Sind »WIR« das Volk?

 Der nach­fol­gende Beitrag wurde von Stefan Blan­kertz als Vortrag bei der dies­jäh­rigen Usedom-Kon­ferenz von eigen­tümlich frei gehalten.

[01] »Einheit« und »Sou­ve­rä­nität« des Volkes, das klingt ebenso wie »nationale Befreiung« immer noch cool und erstre­benswert in den Ohren, wie sie durch unsere linke und rechte poli­tische Sozia­li­sation geschult sind. Einer der­je­nigen, der in der Gegenwart an vor­derster Front gegen diese Mys­ti­fi­zierung von ein­heit­lichen und großen Natio­nal­staaten ange­dacht, ange­schrieben und ange­kämpft hat, haben wir auf dieser Kon­ferenz unter uns: Hans-Hermann Hoppe. Hans-Hermann Hoppe steht damit in der anar­chis­ti­schen Tra­dition der Zweifel an der wirt­schaft­lichen, poli­ti­schen und kul­tu­rellen Wünsch­barkeit natio­naler Groß­staaten. Ich möchte hier auf Michael Bakunin ver­weisen, den anar­chis­ti­schen Gegen­spieler von Karl Marx in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts. Er sagte 1872, also kurz nach der Gründung des Deut­schen Kai­ser­reichs: »Alle diese unsterb­lichen Schöp­fungen des deut­schen Genies sind her­vor­ge­bracht nicht aus der Einheit, sondern aus der deut­schen Anarchie. Die poli­tische Einheit wird unfehlbar die leben­digen Quellen des schöp­fe­ri­schen Geistes in Deutschland töten und beginnt schon, es zu tun.«[1]

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[02] Zur Begründung der Auf­recht­erhaltung oder der For­derung nach Her­stellung bezie­hungs­weise Wie­der­her­stellung eines Natio­nal­staats spielen die Formeln »Einheit (eines Volkes)« und »(Volks-) Sou­ve­rä­nität« die ent­schei­dende Rolle. Fragt man nach den Kri­terien, die »ein Volk« kon­sti­tu­ieren, stehen gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine ver­bin­dende Geschichte regel­mäßig an der Spitze der Liste. In der reinen, in der rechts­po­si­ti­vis­ti­schen Staats­theorie kon­sti­tu­ieren das Staatsvolk genau die­je­nigen Per­sonen, die das Gebiet bewohnen, über das der in Frage ste­hende Staat zur Zeit das Gewalt­mo­nopol fak­tisch ausübt oder anstrebt. In der mit dem Begriff der Nation ver­bun­denen Staats­theorie jedoch kon­sti­tuiert sich das Volk, das Sou­verän sein und einen ein­heit­lichen Staat haben soll, außerhalb des Staats, zugleich damit kon­sti­tuiert dieses Volk aller­dings angeblich den Anspruch darauf, über das von ihm bewohnte Gebiet eine ein­heit­liche, staat­liche Herr­schaft (also ein Gewalt­mo­nopol) zu errichten. Diese Vor­stellung richtete sich zunächst gegen die Willkür der Staats­ge­biete, die durch die Aktionen der Fürsten, Könige und Kaiser kon­sti­tuiert wurden, seien das krie­ge­rische Annexion oder Akqui­si­tionen qua Hei­rats­po­litik. Mit der Natio­nal­staat­lichkeit waren und sind trotz aller ent­ge­gen­lau­fenden geschicht­lichen Erfah­rungen immer noch die Hoff­nungen auf Ent­wick­lungs­mög­lich­keiten des Volks, seiner Kultur und Wirt­schaft sowie Rechts­staat­lichkeit verbunden.

[03] Deutschland war nicht die einzige euro­päische Nation, die sich spät oder – in der geschichts­phi­lo­so­phi­schen Betrachtung der Natio­na­listen – »zu spät« kon­sti­tuiert hat. Ita­liens Einheit ist nur wenige Jahre früher errungen worden. Über die Folgen der hart erkämpften Einheit Ita­liens schrieb Bakunin 1869, »der Triumph der natio­nalen Sache« habe, »anstatt alles neu zu beleben, alles zer­stört, nicht nur der mate­rielle Wohl­stand, der Geist selbst war erstorben«: »Weniger als fünf Jahre Unab­hän­gigkeit hatten genügt«, so Bakunin weiter, »um die Finanzen zu rui­nieren, das ganze Land in eine öko­no­mische Situation ohne Ausweg zu stürzen, seine Industrie, seinen Handel zu ersticken.«[2] Schon drei Jahre vorher beob­achtete Bakunin: »Das unitäre Italien geht aus dem Leim, in allen ita­lie­ni­schen Pro­vinzen. Das Defizit, die Furcht vor den neuen Steuern, der büro­kra­tische Schmutz und die Bedrü­ckungen, die Sto­ckungen in allen Geschäften und Unter­nehmen haben endlich ihre Wirkung auf die ganze Bevöl­kerung aus­geübt.« Und was tun Staaten, wenn sie in Not sind, sich vor der eigenen Bevöl­kerung zu legi­ti­mieren? »Es ist kein anderer Ausweg als der Krieg«, ant­wortet Bakunin sar­kas­tisch. »Das­selbe scheint auch in Frank­reich der Fall zu sein.«[3]

[04] Wenden wir uns dem »Mau­erfall« von vor 30 Jahren zu, den wir hier auf der Kon­ferenz ver­handeln, sind die Parolen »Wir sind das Volk« oder »Wir sind ein Volk« noch gut in Erin­nerung, die Freude über die gelungene »Wie­der­ver­ei­nigung« des deut­schen Volks, welche in der Bun­des­re­publik Deutschland noch wenige Jahre vorher manch ein linker Poli­tiker als Ziel gern aus der Ver­fassung gestrichen hätte. Dass es aller­dings gar nicht um die Einheit des Volks als pri­märes Ziel ging, kann man schnell ein­sehen, wenn wir uns fragen, ob die gleiche Freude geherrscht hätte, wäre die Wie­der­ver­ei­nigung in der umge­kehrten Richtung voll­zogen worden, nämlich durch den Anschluss der BRD an die DDR. Selbst wenn wir heute augen­zwin­kernd von der BRD als »DDR 2.0« sprechen, glaube ich nicht, dass die Idee viele Anhänger hätte, es wäre besser gewesen, Erich Hon­ecker statt Helmut Kohl als gesamt­deut­schen Staats­rats­vor­sit­zenden gehabt zu haben. Und ich hoffe, niemand wünscht bei­spiels­weise dem korea­ni­schen Volk eine glück­liche Wie­der­ver­ei­nigung unter der Kim-Dynastie.

[05] Betrachten wir die beiden Haupt­kri­terien für die Kon­sti­tution eines staat­liche Einheit erhei­schenden Volks, Sprache und Geschichte. Zunächst Sprache. Unmit­telbar ist fest­zu­stellen, dass ein­heit­liche Sprache fak­tisch kein gene­relles, nicht einmal ein vor­herr­schendes Merkmal von Staaten ist. Deutsch wird in mehr Ländern gesprochen als in der Bun­des­re­publik Deutschland; selbst wenn Mitte des 19. Jahr­hun­derts die soge­nannte »Groß­deutsche Lösung« unter Ein­schluss von Öster­reich gelungen wäre, hätten nicht alle Men­schen deut­scher Zunge in diesem Staat Platz gefunden. Bei den soge­nannten Welt­sprachen Eng­lisch, Spa­nisch und Fran­zö­sisch ist ebenso ein­deutig, dass nicht die Sprache einen Staat kon­sti­tuiert. Kehren wir das Kri­terium um und fragen, ob Staaten in der Regel von einer ein­zigen Sprache domi­niert sind, stellen wir fest, dass dies ebenso wenig der Fall ist. Die Schweiz, Belgien, Spanien und Kanada sind »Nationen«, in denen ver­schiedene Sprachen gesprochen werden. Die Bei­spiele sind weltweit so zahl­reich, dass ich sie nicht alle auf­zählen kann; und ich muss nicht genauer auf sie ein­gehen, weil sie im Prinzip jedem geläufig sind. Es wird dann, als Rück­zugs­ge­fecht der natio­nal­staat­lichen Idee, gern von »natio­nalen Min­der­heiten« gesprochen. Aber in Quebec sind die fran­zö­sisch, in Kata­lonien die kata­la­nisch, im Bas­kenland die bas­kisch, in Kur­distan die kur­disch Spre­chenden in der Mehrheit. Sie bilden nur darum eine Min­derheit, weil ihnen der eigene (National-) Staat ver­weigert wird. Was Ludwig von Mises 1927 for­mu­lierte, gilt nach wie vor: »Es ist fürch­terlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerech­tigkeit ver­ber­genden – Ver­folgung durch eine herr­schende Mehrheit aus­ge­setzt ist.«

[06] Werfen wir einen Blick auf ein außer­eu­ro­päi­sches Bei­spiel, wird uns noch ein wei­terer Aspekt deutlich. Das Jahr­tau­sende alte riesige chi­ne­sische Reich mit stark wech­selnder Aus­dehnung beher­bergte eine Vielzahl von Sprachen, Kul­turen, Ethnien. Ein­heitlich war die Schrift als zen­trales Mittel der Ver­waltung. Dass die in der Hin­sicht von Ein­deu­tigkeit und Erlern­barkeit mit so starken Nach­teilen[4] behaftete Bil­der­schrift sich bis heute halten konnte, hat mit dem einen Vorteil zu tun, nämlich dass sie von der gespro­chenen Sprache völlig unab­hängig ist: Sie eignet sich, ein viel­zün­giges Reich zu regieren.

[07] Was wir an diesem Bei­spiel sehen können, ist, dass Sprache und Schrift ein Poli­tikum dar­stellen, und das schon lange vor dem Auf­kommen der Idee des Natio­nal­staats. Sprache und Schrift ist ein Poli­tikum im Rahmen von Herr­schafts­si­cherung und von ver­wal­tungs­prak­ti­schen Über­le­gungen. Dies geht in der Moderne so weit, dass das Verbot der soge­nannten Fraktur-Schrift durch den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Staat 1941 ver­mutlich kei­neswegs etwas mit Hitlers von geschicht­licher Unkenntnis zeu­gender Cha­rak­te­ri­sierung der Fraktur-Schrift als »Juden-Schwa­bacher« zu tun hat, sondern mit der ver­wal­tungs­tech­ni­schen Über­le­genheit der Antiqua-Schrift für das von den Natio­nal­so­zia­listen pro­jek­tierte gro­ß­eu­ro­päische Reich.[5]

[08] Die Kehr­seite der so volks­freundlich, human und befreiend erschei­nenden Idee des Natio­nal­staats ist es, dass er, weil homogene sprachlich-kul­tu­relle Räume meist empi­risch nicht anzu­treffen sind, in brutale Nor­ma­ti­vität umschlägt: Ein bestimmtes Gebiet solle durch Maß­nahmen der Staats­gewalt homo­ge­ni­siert werden, und das heißt vor allem: Die vor­herr­schende Sprache wird zur allein gül­tigen im Staats­gebiet. Zen­trales »Mittel der natio­nalen Ver­ge­wal­tigung« ist für Mises 1927 die staat­liche Zwangs­schule, in der die Mehr­heits­kultur (bei ihm: Sprache der Mehrheit) gelehrt werde. Hier wird klar ersichtlich, dass Mises nicht nur keine Angst vor Par­al­lel­ge­sell­schaften hatte, sie im Gegenteil in das Recht auf Sezession mit ein­schloss. Ohne Schul­pflicht sei »keine Sprach­insel« mehr davon bedroht, »sich bloß darum national ver­ge­wal­tigen zu lassen, weil sie mit dem Haupt­stamm des eigenen Volkes durch keine von Volks­genossen besie­delte Land­brücke in Ver­bindung steht«.[6] An die Stelle des Sprachen­konflikts in national gemischten Ländern können hier eben­sogut die Kon­flikte über Religion oder Kultur ein­ge­setzt werden: Zwangs­be­schulung ist mit Frieden in­kompatibel, egal um welchen Kon­flikt es inhaltlich geht.

[09] Das Hoch­deutsche ist das Para­de­bei­spiel dafür, dass die Her­aus­bildung einer Standard- und Norm­sprache durchaus viel mit den jewei­ligen Herr­schafts­in­ter­essen zu tun hat. Bei einem anderen Geschichts­verlauf hätten Baye­risch, Öster­rei­chisch, Platt­deutsch oder Frie­sisch zur Norm werden können, während unser heu­tiges Hoch­deutsch ein wenig anspre­chender Dialekt wäre. Über­haupt, was ist ein Dialekt? Warum ist das Nie­der­län­dische eine Sprache, das Frie­sische aber ein Dialekt? »Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine«, defi­nierte der jid­dische Sprach­wissenschaftler Max Wein­reich 1944.[7] Die Aner­kennung als Sprache ist ihrer­seits ein Poli­tikum. Ist das Kata­la­nische ein spa­ni­scher Dialekt oder eine eigene Sprache? Beim Bas­ki­schen kann niemand behaupten, dass es irgend­etwas mit dem Spa­ni­schen oder sonst einer indo­ger­ma­ni­schen Sprache zu tun habe. Das Kur­dische wurde vom tür­ki­schen Staat als Sprache zweit­weise gar geleugnet, sein Gebrauch ver­boten; wobei das Verbot natürlich einen Beweis dafür dar­stellte, dass es die Sprache gibt. Das Standard-Irische, das seit 1948 in iri­schen Staats­schulen aus natio­na­lis­ti­schen Gründen gelehrt wird, ohne dass es mehr als eine folk­lo­ris­tische Bedeutung hat, ist niemals eine gespro­chene Sprache gewesen: Es ist eine vom Staat künstlich geschaffene Sprache, der Versuch, ein Desi­derat aus ver­schie­denen tra­di­tio­nellen iri­schen Dia­lekten zu schaffen.

[10] Aus den genannten Gründen könne der Staat, sagte der deutsche Anar­chist Gustav Landauer vor über 100 Jahren,[8] niemals Natio­nal­staat sein, sondern könne sich bloß »in den wun­der­vollen echten Wahn der Natio­na­lität wie in einen Lügen­mantel ein­zu­hüllen«. Aus der Ver­bindung von Nation und Staat ergeben sich, ana­ly­siert Landauer 1909 wie ganz ähnlich Ludwig von Mises 1927, die Natio­na­li­tä­ten­kämpfe innerhalb des Staats; nach Landauer wären »die Ange­le­gen­heiten einer jeden Nation von ihr selbst – das heißt: vom Sprach­verein – zu erle­digen«. Die Staats­kriege werden laut Landauer »durch nationale Über­hit­zungen lüg­ne­risch moti­viert, wo doch nie in Wahrheit ein Krieg um der Sprache und der Sitten willen geführt worden ist. Die Natio­na­lität ist Echtheit und Lie­besbund und Geist genug und braucht keinen Staat, um als Zweck in den Men­schen zu wohnen und aus ihnen heraus ein Gebilde der Schönheit zu schaffen«.[9]

[11] Wir sind qua Sprache bereits mitten in der Dis­kussion des zweiten Kri­te­riums für die angeb­liche Legi­ti­mität eines Natio­nal­staats, der gemein­samen Geschichte. Dieses Kri­terium ist noch weniger zu ope­ra­tio­na­li­sieren als das Kri­terium der Sprache. In umstrit­tenen Grenz­re­gionen ergeben sich durch krie­ge­rische Hand­lungen und das wech­selnde mili­tä­rische Geschick der Gegner häufige und zum Teil zeitlich kurz hin­ter­ein­ander fol­gende Ver­än­de­rungen. 1907 höhnt Gustav Landauer: »Betrachtet man sich diese seltsam zit­ternde, zuckende, krause und ver­rückte Linie, welche die Grenzen eines Staates, wie etwa des Deut­schen Reiches, aus­macht, so gewahrt man sofort, dass in diesem Gebilde eines kin­disch gewor­denen oder geblie­benen Ent­werfers nur ein Strich Wirk­lich­keitssinn hat: die Küste.«[10]

[12] Die Frage bei der Legi­ti­mation eines Staats­ge­bietes durch Geschichte lautet immer: Ab welcher Zeit­dauer einer fak­ti­schen Herr­schaft ist diese als legitim anzu­sehen? Umge­kehrt jedoch fragt sich, ob denn die Geschichte einer lange anhal­tende Herr­schaft das Recht kon­sti­tuiert, die bestehende geo­gra­fische Aus­dehnung eines Staats bei­zu­be­halten? Die Krim gehört seit 1954 zur Ukraine, wird aber von der soge­nannten »über­wie­genden Mehrheit der inter­na­tio­nalen (Staaten-) Gemein­schaft« als deren legi­times Staats­gebiet ange­sehen. Kon­sti­tu­ieren 66 Jahre ein legi­times Staats­gebiet? Die gleiche »über­wie­gende Mehrheit der inter­na­tio­nalen (Staaten-) Gemein­schaft« rümpft dagegen die Nase bei der Zuge­hö­rigkeit von Tibet zur Volks­re­publik China. Seit 61 Jahren. Kata­lonien gehört seit 1714 zu Spanien. Das sind nun über 300 Jahre. Nach einer rein quan­ti­ta­tiven Defi­nition von Legi­ti­mation durch »geschicht­liche« Zuge­hö­rigkeit ein »gutes« Argument gegen ein Recht auf Sezession. Slo­wenien, Kroatien, Bosnien, Kosovo, Tsche­tschenien sollten nach herr­schender Auf­fassung das Recht auf Sezession haben, nicht aber Srpske, Krajina oder Ossetien. Die meisten Kriege und Bür­ger­kriege drehten sich und drehten sich um die Frage von Annexion respektive den Versuch, sie zu ver­hindern beziehungs­weise früher oder später rück­gängig zu machen.

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[13] Weder durch sprach­liche Zuge­hö­rigkeit noch ein gemein­sames geschicht­liches Schicksal lässt sich der legitime Raum eines Staats­ge­bietes klären. Das alleinige fak­tische Kri­terium ist die Fähigkeit eines Staats, sein Gebiet mili­tä­risch gegen äußere Angriffe oder innere Sepa­ra­ti­ons­be­we­gungen auf­recht zu erhalten. Das liberale Ideal dagegen for­mu­liert Ludwig von Mises 1927 als das uni­ver­selle und nicht durch sprach­liche, geschicht­liche oder anderswie als legitim defi­nierte Recht auf Sezession. »Wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines ein­zelnen Dorfes, eines Land­striches oder einer Reihe von zusam­men­hän­genden Land­strichen, durch unbe­ein­flusst vor­ge­nommene Abstim­mungen zu erkennen gegeben haben, dass sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wün­schen, dem sie augen­blicklich ange­hören, sondern einen selbst­stän­digen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzu­ge­hören wün­schen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bür­ger­kriege, Revo­lu­tionen und Kriege zwi­schen den Staaten wirksam ver­hindern.« Mises schränkte hier das Sezes­si­ons­recht aus­drücklich nicht ein bezogen auf die eth­ni­schen, sprach­lichen oder reli­giösen Zuge­hö­rig­keiten. »Es handelt sich«, wie Mises aus­drücklich sagt, »nicht um das Selbst­be­stim­mungs­recht einer national geschlos­senen Einheit«. Weder dürfe ein Natio­nal­staat die Sezession eines Gebietes unter­binden, auch wenn es zur gleichen geschicht­lichen, eth­ni­schen, sprach­lichen oder reli­giösen Einheit gehöre, noch dürfe er »Teile der Nation, die einem anderen Staats­gebiet ange­hören, wider ihren Willen aus ihrem Staats­verband los­lösen und dem eigenen Staat ein­ver­leiben«.[11] Trotz seiner Distan­zierung vom Anar­chismus steht Ludwig von Mises mit seinem Sezes­si­ons­recht eher in der anar­chis­ti­schen, als in der üblichen libe­ralen Tradition.

Das lässt sich leicht ersehen, wenn wir noch einmal Aus­sagen von Bakunin über das Sezes­si­ons­recht anschauen. Sie klingen 1868 geradezu so, als sei der Text von Ludwig von Mises knapp sechzig Jahre später nichts als deren Para­phrase. »Abschaffung des so genannten ›his­to­ri­schen Rechts‹ von Staaten namens des höheren Rechts aller Völker, ob groß oder klein, schwach oder stark, sowie aller Indi­viduen, auf Selbst­be­stimmung in völ­liger Freiheit, ohne Rück­sicht auf Bedürf­nisse und Ansprüche der Staaten und ohne irgendeine andere Ein­schränkung dieser Freiheit als das gleiche Recht anderer«, sagte Bakunin 1868 auf dem Kon­gress der Friedens- und Frei­heitsliga in Bern. er for­derte die »Aner­kennung des Sezes­si­ons­rechts für Indi­viduen genauso wie für Ver­bände, Gemeinden, Pro­vinzen und Nationen – unter der ein­zigen Bedingung, dass die schei­dende Partei durch kein neues Bündnis mit einer fremden und feind­lichen Macht die Unab­hän­gigkeit und Freiheit der zurück­blei­benden Partei gefährde. Das sind die wahren, die ein­zigen Bedin­gungen für Gerech­tigkeit und Freiheit. Wollen unsere deut­schen Freunde sie genauso offen akzep­tieren wie wir? Und, kurz gesagt, wollen sie die Zer­störung des Staats – aller Staaten – so wie wir?« Vor den Prin­zipien behandelt er aktuelle Kon­flikte, wie etwa: »Ich möchte, dass Finnland ganz unab­hängig werde, mit der vollen Freiheit, sich zu orga­ni­sieren, wie es will, und sich zu ver­bünden, mit wem es will. Das­selbe sage ich mit vollem Herzen in Bezug auf die bal­ti­schen Pro­vinzen. Wenden wir uns nun Polen zu. Alle Men­schen, alle Länder, die dem neuen kon­fö­de­rierten Polen ange­hören wollen, sollen Polen sein; der, der es nicht will, soll kein Pole sein. Finden sich unsere deut­schen Freunde bereit, auf ihre so genannten his­to­ri­schen Rechte für den Teil Böhmens zu ver­zichten, den die Deut­schen nicht ger­ma­ni­sieren konnten?«[12]

[14] Die Reaktion auf meine Argu­mente gegen den Natio­nal­staat lautet stan­dard­mäßig, ich würde behaupten, es gäbe nur »das« iso­lierte Indi­viduum (also keine Gemein­schaft, keine Gesell­schaft) und überdies wäre das Indi­viduum völlig frei in der Wahl von Sprache, Geschichte oder Kultur. In Wirk­lichkeit jedoch sei Gemein­schaft für die meisten Men­schen wichtig. Das klingt für mich so, als ob behauptet werde, es gäbe Gemein­schaft, gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur nur in einem Zwangs­zu­sam­menhang, als ergäbe sich Gemein­schaft nur unter der Ägide der Staats­gewalt. Aber gerade das Behar­rungs­ver­mögen von Kultur, Religion und Sprachen von Min­der­heiten unter der Bedrohung bru­taler Homo­ge­ni­sie­rungs­ten­denzen zeigt, dass Gemein­schaft eben keine Funktion der Gewalt, sondern der Frei­wil­ligkeit ist, selbst wenn niemand den Ort und den Zeit­punkt seiner eigenen Geburt wählen kann und auch wenn zudem niemand aus seiner Haut, aus seiner Bio­grafie und aus seiner Geschichte heraus kann. – Das erwähnte Bas­kische ist übrigens ein Bei­spiel dafür, wie lange eine soge­nannte Sprach­insel ohne Staats­gewalt exis­tieren kann. Heute sprechen nur ca. eine Million Men­schen Bas­kisch. Sie sprechen eine Sprache, die sich rund 5.000 Jahre gegen die indo­ger­ma­nische Umgebung behaupten konnte. Ohne Staat, frei­willig.

[15] Nach Gustav Landauer gibt es zwei Bin­dungs­prin­zipien für Gemein­schaft. Zum einen sei das die Gewalt, wie sie der Staat ver­körpert. Zum anderen sei das der »Geist« oder die »Liebe«, wie er es nennt – der Geist der Gemein­schaft, die sich auf Frei­wil­ligkeit statt Staats­gewalt gründet: »Die Liebe ist eine Bereit­schaft und Wirk­lichkeit, die im Men­schen drin sitzt; sie hat die Familie geschaffen«, schreibt Landauer 1907. » So wäre« – laut Landauer – »der Sprach­verband der Nation, wenn der Staat ihn nicht bedrängte und beengte.« So aber sei der Staat nicht, bedauert Landauer: »Der sitzt nicht in den Herzen und See­len­leibern der ihm Ange­hö­rigen.« Denn der Staat »hat keinen Geist, hat nie einem Ding Schönheit geschenkt, hat alles kalt und tot gelassen und gemacht«. Landauer fährt fort, »die Form, in der lebendige Wesen sich zum Bunde gestalten, zu einem höheren Orga­nismus ver­einen, ist Not­wen­digkeit mit dem Gefühl der Frei­wil­ligkeit. Die Form und Unform des Staates aber ist der Zwang und die Gewalt.«[13]

[16] Es geht um mehr Freiheit, nicht um mehr Einheit. Wir sind nicht das Volk. Mia san mia, auf gut Baye­risch gesagt. Die Begriffe Volk und Nation eignen sich nicht, um die Staats­gewalt mit ter­ri­to­rialem Anspruch als Gewalt­mo­nopol zu legi­ti­mieren. Das Recht auf gren­zenlose Sezession anzu­er­kennen bedeutet, den Begriff des legi­timen Staats selber zu dekonstruieren.

[1] Aus einem Brief an die Sek­tionen der Inter­na­tionale im schwei­ze­ri­schen Jura, 1872, Archives Bakounine, hg. von Arthur Lehning, Leiden 1961 bis 1981; Band 2, S. 24.

[2] Aus einem Brief an die Zeitung ›Réveil‹ von 1869. Michael Bakunin, Gesam­melte Werke in drei Bänden,

  1. von Erwin Rholfs (Bd. 1) und Max Nettlau (Bd. 2 und Bd. 3), Berlin 1921. (Nach­druck: Berlin 1975.) Band 3, S. 150.

[3] Brief vom 23. März 1866 an Alex­ander Herzen. Michael Bakunin, Staat­lichkeit und Anarchie und andere Schriften, hg. von Horst Stuke, München 1972, S. 701.

[4] Kein gerin­gerer als Ezra Pound wies darauf hin, dass Chi­ne­sisch die Schrift des Poesie, der Lyrik sei. Doch mit Poesie und Lyrik ist nun mal kein Staat zu machen, und darum wird der lite­ra­rische Vorteil kaum den Aus­schlag für das Behar­rungs­ver­mögen der chi­ne­si­schen Schrift gegeben haben.

[5] Der Wider­spruch zwi­schen deutsch­na­tio­naler und gesamt­eu­ro­päi­scher Per­spektive in der national­sozialistischen Ideo­logie gehört zu den Absur­di­täten des natio­nal­staat­lichen Denkens.

[6] Ludwig von Mises, Libe­ra­lismus, Jena 1927, S. 100.

[7] Max Wein­reich (1894–1969).

[8] Letztes Jahr vor 100 Jahren wurde er ermordet.

[9] Gustav Landauer, Volk und Land (1907), in: ders, Beginnen (1921 posthum hg. v. Martin Buber), Wetzlar 1977, S. 12ff.

[10] Ebenda.

[11] Libe­ra­lismus, S. 96f.

[12] Michael Bakunin, ›Die Bekämpfung des Zarismus‹, hg. v. Ernst Drahn (fran­zö­sisch, mit einer Teil­über­setzung in der Ein­leitung), Berlin 1925, S. 21ff. Dies ist übrigens die Rede, auf Grund derer Marx Bakunin vorwarf, ein »Pan­slawist« zu sein.

[13] Landauer, ebd. (Anm. 10).

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Stefan Blan­kertz, 1956, Wortmetz, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt. Roth­bardero seit 1980 – www.murray-rothbard-institut.de.


Quelle: misesde.org