Helmut Golowitsch legt Österreichs bisweilen heuchlerische Südtirolpolitik offen
Ob unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich die Chance für die in vielfachen eindrücklichen Willensbekundungen der Bevölkerung sowie die in politischen und kirchlichen Petitionen zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Wiedervereinigung des 1918/19 geteilten Tirols bestand, ist umstritten. Unumstritten ist, dass das Gruber-De Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946 in Paris, Grundlage für die (1969/1972 erst errungene) Autonomie der „Provincia autonoma di Bolzano“, dem die regierenden Parteien sowie der zeitgeistfromme Teil der Opposition in Wien, Innsbruck und Bozen heute den Rang einer „Magna Charta für Südtirol“ zubilligen, sich für Österreichs Politik jahrzehntelang als „furchtbare Hypothek“ (Bruno Kreisky) erwies.
(von Reynke de Vos)
Allem Anschein nach fügte sich der österreichische Außenminister Gruber seinerzeit ebenso seinem italienischen Gegenüber Alcide De Gasperi wie den drängenden Siegermächten, um überhaupt etwas mit nach Hause bringen zu können. Es waren jedoch nicht allein die Unzulänglichkeiten des damals zur Pariser Friedenskonferenz entsandten österreichischen Personals sowie das mitunter selbstherrliche Gebaren Grubers respektive der Druck, den die (west)alliierten Siegermächte auf die Beteiligten ausübten, die schließlich ein anderes als das von den (Süd-)Tirolern erhoffte Ergebnis zeitigten. Eine soeben abgeschlossene, aus drei voluminösen Bänden bestehende Dokumentation zeigt, dass auch hinter den Kulissen Akteure emsig und weitgehend inkognito am Geschehen beteiligt waren.
So übte der Kärntner Unternehmer Rudolf Moser, enger Freund Kanzler Leopold Figls, einen fatalen Einfluss aus. Sein lautloses Mitwirken inkognito erstreckte sich nahezu auf den gesamten für den Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien bedeutsamen Geschehensablauf vom Kriegsende bis zur sogenannten „Paket“-Lösung Ende der 1960er Jahre, bisweilen lenkte er ihn in bestimmte Bahnen. In Italien, wohin seine Firma „A. Moser & Sohn, Holzstoff- und Pappenfabrik, Sachsenburg“, gute Geschäftskontakte unterhielt und sich Moser häufig für länger aufhielt, stand er mit namhaften Persönlichkeiten des Staates in engem Kontakt; Papst Pius XII empfing ihn mehrmals in Rom persönlich. Insofern nimmt es nicht wunder, dass sich der absolut diskret agierende Moser nach 1945 geradezu ideal für die Aufnahme, Pflege und Aufrechterhaltung einer trotz Südtirol-Unbill dennoch äußerst belastbaren Verbindung zwischen ÖVP und Democrazia Cristiana (DC) eignete, die sich weltanschaulich ohnedies nahestanden. Dazu passte, dass er sich der Rolle des (partei)politischen Postillons und verdeckt arbeitenden Unterhändlers mit geradezu missionarischem Eifer hingab.
Das für das Nachkriegsschicksal der Südtiroler fatale Wirken Mosers ergab sich im Frühjahr 1946. Während nämlich die österreichische Bundesregierung offiziell – besonders Kanzler Figl, der in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 vor dem Nationalrat gesagt hatte: „Eines aber ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, das ist Südtirol. Die Rückkehr Südtirols nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers“ – die Selbstbestimmungslösung mittels Volksabstimmung verlangte, was Außenminister Gruber gegenüber den Siegermächten und dem Vertreter Italiens in Paris bis dahin einigermaßen aufrecht erhalten hatte, wurde Rom auf der Ebene parteipolitischer Beziehungen vertraulich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich Wien gegebenenfalls auch mit einer Autonomielösung anstelle eines Plebiszits einverstanden erklären könne. Das Signal dazu gab Figl via Moser, der den gebürtigen Trientiner De Gasperi am 3. April 1946 zu einer ausgiebigen geheimen Unterredung traf.
Dieses widersprüchliche politische Gebaren sollte sich, wie die Publikationen des Historikers und Publizisten Helmut Golowitsch zeigen, unter allen auf Figl folgenden ÖVP-Kanzlern bis in die für das österreichisch-italienische Verhältnis äußerst schwierigen 1960er Jahre fortsetzen, unter der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ihren Kulminationspunkt erreichen und darüber hinaus – wie man als Beobachter späterer Phasen hinzufügen muss — gleichsam eine politische Konstante bilden, der in aller Regel die beanspruchte Schutz(macht)funktion Österreichs für Südtirol untergeordnet worden ist. Allen damals führenden ÖVP-Granden stand Rudolf Moser als emsig bemühtes, lautlos werkendes und wirkendes Faktotum zur Seite: Sei es als Organisator konspirativ eingefädelter Spitzentreffen inkognito – mehrmals in seinem Haus in Sachsenburg — , sei es als Emissär, mal als besänftigender Schlichter, mal operierte er als anspornender Impulsgeber. Mitunter war er verdeckt als Capo einer geheimen ÖVP-Sondierungsgruppe unterwegs oder auch gänzlich unverdeckt als Mitglied einer offiziellen ÖVP-Delegation auf DC-Parteitagen zugegen. Und nicht selten nahm er die Rolle eines Beschwichtigerers von ÖVP-Politikern und ‑Funktionären wahr. Über Inhalt und Ergebnis geheimer Treffen und konspirativer Begegnungen wurden weder Süd- noch Nordtiroler Politiker informiert. Während des gesamten Zeitraums, für die Golowitschs Dokumentation steht, agierten ÖVP-Kanzler und ÖVP-Parteiführung unter gänzlichem Umgehen der dem südlichen Landesteil naturgemäß zugetanen Tiroler ÖVP. Das ging sogar so weit, dass der legendäre Landeshauptmann Eduard Wallnöfer wegen „wachsender Unstimmigkeiten mit der Wiener Parteizentrale“ — insbesondere während der Kanzlerschaft des Josef Klaus — eine „Unabhängige Tiroler Volkspartei“ (nach Muster der bayerischen CSU) ernsthaft in Erwägung zog.
Mosers Engagement ging so weit, dass er sich nicht scheute, daran mitzuwirken, hinter dem Rücken des damaligen Außenminister Kreisky (SPÖ) sozusagen „christdemokratische Geheimdiplomatie“ zu betreiben und dessen mit Giuseppe Saragat ausgehandeltes „Autonomie-Maßnahmenpaket“ zu desavouieren, welches die Südtiroler Volkspartei (SVP) dann auch am 8. Januar 1965 für „zu mager“ befand und infolgedessen verlangte, es müsse nachverhandelt werden. Schon am 6. Januar 1962 hatte er in einer an ÖVP-Politiker und ‑Funktionäre verschickten „Südtirol-Denkschrift“ bemerkt, Kreisky betreibe „eine dilettantisch geführte Außenpolitik.“ Das bezog sich just auf den seit den verheerenden Auswirkungen des Pariser Abkommens ersten zielführenden Schritt der Wiener Südtirol-Politik, nämlich den Gang Kreiskys 1960 vor die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwang mittels zweier Resolutionen Italien zu „substantiellen Verhandlungen zur Lösung des Streitfalls“ mit Österreich, womit der Konflikt zudem internationalisiert und der römischen Behauptung, es handele sich um eine „rein inneritalienische Angelegenheit“ die Grundlage entzogen ward. In den Rom-freundlichen Kreisen der Bundes-ÖVP war dies jedoch mit Unwillen registriert worden. Staatssekretär Ludwig Steiner (ÖVP) versuchte ebenso wie (der spätere Außenminister) Kurt Waldheim, Kreisky zu bewegen, „die „österreichische UNO Initiative zurückzunehmen“.
Ging es Golowitsch in Band 1 („Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein unliebsames Problem vom Hals schaffte“; Graz (Stocker) 2017, 607 Seiten, 34,80 €) darum, aufzuzeigen wie es Rom gewissermaßen unter Mithilfe aus Wien ermöglicht wurde, die betrügerische Scheinautonomie von 1948 zu verfügen und wie das „demokratische Italien“ unter Führung der DC skrupellos die faschistische Politik der Entnationalisierung der Südtiroler fortsetzte, so steht in den Bänden 2 ( „Südtirol – Opfer geheimer Parteipolitik“; 462 Seiten, 29,90 €) und 3 („Südtirol – Opfer politischer Erpressung“; 528 Seiten, 29,90 € ) — beide 2019 ebenfalls im Stocker-Verlag, Graz erschienen — das geheime Zusammenspiel zwischen ÖVP und DC sozusagen en Detail im Mittelpunkt. Dies insbesondere während der für den hauptsächlich vom „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) mit anderen als „nur“ politischen Mitteln von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre und gelegentlich darüber hinaus getragenen Freiheitskampf. Hierin zeigt Golowitsch Punkt für Punkt die – ja, man muss es in aller Deutlichkeit vermerken – Ergebenheitspolitik der ÖVP(-geführten respektive Allein-)Regierung(en) gegenüber Italien anhand getroffener geheimer Absprachen zwischen ÖVP- und DC-Politikern auf.
Die römische Politik stand damals unter wachsendem Druck des BAS, dessen in Kleingruppen operierende Aktivisten Anschläge auf italienische Einrichtungen in Südtirol, vornehmlich Hochspannungsmasten, verübten. Trotz Massenverhaftungen und Folterungen von gefangenen BAS-Kämpfern in den Carabinieri-Kasernen wurden die italienischen Behörden dieser Bewegung nicht Herr. Italien erpresste infolgedessen Österreich mit dem Einlegen seines Vetos gegen die anstehende EWG-Assoziierung, indem es verlangte, in enger Zusammenarbeit mit den italienischen Sicherheitsdiensten den Südtiroler Widerstand zu brechen und gänzlich zu eliminieren. Woraufhin die ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Klaus in Südtirol-Fragen zunehmend auf italienischen Vorstellungen einschwenkte. Dies zeigte sich insbesondere zufolge des sogenannten „Porzescharten-Attentats“, bei dem angeblich vier italienische Militärs zu Tode gekommen sein sollten. Aufgrund überzeugender Archivstudien und Analysen des (Militär-)Historikers Hubert Speckner sowie dreier Gutachten öffentlich bestellter und vereidigter Spreng(mittel)sachverständiger besteht indes heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass die offizielle Geschehensdarstellung für das „Attentat, das keines war“, als Konstrukt italienischer Dienste gelten muss. Golowitsch breitet Speckners Erkenntnisse in seiner eingängigen Dokumentation noch einmal minutiös und detailreich vor uns aus.
Was folgt aus all dem? Der BAS hat 1967 auf der Porzescharte kein Attentat verübt. Die dafür verantwortlich gemachten Personen (Prof. Dr. med. Erhard Hartung, Egon Kufner sowie der bereits verstorbene Peter Kienesberger) sind zu Unrecht verfolgt und von Italien zu gewissenlosen Terroristen gestempelt worden. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen, das sich offenkundig anders denn offiziell dargestellt abspielte, wäre es an der Zeit, das florentinische Schandurteil aus der Welt zu schaffen, mit denen sie gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für eine offenkundig nicht begangene Tat verurteilt und damit zu blutrünstigen Mördern gestempelt worden sind. Es versteht sich daher eigentlich von selbst, dass die trotz Freispruchs (in Österreich) nach wie vor mit dem Makel der Täterschaft behafteten und in ihrer persönlichen (Reise-)Freiheit eingeschränkten Personen endlich offiziell und überdies öffentlich vernehmlich zu rehabilitieren sind.
Doch mehrere aus FPÖ-Parlamentsfraktion heraus an den damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sowie den vormaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer gerichtete Versuche erwiesen sich als ergebnislos. Faymann erklärte in seiner schriftlichen Antwort das Kanzleramt für unzuständig. Und Fischer verwies die „Betroffenen”, deren Taten – seien sie bewiesen oder unbewiesen; seien sie begangen oder nichtbegangen; seien sie von BAS-Aktivisten verübt oder diesen durch italienische Manipulationen unterschoben worden – bereits ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen, darauf, sie sollten doch bitteschön Gnadengesuche einreichen. Mit Verlaub – das ist Chuzpe. Die zu Unrecht beschuldigten und zudem menschenrechtswidrig – wie österreichische und deutsche Höchstgerichte feststellten — in Florenz verurteilten Drei der „Causa Porzescharte wären doch von allen guten Geistern verlassen, so sie um Gnade bettelten für eine Tat, die sie nicht begangen haben. Dass indes maßgebliche Organe der Republik Österreich, die sich damals schon hasenfüßig und Italien gegenüber unterwürfig verhielten, auch 50 Jahre danach noch ihrer Fürsorgepflicht für zwei ihrer jahrelang politisch und justitiell verfolgten Staatsbürger (offenkundig) nicht nachkommen (wollen), darf man mit Fug und Recht eine Schande nennen.
Eine Schande für die österreichische Politik war es auch, die von Rom unter ständigen Hinweisen auf das EWG-Veto verlangte „Präventivhaft“ – wie sie in Italien auf der Grundlage fortbestehender faschistischer Rechtsnormen möglich war — über geflüchtete Südtiroler zu verhängen und sogar deren Auslieferung zu verlangen, füglich zu umgehen. Weil dies die österreichische Rechtsordnung nicht zuließ, erdachte man im Wiener Innenministerium einen Rom entgegenkommenden Ausweg: Die von den italienischen Stellen namhaft gemachten Südtiroler wurden kurzerhand in Schubhaft genommen. Gelang es diesen Schubhäftlingen, eine gerichtlich verfügte Aufhebung ihrer Inhaftierung zu erreichen, sperrte man sie unter einem neuen Schuldvorwurf wieder ein.
Derartige und andere unschöne Vorgehensweisen stehen im Zentrum von
Helmut Golowitschs Dokumentation zur Südtiroler Zeitgeschichte, welche den Maximen von Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet ist. Seine Tatsachenschilderung und Beschreibung der Zusammenhänge in einer quellengesättigten, dreibändigen historisch-politischen Darstellung führt zu einer notwendigen vertieften, korrigierenden Sicht auf die österreichischen Südtirolpolitik, der weite Verbreitung zu wünschen ist.
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