Gelb­westen in Deutschland? – Aus­ge­grenztes Bürgertum

Das Kochen der Volksseele
Jeder poli­tisch halbwegs Ori­en­tierte weiß, dass die Volks­seele in Frank­reich lodernder kocht als in Deutschland. Frank­reich, um es anders zu aus­zu­drücken, hat eine radi­kalere Pro­test­kultur als wir. „Das Volk“ dort steht in der Tra­dition der Fran­zö­si­schen Revo­lution, das deutsche Volk eher in der Kultur von Befehl und Gehorsam – will heißen: Die Deut­schen sind obrig­keits­furcht­samer als unsere Nachbarn.
Dies hat sich im gerade ablau­fenden Jahr wieder einmal bewiesen: Die „Gelb­westen“ haben die fran­zö­si­schen Oberen das Fürchten gelehrt. Der „große Umsturz“ blieb zwar aus, aber die Stra­ßen­kämpfe hin­ter­ließen schmer­zende Wunden. Und: Es war mehr als ein Schock; denn es offen­barte (wieder einmal) die Kluft zwi­schen Volk und Herrschenden.
Die Bewegung hat zwar letztlich ihr Ziel ver­fehlt, sich als poli­tische Kraft zu for­mieren, aber die Gelb­westen haben Prä­sident Macron zu einem Kurs­wechsel und damit zu einem neuen Dialog mit den Bürgern gezwungen. So diffus ihre For­de­rungen auch waren:
Die Pro­teste der Gelb­westen gegen die Reform­po­litik von Emmanuel Macron haben Frank­reich ver­ändert. Sie haben dem Land gezeigt, wie groß die Ent­fremdung zwi­schen Prä­sident und Bevöl­kerung inzwi­schen ist und wie viele sich von der Regierung in Paris und von Europa allein gelassen fühlen.
Die Gelb­westen haben der abge­hängten Provinz eine Stimme gegeben und eine ver­borgene Seite Frank­reichs sichtbar gemacht, nämlich die der ver­armten Mit­tel­schicht ins­be­sondere im länd­lichen Raum – ein ver­ar­mendes Bürgertum.
Übrigens in Frank­reich das gleiche Bild wie in Deutschland: Das „Bild vom Volk“ ist bei den Regie­renden offenbar geprägt von den Städten, und man glaubt, „das Land“, die Land­be­völ­kerung, nicht berück­sich­tigen zu müssen. Die Groß­städte scheinen den Fort­schritt gepachtet zu haben.
In Frank­reich wäre dies in den letzten Monaten beinahe ins Auge gegangen. In Deutschland steht uns das noch bevor. Denn ein Jahr nach dem Beginn der Unruhen in Frank­reich sind die sozialen, geo­gra­phi­schen und poli­ti­schen Risse längst nicht gekittet. Im Gegenteil, sie haben anste­ckend gewirkt. Es gibt sie nicht nur in Frank­reich, sondern in vielen west­lichen Demo­kratien. Und das ist nicht nur auf die zuneh­mende Ent­fremdung bzw. die wach­sende Isla­mi­sierung zurückzuführen.
Es ist ein Problem von großer öko­no­mi­scher, sozialer und ideo­lo­gi­scher Trag­weite, das aller­dings an den „sozialen Brenn­punkten (sic!) durch die Über­fremdung ver­stärkt wird. Insoweit ist das Phä­nomen der Gelb­westen eine Warnung für ganz Europa.
So lebt die Regierung auch ein Jahr nach dem Beginn der Gelb­westen-Bewegung in stän­diger Furcht vor einem erneuten Auf­flammen der sozialen Pro­teste. Vor allem aber befürchtet sie eine „Koalition der Unzu­frie­denen“ – eine sich per­p­etu­ie­rende Mas­sen­be­wegung, die irgendwann Einzug in die Politik halten könnte.
Denn die Gelb­westen-Bewegung hat eines besonders deutlich gezeigt: Sie hat das Stadt-Land­ge­fälle scho­nungslos offen­gelegt z.B. bei den feh­lenden öffent­lichen Dienst­leis­tungen in großen Teilen des Landes und die Kon­zen­tration der meisten poli­ti­schen Gestal­tungs­in­stru­mente auf einige wenige Groß­räume – besonders Paris.
Auf­kei­mende Unzu­frie­denheit in Deutschland
Was in Frank­reich brutal auf­brach, keimt in Deutschland erst noch langsam, ist aber nicht mehr zu über­hören. Unzu­frie­denheit mit den Inter­net­ver­bin­dungen – 5000 Gemeinden sind z. B. noch ohne schnelles Internet und/oder haben man­gelnde Ver­kehrs­ver­bin­dungen, ganze Land­striche bestehen ohne aus­rei­chende Ein­zel­han­dels­struk­turen usw.
Ganz deutlich wird die Ver­nach­läs­sigung des länd­lichen Raumes hier­zu­lande bei der Umwelt­po­litik. Mit einer an Ignoranz nicht zu über­bie­tenden Chuzpe werden Wind­spargel in eine bisher „blü­hende Land­schaft“ gesetzt, werden neue Kfz-Stan­dards gefordert und ein­ge­führt (Stichwort z. B. „Diesel“), die weitab von den finan­zi­ellen Mög­lich­keiten auf dem Land sind. „Mobil sein“ wird gefordert, aber bitte nur mit öffent­lichen Verkehrsmitteln.
Keinen Poli­tiker scheint es zu scheren, dass Ver­bin­dungen von Klein­stadt zu Klein­stadt oder gar von Dorf zu Dorf und/oder Stadt, wenn über­haupt, dann nur mit großen Zeit­lücken bestehen.
Kleines Bei­spiel: Ich wohne in einem absolut ländlich struk­tu­rierten Raum (Wes­terwald). Viele Dörfer in der näheren Umgebung ver­zeichnen zw. 300 und 800 Ein­wohner. Hier gibt es Orte, die ent­weder gar nicht oder nur zweimal am Tag von einem Bus ange­fahren werden, und wo Zug­ver­bin­dungen gar nicht erst exis­tieren. Viele kleine Kom­munen helfen sich (bzw. den Bürgern) mit „Sam­mel­taxis“. Und wenn die Ver­nach­läs­sigung des ÖPNV auf dem Land so wei­tergeht, werden wir irgendwann in süd­ame­ri­ka­ni­schen oder asia­ti­schen Lösungen landen: Colec­tivos, Conchos oder „Sam­mel­taxis auf Zuruf“. In der nächsten Groß­stadt fahren derweil kom­for­table, geheizte Busse im Zehn-Minu­tentakt, deren Service aber am Stadtrand endet.
Die Grünen schüren das unso­ziale Feuer
Beim (bemühten) Umwelt­schutz zeigt sich die ganze Abge­ho­benheit der Grünen. Sie schüren das unso­ziale Feuer! Es ist leicht, For­de­rungen gegen die Umwelt­ver­schmutzung zu erheben, aber bei der Frage nach der Bezahlung neuer Belas­tungen sind die „Gut­si­tu­ierten“ fein raus.
Eine CO2-Steuer trifft vor allem die kleinen Leute besonders hart, nämlich die, die keine neuen Autos kaufen können, oder es trifft Men­schen, die in schlecht iso­lierten Woh­nungen leben. Da sagt jetzt der Sach­ver­stän­di­genrat zwar, das müsse sozial abge­federt werden, aber Sylvia Kotting-Uhl, die Ener­gie­ex­pertin der Grünen und Vor­sit­zende des Umwelt­aus­schusses im Bun­destag, erklärte im Deutsch­landfunk völlig unge­niert, wir bräuchten uns da keine Illu­sionen zu machen:
O‑Ton Kotting-Uhl: „Ver­än­de­rungen tun erst mal weh. Das muß man aus­gleichen, das muß man abfedern, aber zu ver­suchen, es sozu­sagen ohne Ein­schnitte fer­tig­zu­bringen, die CO2-Ziele zu erreichen, das ist eine Fehlannahme (…)
…Als Wirt­schafts­macht sollte Deutschland dabei Vorbild für andere sein (…)
…Wenn man die CO2-Bepreisung erhöht oder CO2-Preise ein­führt, heißt das in der Tat, Benzin und Die­sel­preise, Heizöl und Heiz­kosten erhöhen sich, und das führt in der Tat dazu, daß auch ein­kom­mens­schwache Haus­halte hier Belas­tungen haben…“ (DLF 12.7.19)
Klar, wem die Träume und Wünsche, ja die kon­kreten Vor­haben der Grünen wehtun: nämlich den Leuten, die jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Aber den (typi­schen) bes­ser­ver­die­nenden Grünen juckt das nicht.
Ver­bohrte, igno­rante Grüne
Nur mal kurz zur Erin­nerung, worüber es hier in diesem Artikel vor allem geht: zum Bei­spiel um die Benach­tei­ligung des Landes gegenüber der Stadt – oder genauer: „Grüner“ Stadt­blick versus „kleiner Mann auf dem Lande“.
Da hören sich die Äuße­rungen der Grünen wie eine direkte Ver­höhnung der Bürger an. Auf die Frage des DLF:
„Selbst wenn in Deutschland von jetzt auf gleich quasi gar kein CO2 mehr emit­tiert werde, was natürlich nur rein theo­re­tisch das Gedan­ken­spiel ist, das würde doch nichts daran ändern, daß die Welt, daß global wir weiter natürlich auf diesen Kipp­punkt, von dem die For­scher ja sprechen, zulaufen. Daß der schon in näherer Zukunft erreicht sein könnte, daran würde sich doch global über­haupt nichts ändern“ (DLF-Redakteur), ant­wortet Kotting-Uhl (Grünen-MdB):
„Das kann so sein. Es kann aber auch anders sein. Wenn ich an die Dinge jetzt noch mal erinnern darf, die ich gerade auf­ge­führt habe, zum Bei­spiel auch Frei­han­dels­ab­kommen danach aus­zu­richten, das Vorbild zu nutzen, als starke Wirt­schafts­kraft zu zeigen, daß es den Men­schen nicht schlechter geht, daß sich Dinge ver­ändern, daß sich Mobi­lität zum Bei­spiel ver­ändern wird, daß sich unsere Art der Land­wirt­schaft ver­ändern muß, aber daß es den Men­schen deshalb nicht schlechter geht, und wenn Wirt­schaft sich umstellt, es auch der Wirt­schaft nicht schlechter geht. Das zu zeigen als wirt­schafts­starke Kraft in der Welt, das kann eher dazu bei­tragen, als wenn wir jetzt wieder jah­relang ver­handeln und dann irgendwann (2030 wird nicht reichen) einen aus­ge­wei­teten Emis­si­ons­handel haben, der dann wahr­scheinlich auch erst wieder zögerlich greift. Dann wird nicht nur Deutschland seine Ziele ver­fehlen, wie wir das ja 2020 defi­nitiv tun und even­tuell auch 2030, wenn wir jetzt nicht vor­an­gehen, sondern dann werden auch andere Länder die Ziele nicht erreichen.“ 
Ein uner­träg­liches Gestammel von oben herab!
Frank­reich schien zu lernen
Die Frau kann (noch) froh sein, deutsche Abge­ordnete zu sein. In Frank­reich ist der Ton schärfer. Der Prä­sident hat unter dem Ein­druck bren­nender Auto­reifen an den Ver­kehrs­kreiseln, zer­trüm­merter Fens­ter­scheiben und geplün­derter Geschäfte Zuge­ständ­nisse gemacht. Die Steu­er­erhöhung auf Diesel und Benzin wurde zurück­ge­nommen, für Gering­ver­diener gab es mehr staat­liche Zuschüsse, und es sind Dis­kus­sionen im Gange, wie die Steu­erlast für Durch­schnitts­ver­diener gesenkt werden kann.

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Der unnahbar wir­kende Prä­sident sah sich gar gezwungen, eine Charme­of­fensive zu starten. Er tin­gelte durchs Land. „Grand Debat“ nannte sich die Zuhörtour, die die Gemüter beru­higen sollte. Das ist gelungen, die Pro­teste sind abgeebbt. Aber es ist und bleibt eine trü­ge­rische Ruhe, denn die Pro­bleme sind ja nicht vom Tisch.
Da Macron immer noch über­zeugt zu sein scheint, das Richtige zu tun, bastelt er weiter an grund­le­genden Ände­rungen der Renten- und Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung. Dagegen haben die Gewerk­schaften bereits lan­des­weite Streiks ange­kündigt. Aller­dings haben es die Gelb­westen bislang abge­lehnt, sich von anderen Inter­es­sen­gruppen, sei es Gewerk­schaften oder Par­teien, ver­ein­nahmen zu lassen, weil sie sich eben nicht als Teil des Systems verstehen.
Viele „Gilets Jaunes“ hatten gehofft, dass es in Frank­reich – aus­gelöst durch ihren Protest – zu einer Reflexion über das poli­tische System kommen würde. Eine Debatte, die letzt­endlich zu mehr Betei­ligung und zu mehr direkter Demo­kratie hätte führen sollen.
Noch ist es nicht so weit. Für die Gelb­westen, die nach mehr sozialer Gerech­tigkeit rufen, wird aber immer klarer: Sie müssen ihre For­de­rungen irgendwie in poli­tische Bahnen lenken. Sie müssen sich des poli­ti­schen Systems bedienen, wenn Sie Erfolg haben möchten.
Was das heißt, dürfte auch uns zu denken geben.
Schluss mit der Abge­ho­benheit, der Ent­schei­dungen in Hin­ter­zimmern, der Aus­grenzung von Anders­den­kenden – und vor allem des blinden Vor­rangs der Öko­logie vor der Öko­nomie! Und da kommen wir der deut­schen Wirk­lichkeit ein bisschen näher; denn auch hier ist der Unmut greifbar. Noch ist er eher gedämpft – der (kaum gepflegten) deut­schen Pro­test­kultur ent­spre­chend. Aber das kann sich auch mal ändern. Die Stimmung nach einer Alter­native, nach einem Wechsel des Systems ist greifbar geworden. Und das gilt nicht nur dem Über­druss an Merkel.
Zuge­geben, wir haben keinen Macron, auf den man den Ärger lenken könnte. Und zuge­geben, DER Deutsche ist kein Revo­lu­tionär. Er würde gewiss aus Ver­zweiflung eine Revo­lution behördlich anmelden und eine Ein­tritts­karte dazu erwerben. Aber phy­sisch pro­tes­tieren? Auf der Straße? Noch nicht!
Irgendwann jedoch wird es wieder heißen: Wir sind das Volk! Wenn wir uns dessen nur endlich mal bewusst würden! (Allons, enfants de la patrie…!)

Dieser lesens­werte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com