Die Eskalation zwischen der Türkei und Russland in Syrien geht weiter. In Russland wurde ein Korrespondentenbericht aus der Kriegsregion Idlib gezeigt.
Das russische Fernsehen hat am Sonntag in der Sendung „Nachrichten der Woche“ ausführlich über die Lage in Syrien berichtet. In einem ersten Beitrag wurde aus dem Studio über die Situation berichtet, der zweite Beitrag war ein Korrespondentenbericht aus Syrien.
Der Korrespondentenbericht ist sehenswert (zumal es keine westlichen Korrespondentenberichte aus Syrien gibt) und ich denke, er ist mit meiner Übersetzung auch ohne Russischkenntnisse verständlich. Daher habe ich beide Beiträge des russischen Fernsehens übersetzt.
Beginn der Übersetzung des ersten Beitrages:
Die Situation in der syrischen Provinz Idlib, in der eine international vereinbarte Deeskalationszone eingerichtet wurde, in die Terroristen beispielsweise aus Aleppo gebracht wurden, ist ernst. Für sie waren die Busse nach Idlib die einzige Möglichkeit, ihre Haut zu retten. Die andere Möglichkeit war die komplette Zerstörung der syrischen Großstadt bei einer Eroberung.
Das war Ende 2016, also vor etwas mehr als drei Jahren. Natürlich war allen klar, dass Idlib kein neues Pseudo-Kalifat sein darf und dass die Lösung eine vorübergehende sein sollte. Früher oder später muss ganz Syrien von diesem Greuel gereinigt werden. Deshalb wurde eineinhalb Jahre nach der Befreiung von Aleppo – im September 2018 – eine Militäroperation gegen die Terroristen angekündigt, die Idlib und Syrien nicht verlassen wollten. Es ist eine groß angelegte Operation, weil es Zehntausende von Terroristen in Idlib gibt. Als die Journalisten den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu dann kurz vorher direkt fragten, ob diese Militäroperation nicht stattfinden werde, antwortete Shoigu trocken: „Ja“. Das war der 17. September 2018. (Anm. d. Übers.: Damals wurde die Operation im letzten Moment nach Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei abgesagt)
Aber wer konnte die Operation absagen? Unerwartet taten das die Präsidenten Russlands und der Türkei, Putin und Erdogan, bei einem Treffen in Sotschi. Um die heutige Situation zu verstehen, ist es wichtig, sich an dieses Abkommen zu erinnern. Statt Krieg beschlossen sie, schwere Waffen an der Grenze zwischen den Terroristen und den Stellungen der syrischen Armee abzuziehen. Ein aktiver Befürworter dieser Entscheidung, wir erinnern uns an den Teheraner Dreiergipfel, war Erdogan. Der Gipfel in Teheran fand zehn Tage vor dem Treffen in Sotschi statt. Erdogans Motiv: Der Krieg in Idlib würde der Türkei einen noch größeren Flüchtlingsstrom bescheren. Putin hatte Verständnis für Erdogans Bedenken. Und so einigten sie sich im September 2018 auf Folgendes:
„Wir haben beschlossen, bis zum 15. Oktober diesen Jahres eine entmilitarisierte Zone von 15 bis 20 Kilometern Tiefe entlang der Kontaktlinie zwischen der bewaffneten Opposition und den Regierungstruppen zu schaffen, einschließlich Rückzug radikalisierter Kämpfer, auch von Jabhat al-Nusra.“, sagte der russische Präsident damals bei der Pressekonferenz mit Erdogan.
Sie hatten sich auf eine bestimmte Frist geeinigt. Jetzt erinnern wir daran, dass die radikalen Militanen bis zum 15. Oktober 2018 abgezogen werden sollten. Diese Verpflichtung hatte die Türkei übernommen. Und es gab noch eine Frist:
„Bis zum 10. Oktober 2018 wird, auf Vorschlag des türkischen Präsidenten, der Abzug von schweren Waffen, Panzern, Raketenwerfern und Mörsern aller Oppositionsgruppen aus dieser Zone durchgeführt“, sagte Putin.
Es ist kein Zufall, dass er betonte, dass es Erdogans Vorschlag war. Das war nicht nur Höflichkeit, sondern auch Putins diplomatische Flexibilität. Er tat dies, obwohl er selbst offensichtlich Zweifel daran hatte, dass es möglich wäre. Die Zweifel waren, wie wir heute sehen können, berechtigt.
Aber warum hat Putin daran gezweifelt? Das ist ganz einfach: Nicht alle bewaffneten gegnerischen Parteien haben sich an den Abkommen beteiligt. Zuvor hatte Putin gesagt: „Es sind keine Vertreter der bewaffneten Opposition an unserem Tisch. Darüber hinaus sind hier auch keine Vertreter von Dschabhat al-Nusra oder dem IS und der syrischen Armee. Ich glaube, dass der Präsident der Türkei insgesamt Recht hat. Es wäre schön, wenn es funktioniert. Aber wir können nicht für sie sprechen. Auch können wir nicht sicher wissen, ob die Terroristen von Jabhat al-Nusra oder dem IS aufhören werden, zu schießen oder mit Bomben bewaffnete Drohnen einzusetzen.“
Aber Erdogan hatte seine eigenen Argumente. Er glaubte, dass es im Rahmen des Astana-Prozesses immer noch möglich sein würde, mit allen eine Einigung zu erzielen. Und so ging er große Verpflichtungen ein: „In den Verhandlungen haben wir beschlossen, die Gebiete unter Kontrolle der syrischen Armee und der Opposition zu entmilitarisieren. Die Opposition, die diese Gebiete kontrolliert, wird dort bleiben. Aber gleichzeitig werden wir gemeinsam mit Russland alles tun, um alle radikalen Gruppen aus diesen Gebieten zu abzuziehen, um Provokationen von Dritten zu erkennen und zu verhindern. Dank gemeinsamer Anstrengungen werden wir all dies verhindern“, sagte Erdogan.
Dieses Abkommen war wirklich sensationell. Damaskus war dafür. Der Iran war dafür. Europa war dafür. Und auch die USA waren dafür. Damals galt es als diplomatischer Sieg. Putin gab damit allen eine weitere Chance. Und der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu glaubte, dass das Abkommen der Beginn eines neuen Sicherheitssystems in Idlib sei. Und dann sprach er als Soldat:
„Der Prozess des Aufbaus eines neuen Systems und einer neuen Sicherheitsstruktur in der Deeskalationszone von Idlib hat begonnen, der in kürzester Zeit, genauer gesagt, bis zum 10. Oktober, den Abzug schwerer Waffen aus der Entmilitarisierungszone, die entlang der Deeskalationszone von Idlib bis zu einer Tiefe von 15 bis 20 Kilometern verläuft, vorsieht. Dann sollen alle radikalen Gruppen bis zum 15. Oktober zurückgezogen werden. Radikal bedeutet IS und Jabhat al-Nusra, die von der UNO als Terrororganisationen eingestuft sind. Es wurde viel getan, um die Routen für den weiteren Transport der Terroristen von Aleppo nach Hama und von Aleppo nach Latakia festzulegen. Diese Routen sollte bis Ende des Jahres auch für alle Bewohner von Aleppo und der Deeskalationszone Idlib zugänglich sein“, sagte Schoigu.
Unter diesen Bedingungen durfte die türkische Armee ihre Beobachtungsposten in Idlib verstärken. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erinnerte kürzlich an die Zusagen der Türkei. Und was ist jetzt? Die türkische Armee arbeitet in Idlib heimtückisch mit Terroristen gegen Regierungstruppen zusammen. Es kam so weit, dass eine groß angelegte Offensive der Militanten mit Hilfe der russischen Luftwaffe abgewehrt werden musste. Und in einem Telefonat, das kürzlich stattfand, äußerte Putin „ernsthafte Besorgnis“ – in der Diplomatie ist das ein starker Ausdruck – „wegen der Fortsetzung aggressiver Aktionen extremistischer Gruppen“. Gleichzeitig hat Putin die Notwendigkeit „betont“ – auch das nicht zufällig an die Adresse Erdogans -, „dass die Souveränität und territoriale Integrität Syriens bedingungslos geachtet werden müssen“. Mit anderen Worten, er erinnerte Erdogan daran, dass er nicht bei sich zu Hause ist.
Ende der Übersetzung des ersten Beitrages
Beginn der Übersetzung des Korrespondentenberichts aus Syrien:
Die Türkei unterstützt in Idlib heimtückisch das Feuer von Terroristen bei Angriffen auf die syrische Armee.
Hier sind Aufnahmen des Angriffs und so reagierte die syrische Armee auf den Versuch von Militanten und dem türkischen Militär, die Verteidigung der Regierungstruppen im Gebiet der Siedlung Naibor, die sich in der Nähe von Serakir befindet, zu durchbrechen. Das Drohnen-Video wurde vom syrischen Verteidigungsministerium verbreitet. Die Aufnahmen zeigen die Zerstörung von M‑60-Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Schlägen gegen Verstecke und Gruppen von Militanten. Weder türkische Experten, noch die Radikalen, die vom türkischen Militär in die Schlacht geschickt wurden, erwarteten eine solche Gegenwehr. In Syrien werden die Ereignisse der letzten Tage „Ankaras Abenteuer“ genannt und es werden sehr harte Formulierungen benutzt.
Das sind sie Folgen des Artillerieangriffs der türkischen Streitkräfte. Häuser in dem Dorf in der Nähe von Serakir wurden zerstört und Leichen liegen in den Ruinen. Die türkische Armee unterstützte den Angriff von Militanten der Terrorgruppe Hay’at Tahrir al-Sham, die früher „Jabhat al-Nusra“ hieß, offen. Artillerie der türkischen Streitkräfte traf die Stellungen der syrischen Armee in Naibor, Granaten explodierten in Wohnvierteln benachbarter Dörfer.
Eine russische Drohne beobachtete den massivem Beschuss der türkischen Artillerie als Unterstützung der radikaler Islamisten aus 6.000 Metern Höhe. Die Aufnahmen zeigen, wie die Artillerie der türkischen Streitkräfte feuert. Nach dem Artilleriebeschuss rückten die Militanten am Boden vor, unterstützt von türkischen Panzern. Die türkische Armee hat ihnen gepanzerte Fahrzeuge geliefert. Aus der hybriden Kriegsführung wurde ein direkter Zusammenstoß. Die Militanten hatten mit so viel Unterstützung sogar Chancen, die Verteidigungslinie der Regierungstruppen zu durchbrechen.
Während des Angriffs der Radikalen schlugen türkische Granaten auf der Autobahn M5 ein, die bereits von Zivilisten benutzt wird. Ein Lastwagen der syrischen Armee mit Munition wurde zerstört, es kam stundenlang zu immer neuen Explosionen.
Die russische Luftwaffe stoppte den Angriff. SU-24-Frontbomber hoben von Hmeimim ab und die Piloten bombardierten Gruppen von Militanten und gepanzerte Fahrzeuge. Der Vormarsch der Radikalen ist erstickt. Gleichzeitig versuchten sie, russische Flugzeuge abzuschießen.
Hier sehen wir den Start einer tragbaren Flugabwehrrakete vom Typ „Stinger“, die in der Türkei in Lizenz produziert werden. Die Qualität des Videos ist schlecht, aber wahrscheinlich ist der Mann, der die Rakete abfeuert, ein Kämpfer der türkischen Spezialeinheit. Darauf deutet die Ausrüstung des Soldaten hin.
Der russische Pilot schießt Flares ab und entkommt der Rakete. Die Professionalität der Piloten hat die Region vor einer weiteren, kritischen Verschärfung bewahrt. Alle russischen Flugzeuge landeten am Tag des türkischen Angriffs sicher auf dem russischen Stützpunkt Hmeimim. Gleichzeitig wurden in Syrien innerhalb einer Woche drei türkische Soldaten getötet und fünf weitere verwundet. Präsident Erdogan räumte ein, dass es während der Angriffe der syrischen Luftwaffe zu den Opfern gekommen ist.
Die offene türkische Unterstützung für Radikale hat auch die humanitäre Lage verkompliziert. Die Terroristen lassen keine Zivilisten aus dem Kriegsgebiet. Mitglieder des Ablegers von Al-Qaida benutzen traditionell Zivilisten als menschliche Schutzschilde und beschränken den Zugang zu humanitären Korridoren, die vom Russischen Zentrum für Versöhnung in Syrien organisiert werden. Oder sie beschießen Zivilisten, die das Gebiet durch die humanitären Korridore verlassen wollen, mit Mörsern.
Der humanitäre Korridor wurde nach dem Beschuss geschlossen. Die Stadt Bjarez stand unter Beschuss türkischer Artillerie. Von hier sind es bis zu den Positionen der Radikalen nicht mehr als eineinhalb Kilometer. Jetzt ist es Kriegsgebiet. Die Stadt Sarmin ist immer noch unter der Kontrolle von Terroristen.
Die Straße wird beschossen, die Artillerie arbeitet weiterhin. Wir kommen nicht durch. Wir wollen eine Drohne einsetzen. Aber das türkische Militär setzt aktiv elektronische Störsender ein, wir riskieren, den Copter zu verlieren. Tatsächlich verlieren wir dann das Drohnen-Steuersignal.
Sarmin ist eine große Siedlung in der Nähe von Idlib. Ankara verlegt auch hierher zusätzliche Kräfte. Der erfolglose Angriff der Terroristen hatte keinen Einfluss auf das Tempo, in dem Nachschub gebracht wird.
In Idlib sind schon jetzt fünf vollwertige türkische Bataillone mit etwa 4.000 Soldaten und Offizieren, etwa 80 modernen Panzern, 200 gepanzerten Fahrzeugen und Dutzenden Artilleriegeschützen stationiert. Darüber hinaus hat Ankara elektronische Artillerieaufklärung hierher verlegt. Es ist offensichtlich, dass die Truppen nicht zur Verteidigung zusammengezogen wurden.
Hier kann man sehen, mit wem das türkische Militär zusammenarbeitet. Das ist ein Kämpfer von Hay’at Tahrir al-Sham. Er nahm das Telefon eines getöteten syrischen Soldaten und rief dessen Mutter an. Belustigt erzählt er ihr, dass ihr Sohn enthauptet wurde. Und das sind andere pro-türkische Militante, die die getöteten Kämpfer der Regierungstruppen schänden und sich dabei filmen.
Die Lage an der Front ist angespannt. Die Artillerie-Duelle gehen weiter. Regierungstruppen setzen gepanzerte Fahrzeuge ein, um Angriffe radikaler Gruppen abzuwehren. Meist greifen die Kämpfer der Terrorgruppe Hay’at Tahrir al-Sham an.
Nachts setzen die Militanten großkalibrige Waffen ein und treffen Stellungen der Regierungstruppen. Die Türkei kommen die Aktionen im syrischen Idlib teuer zu stehen. Die Verluste an Reputation sind schwer zu messen. Noch nie hat Ankara die Terroristen in der Region so offen unterstützt. Das türkische Militär verteidigt Idlib. Der Name der Stadt steht seit langem für das wichtigste Zentrum des internationalen Terrorismus in der Welt.
Am 21. Februar erklärte der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow erneut und sogar kategorisch, dass die Türkei ihre im September 2018 in Sotschi eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt habe.
„Man kann unmissverständlich sagen, dass die Bedingungen des Sotschi-Abkommens, das die beiden Präsidenten vor mehr als einem Jahr unterzeichnet haben, noch nicht erfüllt sind. Dort heißt es, dass die Türkei den Abzug schwerer Waffen und so weiter sicherstellen muss. Aber wir sehen, dass die Terroristen dort gut bewaffnet sind und ständig Treibstoff, Munition und militärische Ausrüstung erhalten. Ihnen fällt sehr gefährliche militärische Ausrüstung in die Hände“, sagte Dmitri Peskow.
Es ist klar, dass diese Situation für führende europäische Länder wie Frankreich und Deutschland Anlass zur Sorge gibt. Die Staats- und Regierungschefs dieser Staaten schlagen sogar einen Vierer-Gipfel, also ein „Normandie-Format“ mit der Türkei, vor. Putin ist dazu bereit.
„Präsident Putin ist auch ein Befürworter des Gipfels. Wenn es möglich ist, sich auf einen Termin der vier Staats- und Regierungschefs zu einigen, wird ein solcher Gipfel stattfinden“, versicherte Dmitri Peskow.
Ende der Übersetzung
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“