Über MH17 habe ich in meinem Buch über die Ukraine-Krise ausführlich geschrieben und das Kapitel auch als Leseprobe hier veröffentlicht. Da das Kapitel jedoch fast 70 Seiten umfasst, habe ich auch eine Kurzzusammenfassung geschrieben, die Sie hier finden.
Die Frage ist also, was es nun tatsächlich Neues gibt. Antwort: In der Sache gar nichts, aber der Reihe nach.
Die Niederlande haben ein Problem. Der ermittelnde Staatsanwalt Westerbeke hat sich entschieden, Anklage wegen MH17 gegen vier Personen zu erheben, die er aber gar nicht in Gewahrsam hat. Entgegen allen Meldungen der westlichen Medien gibt es keine belastbaren Belege für die Schuld von irgendwem. Der Untersuchungsbericht der Ermittler gibt zur Schuldfrage nichts her. Und so stützt sich die Anklage von Westerbeke im Wesentlichen auf angeblich abgehörte Telefonate, die er vom ukrainischen Geheimdienst SBU bekommen hat. Deren Echtheit ist aber fraglich.
Die Ukraine ist Partei in dem Fall und sehr daran interessiert, Russland die Schuld zu geben. Nicht nur aus Prinzip, weil Kiew Russland als Feind ansieht, sondern auch aus praktischen Gründen. Das Unglück geschah im ukrainischen Luftraum, für dessen Sicherheit die Ukraine verantwortlich ist. Sie hätte den Luftraum über dem Kriegsgebiet sperren müssen, wenn er nicht mehr sicher gewesen wäre. Und das war er nicht, weil nur Tage vor dem Unglück eine ukrainische Militärmaschine in 6.000 Meter Höhe abgeschossen worden ist. Und Luftabwehrraketen, die 6.000 Meter hoch schießen können, kommen auch noch höher.
Es geht dabei nicht nur um die moralische Schuld, sondern auch um viel Geld. Sollte die Ukraine deswegen Verantwortung tragen, dann hätten die Hinterbliebenen der Opfer Anspruch auf Schadenersatz. Es geht um viele Millionen und die Ukraine ist ein bankrotter Staat, für den das viel Geld wäre.
Nun haben die Ermittler (nicht der Staatsanwalt, das sind zwei verschiedene Dinge) erneut abgefangene Telefonate veröffentlicht. Die Quelle wird nicht angegeben, aber es dürfte sich wieder um den SBU handeln, der schon oft mit falschen Beweisen versucht hat, Punkte zu machen. Die „beste“ Meldung des SBU war im September 2014 ein angeblicher russischer Angriff mit Atomwaffen im Bürgerkriegsebiet, den ein ukrainischer Minister dann auch noch an die große Glocke gehängt hat.
Dieses mal geht es um Telefonate. Der SBU hat auch schon viele später als Fälschung entlarvte Telefonate veröffentlicht. Auch die Echtheit der aktuellen Telefonate wurde von niemandem bestätigt. Und entgegen den Überschriften der Medien sagen die Mitschnitte noch nicht einmal etwas über MH17 aus. Sie sollen stattdessen belegen, dass Moskau die Rebellen steuert und kontrolliert. Frei nach dem Motto: Moskau kontrolliert sie, also ist Moskau an allem Schuld.
Nur: Selbst wenn wir annehmen, dass Moskau die Rebellen kontrolliert, sagt das noch nichts über die Schuldfrage bei MH17 aus. Es ist nämlich keineswegs erwiesen, wer die Rakete abgefeuert hat, die das Flugzeug vom Himmel geholt hat. Sowohl die Rebellen hatten solche Raketen, als auch die Ukrainer. Die Rebellen haben Buk-Raketen aus ukrainischen Beständen erobert und die Ukraine hat sie sowieso. Mehr noch: Die Ermittler haben im Mai 2018 bekannt gegeben, sie hätten die Seriennummer der betreffenden Rakete identifiziert. Nur wüssten sie nicht, was sie bedeutet.
Russland hat daraufhin im September 2018 die Geheimhaltung aufgehoben und die Bedeutung der Zahlen erklärt. Demnach handelt es sich um eine Rakete, die 1986 produziert worden ist, dann in die Ukraine (damals noch Teil der Sowjetunion) transportiert und dort in Dienst gestellt wurde. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Rakete demnach in die Bestände der ukrainischen Armee übergegangen.
Nun muss man dieser russischen Darstellung nicht glauben. Aber es wäre an Kiew, dem zu widersprechen und das zu belegen. Aber da die Medien zu dem Thema keine Fragen stellen – die westlichen Medien haben darüber ja nicht einmal berichtet – muss Kiew sich auch nicht äußern und muss keinerlei medialen Druck befürchten. Kiew schweigt zu der Frage und niemand stellt Fragen.
Für den Spiegel durfte der Leiter des Moskauer Büros, Christian Esch, nun über die neuesten Entwicklungen schreiben und er hat alle Register der Propaganda gezogen. Wie gesagt hat Staatsanwalt Westerbeke Anklage gegen vier Männer erhoben, drei Russen und einen Ukrainer. Im Spiegel steht jedoch folgendes über den anstehenden Prozess:
„Aber es nicht einfach, einen Prozess zu führen, wenn der Hauptverdächtige ein ganzer Staat ist – Russland.“
Das dürfte auch für Westerbeke neu sein und ich bin sicher, dass er dem Spiegel einen Dankesbrief schreiben wird, weil er nun endlich weiß, wen er eigentlich angeklagt hat. (Manchmal kann ich mir Sarkasmus nicht verkneifen, wenn ich so plumpe Propaganda lese, sorry)
Danach erst steht im Spiegel:
„Die Ermittler vom „Joint Investigation Team“ (JIT) haben zwar längst rekonstruiert, dass der Abschuss der malaysischen Boeing mit einer Flugabwehrrakete der russischen Armee geschah. Sie haben auch schon vier Verdächtige benannt, darunter drei russische Staatsbürger. Aber Moskau verweigert jede Mithilfe. Das JIT sucht deshalb weiterhin Zeugen und geht deshalb stets aufs Neue mit Material an die Öffentlichkeit.“
Und wieder gelogen. Die Ermittler des JIT haben das nicht rekonstruiert. Das steht in keinem ihrer Untersuchungsberichte. Diese Version kommt von der britischen Plattform Bellingcat, die vom Atlantic Council finanziert wird und immer dann „Belege“ liefert, wenn die Nato sie braucht. Bellingcat ist Experte für syrische Giftgasangriffe, die sich hinterher als Fake herausstellen, für Skripal und eben für MH17.
Und dass Moskau „jede Mithilfe verweigert„, ist ebenfalls gelogen. Moskau wurde von den Ermittlungen ausgeschlossen und protestiert dagegen immer wieder, weil es gerne mitarbeiten würde. Moskau hat alle Anfragen der Ermittler beantwortet, während Holland wichtige Dokumente als geheim eingestuft hat und weder den eigenen Abgeordneten, noch Journalisten Einblick gewährt, obwohl die sogar auf Einsicht geklagt haben.
Auch Malaysia, dessen Flugzeug betroffen ist, das aber nicht treu zum Westen steht, sollte zunächst aus den Ermittlungen herausgehalten werden. Das gelang aber nicht, Malaysia ist Mitglied im JIT. Und Malaysia kritisiert die Ermittlungen heftig. Dort sagt der Premierminister offen, dass es keinerlei Beweise gegen Russland gibt und dass die Ermittlungen nie objektiv waren, sondern von vorneherein das Ziel hatten, Russland zu beschuldigen. Und weil MalaysiaTeil des JIT ist, kennt es die Internas.
Aber da der Spiegel-Leser von all dem nichts weiß, kann der Spiegel fröhlich weiterhin seine Linie fahren. Und so schreibt Herr Esch für den Spiegel aus Moskau den langen Artikel, in dem er auf die neuen Telefonmitschnitte eingeht, die alle Russland in ein schlechtes Licht stellen. Und wie immer lohnt es sich, einen Spiegel-Artikel bis zum Ende zu lesen. Um den Vorwurf der „Lügenpresse“ zu vermeiden, kommt am Ende meist ein entscheidender Teil Wahrheit, in der Hoffnung, dass viele es gar nicht bis zum Ende lesen. Und selbst wenn, der Leser ist vorher in dem langen Artikel auf die gewünschte Linie eingeschworen worden und dürfte folgendes überlesen:
„Die Echtheit der Aufnahmen ist nicht bestätigt worden“
Und obwohl die westlichen Medien in den Überschriften einen Zusammenhang zwischen diesen Mitschnitten und MH17 herstellen, steht davon nichts in dem Artikel. Es wird zwar wortreich der Eindruck erweckt, sie hätten etwas mit MH17 zu tun, aber wer den Artikel nüchtern liest, der stellt fest, dass es dabei um alles Mögliche geht, aber nicht um MH17. Aber diese Tatsache, die ein aufmerksamer Leser selbst feststellen kann, wird im letzten Absatz als russische Behauptung dargestellt:
„Dafür schreibt ein Kriegskorrespondent auf der Webseite des kremlnahen Massenblattes „Komsomolskaja Prawda“: Er könne über die Echtheit der Aufnahmen nichts sagen, aber „keine Sekunde des Veröffentlichten wirft Licht auf den Abschuss von MH17″.“
Das ist objektiv die Wahrheit.
Bleibt noch zu erwähnen, dass in dem Artikel wieder das „Multimedia-Spezial“ verlinkt ist, dass beruhend auf den Aussagen von Bellingcat beschreibt, wie die Rakete angeblich aus Russland gekommen ist. Aber der Spiegel schreibt dort einleitend, dass das Multimedia-Spezial auf Recherchen des Spiegel und einer holländischen Zeitung beruht.
Für die „Qualitätsjournalisten“ des Spiegel bedeutet Recherche offensichtlich, die „Erkenntnisse“ eines von einem US-Think Tank bezahlten Briten abzuschreiben und als eigene „Recherche“ zu bezeichnen.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“