durch Handlung beant­wortet. Darüber hinaus ist es bei demons­trierten Prä­fe­renzen unzu­lässig, hypo­the­tische Wer­te­skalen zu ent­werfen, die den Prä­fe­renzen wider­sprechen, die Ein­zel­per­sonen selbst in ihren Hand­lungen zum Aus­druck gebracht haben.
Wie Rothbard weiter dar­legte, waren die Aus­wir­kungen der Beschränkung der Wohl­fahrts­öko­nomik auf demons­trierte Prä­fe­renzen weit­rei­chend. Erstens war die ganze Aus­richtung auf die Bedin­gungen des Pareto-Optimums irre­führend. Da sich das nie dage­wesene Traumland des per­fekten Wett­be­werbs in der Wirk­lichkeit nicht ver­wirk­lichen ließ, ist es daher zwecklos, Ver­än­de­rungen in der gesamt­ge­sell­schaft­lichen Wohl­fahrt unter diesen Ide­al­be­din­gungen zu unter­suchen. Im Gegenteil, Prä­fe­renzen können nur auf echten Märkten nach­ge­wiesen werden, auf denen die Markt­teil­nehmer weder starre Preis­nehmer sind, noch über per­fekte Infor­ma­tionen ver­fügen. Ent­spre­chend sind Ein­wände gegen Her­steller, die Güter über den Grenz­kosten ver­kaufen, asym­me­trische Infor­ma­tionen und natür­liche Monopole irrelevant.
Statt­dessen lehrt uns die Wohl­fahrts­öko­nomik, dass durch die Teil­nahme am freien Markt beide Par­teien bei jedem Tausch demons­trieren, dass sie erwarten, dass sie selbst von diesem Tausch pro­fi­tieren. Mit anderen Worten, jeder frei­willige Tausch erhöht den Nutzen von sich heraus. Laut Rothbard maxi­miert der freie Markt jederzeit die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt, indem er von einem Pareto-Optimum zum nächsten übergeht.
Darüber hinaus ver­an­schau­licht die Beschränkung von Aus­sagen über die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt auf demons­trierte Prä­fe­renzen die Absur­dität des Ent­schä­di­gungs­kri­te­riums. Wenn keine tat­säch­liche Ent­schä­digung von den Gewinnern an die Ver­lierer erfolgt, dann kann der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler nichts Sinn­volles über die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt sagen. Er kann nicht wissen, ob die Men­schen die neue Situation tat­sächlich der alten vor­ziehen. Wenn die Ent­schä­digung jedoch tat­sächlich statt­ge­funden hat und auf frei­wil­liger Basis erfolgt ist, dann fällt das Ent­schä­di­gungs­kri­terium lediglich unter die alte und bekannte Pareto-Regel.
In Reaktion auf Roth­bards Artikel haben mehrere Wirt­schafts­wis­sen­schaftler seine These kri­ti­siert. Zunächst wurde ange­führt, Roth­bards Ansatz löse das Problem mit der Ver­än­derung des Status Quo, wie im Bei­spiel der Auf­hebung des Mais­ge­setzes, immer noch nicht. Die Grund­be­sitzer zogen es vor, den Zoll bei­zu­be­halten, wie ihre laut­starke Ablehnung der Par­la­ments­ent­scheidung zeigte. Es ist jedoch falsch zu behaupten, dass dieser Wider­stand zeigt, dass die Wohl­fahrt der Grund­be­sitzer nach der Abschaffung beein­trächtigt wurde. Soweit der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler die Sachlage ein­schätzen kann, hätte die Ablehnung durch die Grund­be­sitzer auch eine Ablenkung sein können. Was der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler jedoch beob­achten kann, ist, dass die Grund­be­sitzer nach der Abschaffung der Zoll­ge­setz­gebung wei­terhin frei­willige Ver­träge abge­schlossen haben, was zeigt, dass sie vom freien Markt pro­fi­tierten. Im neuen Zustand gewannen also alle Par­teien wech­sel­seitig, im Gegensatz zum alten Zustand, in dem die Wohl­fahrt der übrigen Bevöl­kerung durch den Zoll ein­ge­schränkt war.
In seinem streit­lus­tigen Artikel wandte der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Bryan Caplan ein, dass Roth­bards Argu­men­tation auch gegen seine eigene These vor­ge­bracht werden kann. In Bezug auf die Behauptung, dass die Gefühle eines Dritten nicht die Schluss­fol­gerung ent­kräften können, dass jeder frei­willige Tausch die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt erhöht, da (wie Caplan Rothbard direkt zitiert) „selbst wenn er eine Kampf­schrift ver­öf­fent­licht, die diesen Tausch anprangert, haben wir keinen ein­deu­tigen Beweis dafür, dass dies kein Witz oder eine absicht­liche Lüge ist“. Caplan schreibt weiter:
Rothbard hätte dieses Prinzip wei­ter­führen können. Wenn zwei Per­sonen einen Vertrag unter­zeichnen, zeigen sie dann tat­sächlich ihre Prä­ferenz für die ver­trag­lichen Bestim­mungen? Viel­leicht zeigen sie nur ihre Prä­ferenz, ihren Namen auf das vor ihnen lie­genden Blatt zu schreiben. Es gibt keinen ‚hieb- und stich­festen Beweis‘ dafür, dass die Unter­zeichnung mit dem eigenen Namen auf einem Blatt Papier kein Witz ist und auch kein Versuch, die eigene Schreib­kunst zu verbessern.
Der Ver­trags­ab­schluss ist jedoch nicht nur eine reine Form der Schrift­kunst oder ein Spiel, sondern, wie Walter Block betont, eine ver­bind­liche Handlung, die das Eigentum an Gütern von einer Person auf eine andere über­trägt. Sie ver­pflichtet die Person daher, gemäß den Ver­trags­be­din­gungen zu handeln. Daher kann nicht davon aus­ge­gangen werden, dass eine Person, die einen rechts­gül­tigen Vertrag abschließt, ein Spiel spielt.
Darüber hinaus hat der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Roy Cardato geltend gemacht, Rothbard kon­zen­triere sich irr­tüm­li­cher­weise allein auf den ange­nom­menen Nutzen. In Wirk­lichkeit können Men­schen falsche Erwar­tungen an die Zukunft haben und so im Nach­hinein keinen Zugewinn an Nutzen haben. „Roth­bards Wohl­fahrts­öko­nomik … igno­riert die Tat­sache, dass Prä­fe­renzen im Laufe der Zeit als Teil eines all­ge­meinen Bündels ziel­ori­en­tierter Hand­lungen nach­ein­ander aus­ge­drückt werden.“
Obwohl Cardato mit seiner Beob­achtung Recht hat, irrt er sich, wenn er annimmt, dass dies ein Problem für die Über­le­gungen Roth­bards dar­stellt. Erstens können Wirt­schafts­wis­sen­schaftler aus den demons­trierten Prä­fe­renzen nicht den tat­säch­lichen, nach­träg­lichen Nutzen ableiten. Dieses Wissen ist ihnen ver­wehrt. Es ist daher für alle Vor­stel­lungen über die Wohl­fahrts­öko­nomik bedeu­tungslos, nicht nur für Roth­bards. Zweitens lehrt die öster­rei­chische Wirt­schafts­lehre, dass der unge­hin­derte Markt die beste Insti­tution ist, um Fehler abzu­mildern und so den tat­säch­lichen Nutzen zu maxi­mieren. Der Markt verfügt über einen ein­ge­bauten Hebel zur Besei­tigung erfolg­loser Unter­nehmer und uner­wünschter Waren. Es ist sicherlich möglich, dass ein Ver­braucher mit einem bestimmten Kauf unzu­frieden ist, aber es ist schwer vor­stellbar, dass der Ver­käufer des Erzeug­nisses lange am Markt bestehen kann.
Schließlich miss­ver­stand Cardato Roth­bards Ziel­setzung. Rothbard ver­suchte nicht, mit seiner Wohl­fahrts­öko­nomik eine voll­ständige ethische oder welt­an­schau­liche Grundlage für den freien Markt zu ent­wi­ckeln. Diese ist in seiner natur­rechtlich geprägten Theorie der Eigen­tums­rechte zu finden. Statt­dessen wollte er nur zeigen, wie die Theorie der demons­trierten Prä­fe­renzen genutzt werden kann, um dieses Feld vor dem intel­lek­tu­ellen Untergang zu retten. Dabei schuf er einen Rahmen, auf dem ethische Grund­sätze auf­gebaut werden können.[12]
Nun blieb Rothbard nur noch eine letzte Hürde. Ließe sich das erste Wohl­fahrts­theorem auf Roth­bards Dar­le­gungen anwenden, würde es nicht auf den uner­reich­baren Zustand des per­fekten Wett­be­werbs zutreffen. Statt­dessen würde es für echte Märkte gelten und besagen, dass der freie Markt im Ver­gleich zu anderen tat­säch­lichen insti­tu­tio­nellen Sys­temen das höchst­mög­liche Wohl­stands­niveau gewähr­leistet. Das zweite Wohl­fahrts­theorem behan­delte Rothbard jedoch nicht. Wirt­schafts­wis­sen­schaftler können sich immer noch für eine ein­malige pau­schale Ein­kom­mens­über­tragung ein­setzen, um ihren bevor­zugten Gleich­heits­zu­stand zu erreichen, und dann dem Markt seinen Lauf lassen. [13]
Macht­beben von Dirk Mueller

Es blieb Roth­bards Schüler, Hans-Hermann Hoppe, über­lassen, die Lösung zu finden. Hoppe wies darauf hin, dass die Wirt­schafts­wis­sen­schaftler der neuen Wohl­fahrts­lehre in einen logi­schen Wider­spruch ver­wi­ckelt sind. Einer­seits erkennen sie die posi­tiven Folgen eines frei­wil­ligen Tau­sches für die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt aus der Sicht des Ein­zelnen an. Damit wird still­schweigend das Recht auf Selbst­ei­gentum ange­nommen. Aber auf der anderen Seite wei­gerten sie sich, die daraus resul­tie­rende logische Kon­se­quenz zu akzep­tieren – das Prinzip von John Lock zur Aneignung und Erstinbesitznahme.
Wenn die Wohl­fahrts­öko­nomik von der unbe­streit­baren Tat­sache des Selbst­ei­gentums aus­gehen muss, dann muss sie die Pareto-Regel sowohl auf die Nutzung von Eigentum als auch auf deren Aneignung anwenden. Wie Hoppe schrieb:
Eine Person zeigt gerade durch den Akt der ursprüng­lichen Aneignung von bisher her­ren­losen Res­sourcen, dass diese Handlung ihren Nutzen erhöht (zumindest geht sie davon im Vorgang der Handlung aus). Gleich­zeitig stellt es nie­manden schlechter, denn durch die Aneignung nimmt er anderen nichts weg. Denn offen­sichtlich hätten auch andere diese Res­sourcen sich aneignen können, wenn sie sie nur als knapp wahr­ge­nommen hätten. Aber das haben sie eben nicht getan, was zeigt, dass sie ihnen über­haupt keinen Wert bei­messen, und deshalb kann man nicht sagen, dass sie durch diesen Vorgang irgend­einen Nutzen ver­loren haben. Aus­gehend von diesem Pareto-Optimum ist dann jeder weitere Pro­duk­ti­ons­einsatz unter Nutzung der ange­eig­neten Res­sourcen durch demons­trierte Prä­fe­renzen auch Pareto-optimal…. Und schließlich muss jeder frei­willige Tausch, der von dieser Grundlage ausgeht, auch als Pareto-optimale Ver­än­derung ange­sehen werden, denn er kann nur statt­finden, wenn beide Par­teien davon aus­gehen, dass sie durch den Tausch einen zusätz­lichen Nutzen ziehen.
Fazit
Wahr­scheinlich gegen den Wunsch seiner Zunft gelang es Rothbard, die Wohl­fahrts­öko­nomik wie­der­her­zu­stellen, indem er sie auf die Pareto-Regel und demons­trierte Prä­fe­renzen beschränkte. Er zeigte, dass der freie Markt, d.h. das Netzwerk der frei­wil­ligen Tausch­hand­lungen zwi­schen Indi­viduen, immer ein Höchstmaß an gesamt­ge­sell­schaft­licher Wohl­fahrt her­vor­bringt. Staat­liche Ein­griffe hin­gegen können im Hin­blick auf die gesamt­ge­sell­schaft­liche Wohl­fahrt nie gerecht­fertigt werden. Und obwohl dieser Beitrag Roth­bards wahr­scheinlich zu seinen weniger bekannten Errun­gen­schaften zählt, ist er wirklich eine Meis­ter­leistung und eine weitere Wür­digung seiner großen Ori­gi­na­lität und seines Talents als Wirtschaftswissenschaftler.
[1] Hla Myint, Theories of Welfare Eco­nomics (London, U.K.: Longmans, Green and Co. 1948): 12.
[2] „Aber für die vor­her­ge­hende Gene­ration von Wirt­schafts­wis­sen­schaftlern waren inter­in­di­vi­duelle Ver­gleiche des Nutzens fast unum­stritten; für einen Mann wie Edge­worth, der in der uti­li­ta­ris­ti­schen Tra­dition ver­wurzelt war, war der indi­vi­duelle Nutzen – nein, der soziale Nutzen – so real wie seine Mor­gen­mar­melade. Und Mar­shall kannte beim Kon­su­men­ten­über­schuss nur die Plu­ralform.” Paul Samu­elson, Foun­da­tions of Eco­nomic Ana­lysis (Cam­bridge, Mass.: Harvard Uni­versity Press, 1947): 225.
[3] Vil­fredo Pareto, Manual of Poli­tical Economy (New York: Augustus M. Kelley, [1906] 1971).
[4] Jeffrey Her­bener, „The Pareto Rule and Welfare Eco­nomics” Review of Aus­trian Eco­nomics 10 (1997): 86.
[5] Abram Bergson, „A Refor­mu­lation of Certain Aspects of Welfare Eco­nomics”, Quar­terly Journal of Eco­nomics 70, no. 2 (February 1938): 310–34.
[6] Paul Samu­elson, Foun­da­tions of Eco­nomic Ana­lysis (Cam­bridge, Mass.: Harvard Uni­versity Press, 1947): 219–229.
[7] Die Vor­ge­hens­weise ist analog zur Ermittlung des opti­malen Kon­sum­gü­ter­pakets für die Nut­zen­funktion einer Person unter Bud­get­be­schränkung. Nur, dass anstelle der Indif­fe­renz­kurve eines Indi­vi­duums und einer Bud­get­be­schränkung eine soziale Indif­fe­renz­kurve am Schnitt­punkt mit einer soge­nannten Nut­zen­mög­lich­keits­kurve maxi­miert wird ähnlich einer Produktionsmöglichkeitskurve.
[8] Kenneth Arrow, Social Choice and Indi­vidual Values, 2nd ed. (New York: John Wiley and Sons. [I951] 1963).
[9] Dem Modell des per­fekten Wett­be­werbs liegen drei Annahmen zu Grunde: Alle Akteure sind Preis­nehmer, d.h. sie können den Markt­preis nicht beein­flussen, Trans­ak­ti­ons­kosten gibt es nicht und ein Produkt ist bei allen Her­stellern gleich.
[10] Mark Blaug, „The Fun­da­mental Theorems of Welfare Eco­nomics, His­to­ri­cally Con­sidered”, History of Poli­tical Economy 39, no. 2 (2007): 185–207.
[11] John Hicks, „The Foun­da­tions of Welfare Eco­nomics”, Eco­nomic Journal 49, no. 196 (December 1939): 696–712.
[12] David Gordon, „Toward a Decon­s­truction of Utility and Welfare Eco­nomics”, Review of Aus­trian Eco­nomics 6, no. 2 (1993): 103–4.
[13] Jeffrey Her­bener, „Hoppe in One Lesson, Illus­trated in Welfare Eco­nomics”, Pro­perty, Freedom, Society (Auburn, Ala.: Mises Institute, 2016): 301–08.
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Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Arno Stöcker. Der Ori­gi­nal­beitrag mit dem Titel Roth­bardian Welfare Eco­nomics ist am 24.9.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
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Ohad Oster­reicher stu­diert Wirt­schafts­wis­sen­schaften an der Uni­ver­sität Bay­reuth. Als begeis­terter Fan der Öster­rei­chi­schen Schule betreibt er eine große öster­rei­chisch-liberale Online-Community.

Quelle: misesde.org