Die Auswirkungen des Coronavirus auf die Weltwirtschaft beherrschen immer mehr die Schlagzeilen. Da die russische Wirtschaft anders strukturiert ist, als zum Beispiel die deutsche, wird in Russland durchaus anders über die Gefahren und die Gründe der nun aufkommenden wirtschaftlichen Probleme berichtet.
In der TASS hat dazu ein Experte eine Einschätzung geschrieben. Nach seiner Meinung war die Krise durchaus vorhersehbar und das Coronavirus war nur der Tropfen, der das Fass zu überlaufen gebracht. Übrigens ist das – wie ich immer wieder geschrieben habe – auch meine Meinung. Dazu finden Sie zum Beispiel hier und hier Einschätzungen von mir, die sich sehr mit dem decken, was auch der Experte in der TASS geschrieben hat: Die Krise kommt nicht unerwartet.
Die Einschätzung in der TASS kommt von Michail Khanov, dem Chef von Algo-Kapital. Das ist in Deutschland kaum jemandem ein Begriff, dabei ist dieser russischer Investmentfond von der Barcleys Bank 2018 in die Liste der Top-10 der weltweit besten Fonds aufgenommen worden. Für wirtschaftlich interessierte Menschen ist die Lektüre seiner Analyse interessant, da er in wichtigen Details zu anderen Schlüssen kommt, als ich sie in westlichen Medien in der Regel finde. Daher habe ich die in der TASS veröffentlichte Einschätzung übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Der unerwartete Ausbruch des asiatischen Coronavirus ist Anfang 2020 zu einem wichtigen Nachrichtenthema geworden. Die bisher unbekannte Infektion wurde über Nacht zu einem globalen Problem. Die Nachrichten zu diesem Thema sind nicht so sehr medizinischer Natur, denn dieses Ereignis hat bereits sichtbare wirtschaftliche Schocks auf globaler Ebene verursacht, die sich in den nächsten Quartalen zeigen und entwickeln werden.
Man muss vorausschicken, dass das Virus 2019-nCoV eine weniger gefährliche Krankheit ist, ähnlich wie die bekannte Influenza oder Tuberkulose. Zumindest die Sterblichkeit durch diese bisher unbekannte Krankheit ist niedriger als bei diesen Krankheiten. (Anm. d.Übers.: Da bin ich durchaus anderer Meinung, wie ich hier aufgezeigt habe, aber es gibt noch keine endgültigen Zahlen zur Gefährlichkeit des Coronavirus)
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Der unvorhersehbare „schwarze Schwan“
Der praktisch orientierte Investor und Spekulant interessiert sich jedoch mehr nicht für medizinische Feinheiten, sondern für die Auswirkungen des Coronavirus auf die Weltwirtschaft. Zweifellos erleben wir ein sehr lehrreiches, sozioökonomisches Phänomen, das bereits starke Auswirkungen auf die Rohstoff- und Aktienmärkte hatte.
Zunächst einmal muss man beachten, dass die Coronavirus-Epidemie zu einer Zeit ausbrach, als die Märkte eindeutig für fallende Kurse bereit waren. Erfahrene Investoren und Spekulanten haben nur auf ein Signal gewartet, um den aktiven Verkauf von Aktien und Rohstoff-Futures zu starten. Es ist wahrscheinlich, dass unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen das Auftreten einer neuen Krankheit nicht zu einer derart empfindlichen Reaktion seitens der Händler geführt hätte. Man nimmt an, dass die Weltwirtschaft und die Aktienmärkte bereits Anfang 2020 am Rande einer starken Rezession standen. Der Ausbruch des Coronavirus war nur der letzte Tropfen, der den überfälligen Trend sichtbar machte und ihm zusätzliche Beschleunigung gab.
Bemerkenswert ist, dass sich der erwartete „schwarze Schwan“ erneut als für viele Anleger unvorhersehbarer Faktor erwies. Zu Beginn dieses Jahres hätte ein starker Rückgang der Märkte auch infolge von Handelskriegen, dem Brexit oder dem Beginn eines großen militärischen Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran stattfinden können. Heute erinnern sich nur noch wenige an diese Bedrohungen.
Übrigens spielte die letzte „Option“ fast ihre vermeintlich negative Rolle. Wir konnten einen klaren „Fehlstart“ erleben, nach dem es den wichtigsten US-Aktienindizes und dem russischen Rubel-Index der Moskauer Börse gelungen ist, ihre historischen Höchststände immer wieder zu erreichen. Anfang Januar verzichteten die Vereinigten Staaten auf den Einsatz militärischer Gewalt im Nahen Osten zugunsten verstärkter Sanktionen gegen die unnachgiebige Islamische Republik. Dennoch markierte eine relativ erfolgreiche Lösung dieser Situation den Beginn eines mittelfristigen Rückgangs der Ölpreise. Später verstärkte sie sich, als die Panik über das „lebensgefährliche“ Coronavirus ausbrach.
Die schmerzhafte Reaktion der Aktienmärkte auf das Coronavirus 2019-nCoV ist durch psychologische Faktoren zu erklären. Investoren und Spekulanten treffen Entscheidungen auf der Grundlage von Erwartungen. In dieser Hinsicht stimmen die alarmierenden Berichte durchaus mit starken Marktbewegungen überein.
Der Schock für die „Werkbank der Welt“
Das Paradoxe ist jedoch, dass diese nicht allzu gefährliche Krankheit einen schweren wirtschaftlichen Schock im realen Sektor von Chinas Wirtschaft verursacht hat. Darüber hinaus beginnt dieser Schock, wie Kreise auf dem Wasser, sich in der gesamten Weltwirtschaft auszudehnen. Es ist kein Geheimnis, dass das moderne China lange und zu Recht als „Werkbank der Welt“ galt. Das BIP dieses Landes wird nach wie vor weitgehend durch die reale Entwicklung materieller Werte generiert. Die industrielle Produktion macht etwa ein Drittel des chinesischen BIP aus. Der Dienstleistungssektor ist ähnlich groß.
Zum Vergleich: Ende 2018 betrug der Anteil der Industrie am BIP der USA nur 14,8 Prozent und der Anteil der Dienstleistungen betrug 55,5 Prozent. Es liegt auf der Hand, dass die Endmontagewerke in den Industrieländern auf Komponenten basieren, die in China hergestellt werden. Daher scheinen die Prozesse, die in Chinas Wirtschaft stattfinden, eine recht realistische Widerspiegelung der Trends der gesamten Weltwirtschaft zu sein.
Chinas BIP-Wachstum ist seit einem Jahrzehnt, nämlich seit 2010, rückläufig. Damals war Chinas Wirtschaft nach der Krise von 2008 merklich „galoppiert“. Eine vorherige Wachstumswelle wurde in den frühen 2000er Jahren beobachtet, als die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise von 1997–1998 überwunden wurden. Dieses Bild passt gut in den Rahmen des bekannten theoretischen Konzepts zehnjähriger Konjunkturzyklen. Mit anderen Worten, die Coronavirus-Infektion fiel mit einem sehr überfälligen und natürlichen zyklischen Rückgang zusammen, den man etwa alle zehn Jahre sieht.
Nach dieser Logik stehen wir am Rande eines zyklischen Rückgangs der chinesischen und der Weltwirtschaft. Der Rückgang der weltweiten Produktion bedeutet auch eine vorübergehende Verringerung des weltweiten Verbrauchs der meisten industriellen Rohstoffe und Energie. Diese negativen Prozesse können ein bis zwei Jahre dauern.
Was geschieht jetzt in China? Wir werden die geschäftsmäßigen Erklärungen aus Peking, dass die Infektion unter Kontrolle gebracht und der wirtschaftliche Abschwung im Land schnell überwunden werden wird, nicht beachten. Wir schauen auf eine der neuesten offiziellen chinesischen Statistiken.
Anfang März wurde bekannt, dass der Wert des Index der Geschäftstätigkeit im verarbeitenden Gewerbe Chinas gegenüber dem Februarwert von 51,1 Punkten stark auf 40 Punkte gesunken ist. Wenn der Wert unter 50 fällt, sieht eine Mehrheit der Experten eine negative Entwicklung voraus. In den vergangenen Monaten war der Wert vom Februar 2019 der niedrigste. Da waren es 48,3 Punkte. Übrigens sind auch die neuen Statistiken aus dem benachbarten Hongkong sehr enttäuschend. Die monatlichen Einzelhandelsumsätze gingen dort um 21,4 Prozent zurück.
Wir sind also Zeugen recht objektiver Beweise dafür, dass die reale Produktion und der Handel in China ernste Probleme haben. Ein weiterer interessanter Zufall war, dass die Coronavirus-Epidemie mit den langen Feiertagen des chinesischen Neujahrsfestes zusammenfiel. Während dieser traditionell langen Feierlichkeiten werden viele Fabriken vorübergehend geschlossen. Diesmal nahm ein erheblicher Teil von ihnen die Arbeit nach den Neujahrsfeiern nicht wieder auf.
Die ersten Berichte zu diesem Thema kamen von einer Reihe großer Automobilhersteller wie BMW, Volkswagen und Volvo. Später kündigte Toyota auch die Schließung seiner Fabriken in China an. Und Hyundai und Kia haben sehr bald auch ihr Produktion in Südkorea reduziert. Darüber hinaus meldete Fiat Chrysler den möglichen Produktionsstopp einer Fabrik, weil chinesische Teile für die Endmontage fehlten. Auch die rivalisierenden Tech-Giganten Apple und Samsung mussten die Produktion in chinesischen Fabriken vorübergehend einstellen.
Nach einer Weile berichteten die Medien, dass chinesische Rohstoffhändler begannen, zuvor vertraglich vereinbarte Lieferungen von Industriemetallen und Flüssigerdgas nicht abzunehmen.
Die Spitze des Eisbergs
Die Pause bei der Herstellung so komplexer Endprodukte wie Autos oder Unterhaltungselektronik ist nur die Spitze des Eisbergs. Solche Tatsachen bedeuten einen Produktionsstopp in der gesamten Kette der Hersteller zahlreicher Komponenten. Die Kehrseite dieses Prozesses werden unweigerlich Störungen in Produktionsstätten weltweit sein, die mit chinesischen Komponenten arbeiten.
Anscheinend werden wir ab Anfang April massenhafte Veröffentlichungen schwacher Quartalsberichte großer multinationaler Konzerne sehen, die die Aktienkurse zusätzlich unter Druck setzen werden. Noch später werden die Echos davon in den Jahresabschlüssen zu finden sein.
Es gibt Berichte aus China, dass die Regierung fordert, dass lokale Produktions- und Exportunternehmen ihre Tätigkeit sofort wieder aufnehmen. Anscheinend werden ziemlich rabiate Methoden eingesetzt, ganz im asiatischen Stil. Gleichzeitig wurden eine Reihe von geldpolitischen Maßnahmen angekündigt, um Chinas wirtschaftliche Erholung anzukurbeln. Die ganze Komplexität der gegenwärtigen Situation liegt jedoch darin, dass sie nicht mit dem üblichen Mittel, einfach billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen, gelöst werden kann.
Früher sind Epidemien wie das Coronavirus nicht über bestimmte Regionen und Branchen hinausgegangen. Nun hat dieser Ausbruch der Weltwirtschaft einen schweren Schlag versetzt. In der gegenwärtigen Situation kann man nur hoffen, dass China als „Werkbank der Welt“ seinen Motor wieder in Gang bringt und aktiv die Verluste aufholt.
Ende der Übersetzung
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“
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