Bild: Flag of South Tyrol.svg, Attribution 3.0 Unported (CC BY 3.0), https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/, F l a n k e r - Own work

Für mehr Schutz auto­chthoner Minderheiten

Eine Bür­ger­initiative fordert über Internet die EU heraus 

(von Reynke de Vos)

Seit der in meh­reren Auf­lagen erschie­nenen grund­le­genden Buch­pu­bli­kation „Die Volks­gruppen in Europa“( https://www.verlagoesterreich.at/die-volksgruppen-in-europa-pan/pfeil/videsott-978–3‑7046–7224‑7 ), wofür drei nam­hafte Experten des in Bozen behei­ma­teten Süd­ti­roler Volks­gruppen-Instituts ver­ant­wortlich zeichnen, wissen alle, die es wissen wollen, dass zwi­schen Atlantik und Ural 768 Mil­lionen Men­schen in 47 Staaten leben, wovon 107 Mil­lionen – mithin jeder siebte Bewohner Europas — Ange­hörige von Min­der­heiten sind. Bei diesen Mino­ri­täten handelt es sich nicht um sozio­lo­gisch unter­suchte „moderne“ Erschei­nungen wie Ange­hörige gesell­schaft­licher oder sexu­eller Rand­gruppen, welche heut­zutage auf­grund ange­nom­mener oder tat­sächlich vor­han­dener Diver­si­täts­merkmale die poli­tisch-publi­zis­tische Main­stream-Auf­merk­samkeit genießen. Es handelt sich auch nicht um Min­der­heiten, die auf­grund von Anwerbung („Gast­ar­beiter“) oder Migration in ihre Wohn­sitz­länder gekommen sind und dort auf poli­tische Aner­kennung und recht­liche Fixierung eines bean­spruchten (und oft nicht von allen ihrer Lands­leute geteilten) Min­der­hei­ten­status aus sind. Nein, vielmehr handelt es sich um auto­chthone, his­to­risch ver­wur­zelte eth­nische sowie sprach­kul­turell und/oder religiös von ihren eigent­lichen natio­nalen Gemein­schaften getrennte und damit in fremd­na­tio­naler Umgebung, sohin unter den dor­tigen Staats­na­tionen, zu leben gezwun­genen Min­der­heiten, die oft auch als Volks­gruppen bezeichnet werden.

Europa ist überaus reich an Völkern, Volks­gruppen, Kul­turen und Sprachen; sie sind sozu­sagen kon­sti­tu­tives Element des Kon­ti­nents. Dies gilt zuvor­derst auch für die 27 (Noch-)Mitgliedstaaten von EUropa, in denen sich seit langem und immer wieder Mino­ri­täten zu Wort melden, die nicht nur sprachlich-kul­tu­relle und reli­giöse Eigen­heiten, sondern ihre gesamte gesell­schaftlich-recht­liche Existenz durch Maß­nahmen ihrer „Wirts­na­tionen“ bedroht sehen, welche auf Akkul­tu­ration, Assi­mi­lation und in letzter Kon­se­quenz auf Ent­na­tio­na­li­sierung respektive Homo­ge­ni­sierung aus­ge­richtet sind. Zur Sicherung ihrer Existenz und zur Erhaltung ihrer (Eigen-)Art, somit ihrer nationalkulturellen/nationalreligiösen Iden­tität, bedürfte es einer Ergänzung der in Men­schen­rechts­charta sowie Verfassungen

ver­bürgten Gleich­be­rech­tigung der Indi­viduen durch das „Prinzip der Gleich­be­rech­tigung von Völkern und Ethnien“. Wenn­gleich damals rigorose Ver­treter auf­wal­lenden Natio­na­lismus lar­moyant vom „Völ­ker­kerker“ schwa­dro­nierten, kannte just das alte Öster­reich-Ungarn dieses Prinzip und verfuhr danach.

Feh­lender Volksgruppenschutz

Für die heu­tigen Ver­hält­nisse in EU-Staaten mit immer wieder auf­tre­tenden Natio­na­li­tä­ten­kon­flikten – ich nenne hier stell­ver­tretend für viele andere nur Basken/Katalanen in Spanien bzw. Flamen/Wallonen in Belgien — wären Instru­mente zur Ver­wirk­li­chung gleich­be­rech­tigter „natio­naler Part­ner­schaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en nicht nur geeignet, sondern geradezu eine Art „Befrei­ungs­schlag“. Not­wendig wären in der EU über­na­tional gel­tende, kol­lektive Volksgruppen(schutz)rechte, mithin Rechts­in­stru­men­tarien für auto­chthone Min­der­heiten, und das Zuge­stehen von (Territorial‑, Kultur- bzw. Per­sonal- und/oder Lokal-)Autonomie, gebunden an sta­tu­ta­risch gere­gelte Formen von Selbstverwaltung.

Nichts der­gleichen ist in zen­tral­staatlich orga­ni­sierten und regierten Staaten EUropas auch nur ansatz­weise denkbar. Wenn bei­spiels­weise die eth­ni­schen Ungarn in Siebenbürgen/Rumänien Auto­nomie etwa nach Maß­stäben der Selbst­ver­waltung ver­langen, wie sie die Süd­ti­roler (nach erbit­terten Kämpfen mit dem römi­schen Zen­tral­staat) in Gestalt einer Auto­nomen Provinz errangen, so werden sie von allen natio­nal­ru­mä­ni­schen Kräften des Landes, ganz gleich, ob sie in Bukarest regieren oder oppo­nieren, des Sepa­ra­tismus und des Revi­sio­nismus bezichtigt. Von Beginn an, also seit den Römi­schen Ver­trägen von 1957, hat sich das supra­na­tionale Gebilde, das heute unter „Euro­päische Union“ (EU) fir­miert, nicht um Min­der­heiten-Fragen gekümmert, sondern sie – beque­mer­weise – zum Objekt insti­tu­tio­neller Zustän­digkeit des Euro­parats erklärt und damit kur­zerhand ignoriert.

Zen­tral­staat­liche Bremser, linke Utopisten

Das kam/kommt nicht von ungefähr. Nach­gerade am Ver­halten einiger west­eu­ro­päi­scher Regie­rungen gegenüber den Selb­stän­dig­keits­be­stre­bungen der Slo­wenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völ­ker­recht­lichen Aner­kennung ihrer staat­lichen Gemein­wesen, ja mit­unter auch noch danach) war im Gefolge von Umbruch und Zei­ten­wende 1989/90 augen­fällig geworden, dass die Furcht vor Sepa­ra­tismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich nach dem Zweiten Welt­krieg zunächst ver­brei­tenden Zuver­sicht her, wonach im Zuge der Euro­päi­sierung die Natio­nal­staaten all­mählich ver­schwänden und somit die „nationale Frage” gleichsam als Erscheinung des 19. Jahr­hun­derts über­wunden würde. Vor allem Linke, Liberale und Grüne, mit­unter auch Christ­de­mo­kraten in West- und Mit­tel­europa leis­teten mit der theo­re­tisch-ideo­lo­gi­schen Fixierung auf die Pro­jektion der „mul­ti­kul­tu­rellen Gesell­schaft“ einer geradezu selbst­be­trü­ge­ri­schen Blick­ver­engung Vor­schub, indem sie vor­gaben, mit deren Eta­blierung sei die infolge zweier Welt­kriege ent­gegen dem Selbst­be­stim­mungs­recht erfolgte Grenz­ziehung quasi auto­ma­tisch auf­ge­hoben. Dabei hatte just die macht­po­li­tische Ignoranz his­to­risch-kul­tur­räum­licher Bindung, eth­ni­scher Zusam­men­ge­hö­rigkeit sowie der gewach­senen Sprach­grenzen ins­be­sondere nach dem Ersten Welt­krieg zu spe­zi­fi­schen Min­der­hei­ten­si­tua­tionen geführt, deren Kon­flikt­po­tential bis in unsere Tage fortwirkt.

Frank­reich gilt geradezu als Inkar­nation des natio­nal­staat­lichen Zen­tra­lismus. Weshalb viele der 370 .000 Bre­tonen mit Sym­pathie die nach dem Brexit wieder ver­nehm­licher wer­denden Töne der schot­ti­schen Unab­hän­gig­keits­be­wegung ver­folgen, welche im Refe­rendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähn­liches gilt für die 150 .000 Korsen.

Unab­hän­gig­keits­ver­langen

In Spanien bekunden besonders die gut 8 Mil­lionen Kata­lanen (in Kata­lonien, Valencia und Andorra) sowie 676 .000 Basken (im Bas­kenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigen­staat­lichkeit zu erlangen. Davon wäre natur­gemäß auch Frank­reich betroffen, denn jen­seits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55 .000 Men­schen zum bas­ki­schen Volk. Der 2015 von der bas­ki­schen Regio­nal­re­gierung ver­ab­schiedete Plan „Euskadi Nación Europea” enthält das Recht auf Selbst­be­stimmung und sieht ein bin­dendes Refe­rendum vor.

In Belgien hat sich der (nicht nur sprach­liche) Kon­flikt zwi­schen nie­der­län­disch­spra­chigen Flamen und fran­zö­sisch­spra­chigen Wal­lonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten insti­tu­tio­nellen Krise aus­ge­wachsen. Von den 5,8 Mil­lionen Flamen (52,7 Prozent der Bevöl­kerung), die sich öko­no­misch gegen die Ali­men­tierung der „ärmeren“ Wal­lonie (3,9 Mil­lionen Wal­lonen; 35,8 Prozent der Bevöl­kerung) wenden und zuse­hends für die Eigen­staat­lichkeit ein­treten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des bel­gi­schen Zen­tral­staats aus. (Die Deutsch­spra­chige Gemein­schaft, ein von 87.000 Men­schen (0,8 Prozent der Bevöl­kerung Bel­giens) bewohntes Gebilde mit auto­nomer poli­ti­scher Selbst­ver­waltung, eigenem Par­lament und eigener Regierung, ent­standen auf dem nach Ende des Ersten Welt­kriegs abzu­tre­tenden Gebiet Eupen-Malmedy, gehört zwar formell zur Wal­lonie, hält sich aber aus dem flä­misch-wal­lo­ni­schen Kon­flikt weit­gehend heraus.)

Außerhalb Ita­liens werden die Unab­hän­gig­keits­ver­langen im Norden des Landes meist unter­schätzt und weit­gehend aus­ge­blendet. Die poli­tische Klasse in Rom muss hin­gegen ange­sichts regio­naler Ero­si­ons­er­schei­nungen befürchten, dass Bestre­bungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So betei­ligten sich im Veneto 2,36 Mil­lionen Wahl­be­rech­tigte (63,2 Prozent der regio­nalen Wäh­ler­schaft) an einem Online-Refe­rendum zum Thema Unab­hän­gigkeit Vene­tiens, von denen 89,1 Prozent –- das waren immerhin 56,6 Prozent aller Wahl­be­rech­tigten –- auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unab­hängige und sou­veräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ ant­wor­teten. In der lombardisch-„padanischen“ Nach­bar­schaft zündelt die Lega immer wieder mit Unab­hän­gig­keits­ver­langen und strebt ein aus der Lom­bardei, Piemont und Venetien zu bil­dendes Unab­hän­gig­keits­bündnis an, das derzeit „pau­siert“, weil die Füh­rungs­ge­stalt Matteo Salvini auf­grund poli­ti­scher Fehl­ein­schätzung seiner „gesamt­na­tio­nalen Zug­kraft“ poli­tisch ins Hin­ter­treffen geraten ist.

Die EU hat – via Ent­wick­lungs­schritte EWG und EG – also keine wirklich sub­stan­ti­ellen Volks­gruppen-Schutz­maß­nahmen ergriffen, weil zen­tra­lis­tisch orga­ni­sierte Natio­nal­staaten wie Frank­reich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prin­zi­piell ablehnend gegen­über­stehen. Besonders hin­sichtlich Rumä­niens ist bei­spiels­weise darauf zu ver­weisen, dass das Ver­langen der ungefähr 1,4 Mil­lionen eth­ni­schen Ungarn – und ins­be­sondere der rund 700 .000 Székler – nach Auto­nomie von der gesamten poli­ti­schen Klasse des Staats­volks sofort als Sezes­si­ons­begehr und „Revision von Trianon“ gebrand­markt wird. (Gemäß dor­tigem Frie­dens­diktat hatte Ungarn 1920 zwei Drittel seines Ter­ri­to­riums ver­loren.) Frank­reich (am 7. Mai 1999) und Italien (am 27. Juni 2000) haben zwar die 1992 vom Euro­parat ver­ab­schiedete und – bezogen auf die realen Aus­wir­kungen für die jewei­ligen Staats­na­tionen – relativ „harmlos“ blei­bende „Euro­päische Charta der Regional- oder Min­der­hei­ten­sprachen“ unter­zeichnet; rati­fi­ziert und in Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.

Solange das Manko auf­recht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“ ( als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche ver­stehen), in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kol­lek­tiven Schutz­rechte ent­behren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unter­schät­zender Unru­he­faktor sein. Ent­täuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abge­sehen von dem den Volks­gruppen vom Euro­päi­schen Par­lament 1991 dekla­ra­to­risch zuge­stan­denen „Recht auf demo­kra­tische Selbst­ver­waltung“, womit „kom­munale und regionale Selbst­ver­waltung bezie­hungs­weise Selbst­ver­waltung ein­zelner Gruppen“ zu ver­stehen ist, und abge­sehen vom 2007 unter­zeich­neten Vertrag von Lis­sabon, mit­hilfe dessen erstmals die „Rechte der Ange­hö­rigen von Min­der­heiten“ (als Teil der Men­schen­rechte) als Artikel 2 EUV in den soge­nannten „EU-Wer­te­kanon“ auf­ge­nommen worden sind, hat sich just das supra­na­tionale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürf­nisse aller natio­nalen Min­der­heiten ste­henden über­in­di­vi­du­ellen, also kol­lektiv ein­klag­baren Schutz­rechten weithin entzogen.

Erhaltung regio­naler Kulturen“

Alldem soll nun eine „Euro­päische Bür­ger­initiative“ abhelfen. Sie ging ursprünglich von den in Sie­ben­bürgen behei­ma­teten Szé­klern, einem alt­ein­ge­ses­senen magya­ri­schen Volks­stamm, aus, und hat als „Initiative zur Erhaltung der regio­nalen Kul­turen“ bislang mehr als 1,2 Mil­lionen zustim­mende Unter­schriften gesammelt. Zunächst wollte die EU-Kom­mission diese Initiative nicht nur abwürgen, sondern gar nicht erst zulassen. Unter­stützt von der Regierung Orbán ver­klagten die Orga­ni­sa­toren die Kom­mission vor dem Euro­päi­schen Gerichtshof und erhielten recht, wor­aufhin Brüssel genötigt war, die Ange­le­genheit zu genehmigen.

Die Orga­ni­sa­toren hoffen, zwei Mil­lionen Unter­schriften bzw. über den Internet-Link

https://eci.ec.europa.eu/010/public/#/initiative

zu erlan­gende Zustim­mungs­er­klä­rungen aus ins­gesamt min­destens sieben EU-Mit­glied­staaten vor­legen zu können. Vorerst fehlt noch in vier von sieben Ländern die erfor­der­liche Min­dest­anzahl von Unter­schriften, wohin­gegen in Ungarn, in Rumänien sowie in der Slo­wakei schon weit mehr als die jewei­ligen Quoren erreicht sind. Die Initia­toren setzen daher nunmehr vor­nehmlich ihre Hoff­nungen auf weitere Zustimmung aus Irland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Öster­reich und Italien, wo nicht zuletzt aus Süd­tirol viel Sym­pathie zu erwarten sein dürfte.