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Die Illusion der Selbstbestimmung

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In den his­to­ri­schen Rück­blicken auf die DDR, die in den letzten Tagen in den zwangs­fi­nan­zierten Staats­medien aus Jah­res­tags­gründen Kon­juktur hatten, ent­steht oft der Ein­druck, die Bonzen hätten vieles besser und anders machen können. Einige Sto­cherer im Kaf­feesatz der Par­tei­kar­rieren hoben per­sön­liche Erfah­rungen der Über­le­benden der sta­li­nis­ti­schen Säu­berung in den 30er und 40er Jahren als cha­rak­ter­de­for­mierend und ursächlich für ihr Scheitern hervor. Aber es waren ja nicht alle Emi­grierten in Russland. Gestern lief im Fern­sehen eine Fami­li­en­bio­grafie der Braschs, wo sich der Vater Horst in England radi­ka­li­siert hatte. Und wann pries Bertold Brecht Väterchen Stalin? War das nicht gar in den 20ern? Ist die Psy­cho­lo­gi­sierung des sozia­lis­ti­schen Desasters zielführend?
Es gab in der Praxis einige deut­liche Hin­weise wie eng begrenzt der Hand­lungs­spielraum der Statt­halter Moskaus in den ver­schie­denen Volks­re­pu­bliken war, egal ob sie durch die Mühlen der Säu­be­rungen gegangen waren, oder auch nicht. Drei Exempel: Zum Ersten die Been­digung des Prager Früh­lings, zum Zweiten die Ver­hängung des Kriegs­rechts in Polen und zum Dritten der Sturz Ulbrichts.
Die Prager Genossen ver­suchten 1968 lediglich das, was in Moskau seit 1985 unter „Glasnost“ und „Pere­stroika“ betrieben wurde: Das Braten von Schnee­bällen, wie der Essayist Leszek Koła­kowski die Ver­suche nannte, den Staats­so­zia­lismus zu demo­kra­ti­sieren. Dem Dik­tator Breshneff gefiel der Prager Frühling gar­nicht und er ließ ein­mar­schieren und „nor­ma­li­sieren“, wie die Wie­der­her­stellung des Ancien Regime in Prag gehießen wurde. Auch die Bildung einer Gewerk­schaft in Polen 1980 wurde nicht geduldet. General Jaru­selski kam den Russen zuvor und ver­hängte das Kriegs­recht. Was vielen Leuten nicht so präsent ist: Der Ost­ber­liner Statt­halter Ulb­richt ver­suchte am Ende der 60er Jahre das System der Plan­wirt­schaft zu fle­xi­bi­li­sieren, um den dro­henden Nie­dergang zu ver­lang­samen. Diese Idee kam ihm auch erst am Ende seiner Kar­riere, wie der fol­gende skurrile Ton­schnipsel zeigt:
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In den 1960er Jahren stieß vor allem Prof. Harry Nick Debatten um ein neues öko­no­mi­sches System der Planung und Leitung der Volks­wirt­schaft an, eines zag­haften Ver­suchs einer Wirt­schafts­reform. Die Kate­gorien der Geld­wirt­schaft wie Preis und Zins wurden im Sozia­lismus durch eine Flut von Sur­ro­gaten in Gestalt will­kürlich kon­stru­ierter „öko­no­mi­scher Hebel“ ersetzt. So war eine Men­gen­steuerung über Preis­si­gnale nicht mehr möglich und letztlich auch nicht gewollt. Dieses Dilemma wollte Ulb­richt in der zweiten Hälfte der 60er in homöo­pa­thi­schen Ver­ab­rei­chungen auf­lösen, was jedoch in Moskau ruchbar wurde und ein Bau­stein seines Sturzes wurde. Hon­ecker übernahm den Laden 1971 und ver­ab­reichte weiter das Gift, welches man in Moskau für die einzig heils­brin­gende Medizin hielt. Die Moda­li­täten – und der direkte Ein­griff von Breshnjeff – sind in einem Wiki­pedia-Eintrag beschrieben:
Während Ulb­richt mit dem Neuen Öko­no­mi­schen System der Planung und Leitung die Wirt­schafts­po­litik ins Zentrum gerückt hatte, um damit den Aufbau und die tech­no­lo­gische und sys­tem­ori­en­tierte Wei­ter­ent­wicklung der öko­no­mi­schen Basis voran zu bringen, dekla­rierte Hon­ecker die „Einheit von Wirt­schafts- und Sozi­al­po­litik“ zur Haupt­aufgabe und leitete damit einen wirt­schafts­po­li­ti­schen Para­dig­men­wechsel ein. Um sich seines Kri­tikers vor dem VIII. Par­teitag 1971 zu ent­le­digen, wurde Hon­ecker auf einer außer­or­dent­lichen Polit­bü­ro­sitzung am 1. Juli 1970 durch Ulb­richt von der inof­fi­zi­ellen Funktion des Leiters des Sekre­ta­riats des ZK sus­pen­diert. Leonid Bre­schnew ließ ihn diesen nicht mit ihm abge­stimmten Beschluss auf der Polit­bü­ro­sitzung am 7. Juli 1970 rück­gängig machen. Nachdem sich Hon­ecker der Unter­stützung durch die sowje­tische Führung ver­ge­wissert hatte, unter­schrieben 13 von 20 Mit­gliedern und Kan­di­daten des Polit­büros einen unter Hon­eckers Feder­führung ver­fassten und auf den 21. Januar 1971 datierten Brief an Bre­schnew, in dem sie Ulb­richts Absetzung for­derten. Am 26. April 1971 fuhr Hon­ecker, begleitet von mit Maschi­nen­pis­tolen bewaff­neten Per­sonen der „Haupt­ab­teilung Per­so­nen­schutz“ zum Som­mersitz Ulb­richts nach Groß Dölln. Dort ließ er alle Tore und Aus­gänge besetzen, die Tele­fon­lei­tungen kappen und zwang Ulb­richt, ein Rück­tritts­gesuch an das Zen­tral­ko­mitee zu unter­schreiben. Hon­ecker wurde am 3. Mai 1971 als Nach­folger Ulb­richts Erster Sekretär (ab 1976 Gene­ral­se­kretär) des Zen­tral­ko­mitees der SED. 
Polen, die Tsche­cho­slo­wakei, Ungarn und die DDR waren in allen Ent­schei­dungen, ins­be­sondere auch was die wirt­schaft­liche Ent­wicklung betraf nicht sou­verän. Die Satrapen mussten jeden Morgen die Prawda lesen, um sich zu ori­en­tieren. Als der Druck aus dem Kreml 1986 endlich nachließ, waren die Volks­wirt­schaften gegenüber den west­lichen nicht kon­kur­renz­fähig. Die Kom­mu­nisten in War­schau und Budapest nahmen selbst den Hut, die in Berlin und Prag wurden wegdemonstriert.
Mit dem Geset­zeswust der Plan­wirt­schaft wurden die Völker binnen weniger Wochen spielend fertig, als die Sol­daten der Sowjet­armee abzogen waren. Das neue Problem nach 1990 wurde die Dominanz eta­blierter Betriebe von der West­seite des eisernen Vor­hangs, was inzwi­schen jedes Jahr gewaltige Gewinn­transfers nach Westen ver­ur­sacht. Skoda gehört VW, Pil­sener Urquell den Japanern, Ikarus wurde ein Teil von Iveco und ging pleite, von Pen­tacon und Robotron spricht heute kein Mensch mehr, nur Per­gamon gibt es noch. Suche im Osten mal eine größere Bank, die ihren Stammsitz nicht im Westen hat.

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Die glo­ba­lis­ti­schen Eliten haben eine einzige Angst: Dass man sich erinnert, dass das Haupt­problem der zwi­schen 1945 und 1990 exis­tie­renden Satel­li­ten­staaten nicht die Lehren eines bär­tigen Rum­pel­stielz­chens aus Trier waren, sondern blanke nationale Unter­drü­ckung. Und dass der Osten heut­zutage eine gleich­be­rech­tigte Teilhabe am Wirt­schafts­leben ein­fordert. Längst zemen­tiert die EU mit klein­tei­liger Bevor­mundung und Regu­lierung die Dominanz der bestehenden Unordnung und die Auf­recht­erhaltung der Ungleich­ge­wichte. Seit 1990 haben sich in 30 Jahren nur sehr wenige Groß­un­ter­nehmen neu eta­bliert. Im Westen übrigens eben­so­wenige als im Osten. Letztlich eine Folge erstickten Wett­be­werbs und im Büro­kra­tenwust erwürgter Inno­vation. Wenn man mal ver­gleicht, wie­viele Betriebe am Ende der schwach regu­lierten Sat­telzeit bis 1910 ent­standen, und wie­viele in der Zeit des eng­ma­schig büro­kra­ti­sierten Staats­so­zia­lismus danach, erschließt sich das Rätsel des zuneh­menden euro­päi­schen wie ins­be­sondere auch des ost­eu­ro­päi­schen Rückstands.
Eine ehr­liche Dis­kussion über nationale Unter­drü­ckung gehört auf die Tages­ordnung, denn die EU spielt inzwi­schen längst die­selbe Rolle wie der unter­ge­gangene Rat für gegen­seitige Wirt­schafts­hilfe. War letz­terer ein Instrument Moskaus, um Res­sourcen für die Auf­rüstung zu mobi­li­sieren, ist die EU seit ihrer Gründung die Ver­tretung der west­lichen Eta­blierten, die mit Hilfe turmhoch auf­ge­bauter Markt­ein­tritts­bar­rieren darüber wachen, daß keine Kon­kurrenz mehr aufkommt.
Viel­leicht werden sich His­to­riker und Jour­na­listen eines Tages damit beschäf­tigen, wie EU-Beamte in den Genick­schuß­an­lagen der Nor­mungs­aus­schüsse kon­di­tio­niert wurden. Wie abweich­le­rische Kom­missare von grünen Hexen­jägern denun­ziert und kalt­ge­stellt wurden. Wie Cha­raktere durch Angst und Kor­rum­pierung defor­miert wurden.  Wie in einem Klima der Anpassung, der För­der­geldjagd und des Kon­for­mismus jeg­licher Unter­neh­mer­geist erstickt wurde.
Ein­ge­schränkte Sou­ve­rä­nität hat sehr viele Facetten: mili­tä­rische, kul­tu­relle, reli­giöse, öko­no­mische, cha­rak­ter­liche und intel­lek­tuelle. Sie ist aber vor allem eine Macht­frage. Und die poli­tische Macht kommt gemäß den Lehren von Mao aus den Gewehrläufen.

Quelle: prabelsblog.de