Wenn alle Völker liberale Politik machen, werden sie in Frieden leben

Die land­läufige Meinung will die Wurzel der Kon­flikte, die die Men­schen heute in Bür­ger­kriege und Staa­ten­kriege treiben, in «wirt­schaft­lichen» Inter­es­sen­ge­gen­sätzen erblicken, die in der Markt­ge­sell­schaft unent­rinnbar sind. Im Bür­ger­krieg erheben sich die «aus­ge­beu­teten Klassen» gegen die Klassen der Aus­beuter. Im Staa­ten­krieg kämpfen die Völker, die bei der Teilung der Erde und ihrer Schätze zu kurz gekommen sind, gegen die, die mehr an sich gerissen haben, als ihnen zukommt. Wer heute für Libe­ra­lismus, Demo­kratie und Frieden ein­zu­treten wagt, wird als Ver­tei­diger einer die gerechten Ansprüche der Mehrheit der Men­schen schä­di­genden Welt­ordnung gebrand­markt. Denn es sei doch offen­kundig und könne von Gut­gläu­bigen gar nicht bestritten werden, dass die Welt voll sei von schweren Inter­es­sen­kon­flikten, die nur durch die Waffen aus­ge­tragen werden könnten. Wenn man von Har­monie der Inter­essen spreche und Frieden emp­fehle, müsse man ent­weder ein Narr oder ein bewusster Anwalt jener eigen­süch­tigen Son­der­in­ter­essen sein, die fürchten, durch den Sieg der gerechten Sache zu verlieren.

(von Ludwig von Mises)

Es ist freilich wahr, dass in der Welt, in der wir leben, Inter­es­sen­kon­flikte bestehen, die zu Kriegen treiben. Doch diese Kon­flikte ent­springen kei­neswegs dem Getriebe der Markt­wirt­schaft. Man kann diese Kon­flikte als wirt­schaft­liche bezeichnen, weil sie dem Umkreis des Lebens ange­hören, den man wirt­schaftlich zu nennen pflegt, doch man darf aus dieser Bezeichnung nicht etwa den Schluss ziehen, dass sie Inter­es­sen­ge­gen­sätzen ent­stammen, die die unbe­hin­derte Markt­wirt­schaft her­vor­kommen lässt. Ihre Quelle ist nicht die Markt­wirt­schaft, sondern gerade Pri­vi­legien und Ein­griffe, durch die die staat­lichen Gewalt­ap­parate den Gang der Markt­wirt­schaft hemmen. Das bedeu­tendste Pri­vileg dieser Art ist das durch die Wan­de­rungs­be­schrän­kungen für die Arbeiter der relativ unter­völ­kerten Länder geschaffene Vor­recht, das den Bevor­rech­teten die Errei­chung höherer Löhne ermög­licht und die Benach­tei­ligten zwingt, sich mit nied­ri­geren Löhnen zufrieden zu geben. Die höhere Lebens­haltung der Arbeiter in den Ländern, die güns­tigere natür­liche Pro­duk­ti­ons­be­din­gungen auf­weisen, wird durch Her­ab­drü­ckung der Lebens­haltung der Arbeiter in den Ländern ungüns­ti­gerer Pro­duk­ti­ons­be­din­gungen erkauft. Überdies wird die Gesamt­pro­duk­ti­vität der mensch­lichen Arbeit her­ab­ge­setzt; ein Teil der Pro­duktion wird an Stand­orten fest­gelegt, die bei Frei­zü­gigkeit der Arbeiter nicht ver­wendet werden würden, weil noch an güns­ti­geren Stand­orten Raum für die Aus­weitung der Pro­duktion vor­handen ist.

Man denke sich die Welt als ein ein­ziges Markt­wirt­schafts­gefüge, in dem das Markt­ge­triebe durch kei­nerlei Maß­nahmen behindert wird, die es dem Ein­zelnen ver­wehren, sich als Unter­nehmer, Eigen­tümer oder Arbeiter so zu betä­tigen, wie er es für zweck­mäßig erachtet, und man frage, welche von den soge­nannten wirt­schaft­lichen Kon­flik­t­ur­sachen in einer so beschaf­fenen Welt­ordnung übrig­bleiben würde. Man stelle sich doch vor, was es bedeuten würde, wenn alle Men­schen und alle Güter volle Frei­zü­gigkeit genießen würden, wenn überall auf Erden das Son­der­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln streng durch­ge­führt wäre, wenn kein Staat und kein Gericht einen Unter­schied zwi­schen Ein­hei­mi­schen und Fremden machen würden, wenn es daher für jedermann gleich­gültig wäre, wo die Grenzen zwi­schen den ein­zelnen Staats­ge­bieten laufen.

Alle jene Kon­flikte zwi­schen den Staaten und Völkern, die man als wirt­schaft­liche zu bezeichnen pflegt, ent­springen nicht Inter­es­sen­ge­gen­sätzen, die im Innern eines Markt­wirt­schafts­ge­füges unver­söhnbar auf­treten, sondern den Bestre­bungen, das markt­wirt­schaft­liche System mensch­licher Koope­ration durch eine andere Ordnung zu ersetzen. Nicht weil es auf dem Markte zu unüber­brück­baren Gegen­sätzen der Inter­essen kommen muss, sondern weil man aus poli­ti­schen Gründen die Markt­wirt­schaft hemmen und besei­tigen will, gibt es Kon­flikte. Das Schlagwort vom Primat der Politik gegenüber der Wirt­schaft weist auf diesen Sach­verhalt hin, wenn es ihn auch nicht in befrie­di­gender Weise aus­drückt. Denn einer­seits ist auch der Libe­ra­lismus, der die Markt­wirt­schaft will, Politik, und ander­seits mag auch die Ordnung der Dinge, die der Anti­li­be­ra­lismus her­stellen will, als Wirt­schaft ange­sehen werden.

Bis zum Durch­bruch des Libe­ra­lismus lebten die Men­schen vor­wiegend von dem, was in der Gegend, in der sie wohnten, aus hei­mi­schen Roh­stoffen erzeugt werden konnte. Die Aus­ge­staltung der inter­na­tio­nalen Arbeits­teilung hat darin radikal Wandel geschaffen. Aus weiter Ferne ein­ge­führte Lebens­mittel und Roh­stoffe sind zu Gegen­ständen des Mas­sen­ver­brauchs geworden. Die Europäer könnten heute nur bei emp­find­licher Her­ab­drü­ckung der Lebens­haltung auf den Bezug von Erzen und Mine­ralien, von Wolle und Baum­wolle, von Kaffee, Tee, Scho­kolade, Pflan­zenfett, Früchten und von vielen anderen Artikeln ihres täg­lichen Ver­brauchs aus den in anderen Welt­teilen gele­genen Pro­duk­ti­ons­stätten ver­zichten. Die Wirt­schafts­ver­fassung des libe­ralen Zeit­alters hat die insti­tu­tio­nellen Bedin­gungen für die Aus­bildung der inter­na­tio­nalen Arbeits­teilung geschaffen, indem sie Schritt für Schritt die Hin­der­nisse, die das Getriebe der Markt­wirt­schaft hemmten, zu besei­tigen suchte. Frei­zü­gigkeit der Men­schen, der Kapi­talien und der Waren haben die Welt des Was­serrads und des Segel­schiffs in die Welt der Elek­tri­zität, des Flug­zeugs und des Rund­funks umgewandelt.

Die Wirt­schafts­ge­staltung des 19. Jahr­hun­derts, die die früher iso­lierten Wirt­schafts­gefüge der ein­zelnen Länder und Welt­teile zum Welt­wirt­schafts­gefüge ver­schmolzen hat, hätte die Auf­hebung der Sou­ve­rä­nität der Ein­zel­staaten erfordert. Man darf nicht etwa behaupten, dass der Libe­ra­lismus in diesem Punkte versagt habe, weil er in sein Pro­gramm nicht auch die Ver­nichtung der poli­ti­schen Unab­hän­gigkeit der Ein­zel­staaten und ihre Unter­ordnung unter die Ober­herr­schaft eines die ganze Erde umspan­nenden Welt­staats auf­ge­nommen hat. Es war im libe­ralen Sinne fol­ge­richtig, die poli­tische Einigung und Befriedung der Menschheit nicht durch die Schaffung eines neuen Zwangs­ap­pa­rates anzu­streben, sondern durch eine Wandlung des Denkens und der Gesinnung. Nicht von außen sollte den Men­schen der Frieden durch Zwang und Waf­fen­gewalt auf­ge­drängt werden; sie sollten friedlich werden durch die Erkenntnis, dass sie ihre mensch­lichen Ziele nur auf fried­lichem Wege erreichen können. Wenn alle Völker, von libe­ralen Ideen durch­drungen, liberale Politik machen, werden sie in Frieden leben und friedlich koope­rieren, auch wenn dem äußeren Anschein nach die Sou­ve­rä­nität der Staaten unbe­rührt bleibt und die Emp­find­lich­keiten und Eitel­keiten der Fürsten und Minister geschont werden. Wie im eng­li­schen Staats­wesen die Formen des könig­lichen Abso­lu­tismus sich als ver­träglich mit demo­kra­ti­scher Par­la­ments­herr­schaft erwiesen haben, so würden auch die Formen ein­zel­staat­licher Sou­ve­rä­nität der poli­ti­schen Einigung der Welt nicht im Wege stehen.

Der Libe­ra­lismus erkannte klar, dass die poli­tische Orga­ni­sation der Welt nur auf Grundlage all­ge­meiner rück­halt­loser Aner­kennung der libe­ralen Ideen möglich ist. Weder der Gedanke, den Welt­staat durch Eroberung und Annexion aller Ein­zel­staaten zu errichten, noch der eines Völ­ker­bundes, der sich nicht auf liberale Ideo­logie stützen kann, können als liberal ange­sehen werden. Wenn aber überall auf Erden das Pro­gramm des Libe­ra­lismus durch­ge­führt wird, ist der Welt­staat auch ohne for­melle Bindung, ohne Welt­bü­ro­kratie und ohne Amts­pa­läste eine Realität.

Der ver­häng­nis­volle Irrtum der Pazi­fisten liegt gerade darin, dass sie das ver­kennen. Der Libe­ra­lismus hätte den ewigen Frieden und die fried­liche Zusam­men­arbeit der Völker und Staaten gebracht, weil in der unbe­hin­derten Markt­wirt­schaft keine Kon­flikte zwi­schen Völkern und Staaten ent­stehen können. Wenn man jedoch die Markt­wirt­schaft hemmt, ent­stehen Kon­flikte, die durch den Zuspruch der Pazi­fisten nicht behoben werden können.

Die Befriedung der Welt, die die libe­ralen Vor­kämpfer des 19. Jahr­hun­derts in greif­barer Nähe wähnten, ist durch die Abkehr der Men­schen vom libe­ralen Denken und Handeln ver­eitelt worden. Frie­dens­liebe, die nicht auf libe­raler Politik auf­gebaut ist, ist blind und ohn­mächtig. Dass die Welt nach der Nie­derlage des Libe­ra­lismus noch eine Reihe von Jahren von großen Kriegen ver­schont blieb, war nur dem alten System des euro­päi­schen Gleich­ge­wichts zu danken. Als dieses System zusam­men­brach, kam das Chaos.

Der Genfer Völ­kerbund ist ein Erzeugnis jenes uto­pi­schen Pazi­fismus, der nicht die Kon­flikte, sondern nur ihre krie­ge­rische Aus­tragung besei­tigen will. Er hätte, auch wenn er besser orga­ni­siert worden wäre, nie das leisten können, was man von ihm erwartet hat. Nicht die Ver­fassung des Völ­ker­bundes ist man­gelhaft; die Idee, die ihm zugrun­de­liegt, ist falsch. Nur liberale Staaten könnten einen Völ­kerbund bilden, der Frieden gibt; wenn aber alle Staaten liberal sind, bedarf es zur Erhaltung des Friedens keines Paktes.

*****

Aus „Natio­nal­öko­nomie. Theorie des Han­delns und Wirt­schaftens“ (1940).

——————–

Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeu­tendste Ökonom und Sozi­al­phi­losoph des 20. Jahr­hun­derts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbe­dingter Achtung des Pri­vat­ei­gentums auf­gebaut sind, und gegen jede Form staat­licher Ein­mi­schung in das Wirt­schafts- und Gesell­schafts­leben geliefert. Seine Werke sind Mei­len­steine der Poli­ti­schen Öko­nomie. Das 1922 erschienene „Die Gemein­wirt­schaft“ gilt als erster wis­sen­schaft­licher und umfas­sender Beweis für die „Unmög­lichkeit des Sozia­lismus“. Sein Werk „Human Action“ (1949) hat bei ame­ri­ka­ni­schen Liber­ta­rians den Rang einer aka­de­mi­schen „Bibel“. Mises war Hoch­schul­lehrer an der Wiener Uni­ver­sität und Direktor der Öster­rei­chi­schen Han­dels­kammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Über­siedlung nach New York, wo er nach wei­teren Jahr­zehnten der Lehr- und Gelehr­ten­tä­tigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.


Quelle: misesde.org