In den Niederlanden sind Unterlagen der Staatsanwaltschaft veröffentlicht worden, aus denen hervorgeht, dass die malaysische Boeing bei ihrem Absturz außerhalb der Reichweite aller BUK-Raketen gewesen sein soll. Das würde bedeuten, dass das Flugzeug nicht von einer Boden-Luft-Raketen abgeschossen worden sein kann.
Die Meldung habe ich zuerst bei der russischen Nachrichtenagentur TASS gefunden, die ihre Quellen immer sauber angibt, sodass man die Originalquellen überprüfen kann. Außerdem gab die TASS den Inhalt der auf einer holländischen Seite veröffentlichten Dokumente korrekt wieder. Da die Veröffentlichung auf Englisch erfolgte, war das leicht nachprüfbar.
Es geht um vier Dokumente, die bestreiten, dass BUK-Systeme in Reichweite der Boeing gewesen sein sollen, aber dafür aussagen, es seien zwei ukrainische Kampfflugzeuge in der Luft gewesen.
Das erste Dokument bezieht sich auf Untersuchungen des unabhängigen deutschen Journalisten Billy Six. Er hat vor Ort Menschen befragt, die ukrainische Kampfflugzeuge am Himmel gesehen haben wollen. Jeder, der mal mit Ermittlungen zu tun hatte, weiß, dass Zeugenaussagen oft problematisch sind. Jeder Polizist weiß, dass Zeugen bei einem Autounfall oft nicht einmal die korrekte Farbe der beteiligten Autos nennen können. Das bedeutet nicht, dass Angaben unwahr sein müssen, aber Zeugen sind als Quelle gerade bei Unglücken, bei denen die Zeugen auch emotional berührt sind, mit ein wenig Vorsicht zu genießen.
Das zweite Dokument beschäftigt sich mit den Fotos, die angeblich belegen, dass die BUK aus Russland gekommen sein soll. Diese Fotos sind demnach aller Wahrscheinlichkeit nach manipuliert worden, nicht einmal ihr genaues Datum ist gesichert.
Das dritte Dokument ist ein Vernehmungsprotokoll der holländischen Polizei. Ein nicht namentlich genannter ukrainischer Zeuge spricht darin ebenfalls von Kampfflugzeugen, die seiner Meinung nach die Boeing abgeschossen hätten.
All diese Dokumente sind also nicht neu. Die Arbeit von Billy Six ist längst bekannt, auch andere Zeugenaussagen gibt es reichlich (übrigens für jede mögliche These für das Unglück) und auch die Vorwürfe, dass die Fotos, die beweisen sollen, dass die BUK aus Russland gekommen sind, gefälscht sind, sind nicht neu. Auf diesen Fotos baut die Arbeit von Bellingcat auf, die die These der aus Russland ins Kampfgebiet gebrachten BUK in die Welt gesetzt haben.
Neu ist meines Wissens lediglich das vierte Dokument. Dabei handelt es sich um einen Bericht des holländischen Militärgeheimdienstes, der die Positionen aller BUK-Systeme in dem Großraum auflistet. Demnach war keine BUK – weder russische, noch ukrainische – in Reichweite der Boeing, als sie abgeschossen wurde.
Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat die geleakten Unterlagen nicht kommentiert, sondern nur mitgeteilt, der Ort, die Beweismittel zu besprechen, sei der Gerichtssaal und nicht die Öffentlichkeit.
Kremlsprecher Peskow hat die veröffentlichten Dokumente wie folgt kommentiert:
„Dies zeigt einmal mehr, dass es immer noch viele Anzahl von Fragen gibt, die die bisher nachdrücklich geäußerte Position ernsthaft in Frage stellen. (…) Daher waren wir immer skeptisch und misstrauisch gegenüber der übereilten und nicht auf einem ernsthaften Ansatz beruhenden, übereilten Schlussfolgerungen. Diese Informationen zeigen einmal mehr, dass russische Seite damit recht hat.“
Das waren die aktuellen Neuigkeiten zu dem Thema MH17.
Da ich mich sehr intensiv mit MH17 beschäftigt habe, erlaube ich mir, noch eine kleine Einschätzung der geleakten Unterlagen zu geben. Eine Zusammenfassung meiner Recherchen zu MH17, die ich für mein Buch über die Ukraine-Krise 2014 gemacht habe, finden Sie hier. Das ganze, fast 70 Seiten lange Kapitel zu MH17 aus dem Buch, finden Sie als Leseprobe hier.
Wie gesagt handelt es sich bei den aktuellen Veröffentlichungen im Kern um nichts Neues, das meiste ist längst bekannt.
Da es Zeugenaussagen für jede mögliche These gibt, halte ich Zeugenaussagen in diesem Fall für nicht entscheidend. Für mich ist das Schadensbild an dem abgeschossenen Flugzeug entscheidend. Und das zeigt erstens, dass die Boeing in großer Höhe auseinandergebrochen ist, sonst wären die Wrackteile nicht über ein so großes Gebiet verteilt gewesen. Zweitens zeigt das Schadensbild, dass das Flugzeug seitlich von tausenden Projektilen durchlöchert wurde. Der dadurch strukturell geschwächte Rumpf ist dann auseinandergebrochen.
Die Frage ist also, was ein solches Schadensbild verursachen kann.
Anti-Flugueug-Raketen, die von den in Frage kommenden Kampfflugzeugen getragen werden, treffen das Triebwerk ihre Ziels und zerstören es. Eine solche Rakete hätte die Boeing wohl abschießen können, aber wir hätten ein anderes Schadensbild: Die tausenden Löcher würden fehlen.
Auch die These, die Boeing sei mit der Bordkanone eine Kampfflugzeuges abgeschossen worden, ist nicht haltbar. Im Luftkampf nähern sich Kampfflugzeuge ihrem Gegner von hinten, weil nur dadurch das Ziel lange genug im Schussfeld bleibt, um es zu treffen und ernsthaft zu beschädigen. Die Boeing wurde aber von der Seite durchlöchert.
Das würde bedeuten, dass das schießende Kampfflugzeug in einem mehr oder weniger genauen 90-Grad-Winkel zur Boeing gestanden haben müsste. Jeder, der etwas von Luftkampf versteht, weiß, dass es praktisch unmöglich ist, einen Gegner von der Seite zu treffen. Das ist leicht erklärbar: Das Ziel würde mit 800 Kilometer pro Stunde an einem vorbeirauschen. Dabei einen Treffer zu landen, ist unmöglich. Und erst recht wäre der Sekundenbruchteil, den die Boeing bei einem solchen Manöver im Schussfeld gewesen wäre, viel zu kurz, als dass sie von tausenden Projektilen hätte getroffen werden können. Wer das bezweifelt, kann sich mal an eine Schnellstraße stellen und sich anschauen, wie schnell ein nur 100 km/h schnelles Auto an einem vorbeirauscht. Selbst das wäre aus einer Maschinenkanone nicht mit tausenden Projektilen zu treffen. Und die Boeing war acht Mal so schnell.
Das einzige System, dass vor Ort war und ein Schadensbild verursachen kann, wie wir es bei MH17 sehen, ist eine BUK. Diese Rakete fliegt neben ihr Ziel und dann explodiert ein Sprengkopf, der tausende Schrapnelle freisetzt, die das Ziel durchlöchern.
Neu an den veröffentlichten Unterlagen ist allerdings der Bericht des holländischen Geheimdienstes. Ob der Geheimdienst sich geirrt hat oder ob der Bericht gefälscht ist, wissen wir nicht.
In drei Wochen beginnt in den Niederlanden der Prozess um MH17, vielleicht erfahren wir dann mehr.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.