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Kau­kasus: Kampf der impe­rialen Träume

Während sich der Staub nach den jüngsten Kämpfen in Trans­kau­kasien legt, werden wir mög­li­cher­weise Zeugen der Ent­stehung einer grö­ßeren Kata­strophe, die weitere Teile des west­asia­ti­schen Bogens der Insta­bi­lität vom Kas­pi­schen Becken bis zum Mit­telmeer trifft.

(von Amir Taheri)

Erinnern wir uns kurz an die Geschehnisse.

Irgendwann im Jahr 2018 bot der tür­kische Prä­sident Recep Tayyip Erdogan seinem aser­bai­dscha­ni­schen Amts­kol­legen Ilham Aliev an, ihm bei der Rück­eroberung der Enklave Berg-Karabach zu helfen, die Anfang der 1990er Jahre, kurz nach dem Zerfall des Sowjet­im­pe­riums, von den arme­ni­schen Nachbarn erobert worden war. Ankara startete ein Sofort­pro­gramm zur Aus­bildung und Bewaffnung der neu geschaf­fenen aser­bai­dscha­ni­schen Armee, die aus den in die Höhe schnel­lenden Ölein­nahmen Aser­bai­dschans finan­ziert wurde. Die Tat­sache, dass das so genannte Minsk-Trio, die Ver­ei­nigten Staaten, Frank­reich und Russland, das den Status quo garan­tierte, das Interesse an der ganzen Sache ver­loren hatte, ermög­lichte es Erdogan, die neue und noch zer­brech­liche ase­rische Republik mit Hilfe von über 100 tür­ki­schen Beratern und etwa 300 syri­schen Dschi­hadis, die Teil einer tür­ki­schen Frem­den­legion sind, auf eine kriegs­taug­liche Basis zu stellen.

In der Zwi­schenzeit hatten die auf­ein­ander fol­genden arme­ni­schen Regie­rungen die Ver­tei­di­gungs­be­dürf­nisse der neuen Nation ver­nach­lässigt, da sie glaubten, Russland werde immer da sein, um Armenien zu beschützen, wie es dies seit dem 18. Jahr­hundert getan hatte. Etwas mehr als ein Monat Kampf trieb die Armenier an ver­schie­denen Fronten in die Defensive und dann in die Nie­derlage. Doch als die aser­bai­dscha­ni­schen und tür­ki­schen Ver­bün­deten sich auf den letzten, ver­nich­tenden Schlag vor­be­rei­teten, griff Russland ein, indem es die Führer von Baku und Eriwan nach Moskau rief, um einem ver­wor­renen Waf­fen­still­stand zuzu­stimmen, der zwar die Kämpfe beendete, aber die tiefen Ursachen des Kon­flikts unan­ge­tastet ließ. In typi­scher Manier oppor­tu­nis­ti­scher Mächte nutzte Russland die Gele­genheit, seine bereits in Armenien vor­handene bedeu­tende mili­tä­rische Präsenz auch auf Aser­bai­dschan aus­zu­dehnen. Nach dem Mos­kauer Abkommen wird eine rus­sische “frie­dens­er­hal­tende” Truppe die Kon­trolle über die Waf­fen­still­stands­linie sowie über die Grenzen Aser­bai­dschans und Arme­niens zum Iran übernehmen.

Unter dem Strich haben die Aser­bai­dschaner nicht viel gewonnen. Der größte Teil der umstrit­tenen Enklave, ins­be­sondere ihre Haupt­stadt Ste­pa­nakert (Khan Kandi auf aze­risch), bleibt außerhalb ihrer Kon­trolle, während ein guter Teil ihres eigenen Ter­ri­to­riums, ins­be­sondere die Land­route zwi­schen dem eigent­lichen Aser­bai­dschan und seiner “auto­nomen” Enklave Nach­it­schewan, unter rus­sische Kon­trolle fällt.

Armenien ver­liert sechs Sied­lungen, während min­destens die Hälfte der eth­nisch arme­ni­schen Bevöl­kerung Berg-Kara­bachs sich zur Flucht ent­schlossen hat und vielfach ihre Dörfer nie­der­brannte. Noch schlimmer ist, dass Eriwan nun Moskau kon­sul­tieren, anhören und gehorchen muss, bevor es in Zukunft Rache­ver­suche unter­nehmen kann. Die Bot­schaft ist klar: Trans­kau­kasien war zwei Jahr­hun­derte lang ein rus­si­sches Pro­tek­torat und wird nun wieder zu einem rus­si­schen Glacis.

All dies mag daran erinnern, was Putin mit einigen anderen soge­nannten “nahen Nachbarn” Russ­lands getan hat. Er hat die Halb­insel Krim annek­tiert und aus dem ost­ukrai­ni­schen Donezk ein Lehen her­aus­ge­schnitzt. Er hat die geor­gische Enklave Süd­os­setien annek­tiert und ein wei­teres Lehen in Abchasien geschaffen. Er hat ein ähn­liches Lehen im Osten Mol­da­wiens unter rus­si­schem Schutz kreiert und sitzt Lettland mit seiner mili­tä­ri­schen Auf­rüstung im Nacken.

Und doch könnte sich Putin als einer der Ver­lierer in diesem töd­lichen Spiel erweisen.

Zunächst einmal könnte der Minisieg, den er gegen Armenien errungen hat, Erdogans Appetit auf weitere Erobe­rungen geweckt haben. Pro-Erdogan-Zei­tungen in der Türkei über­schlagen sich in Lob­hu­de­leien über den “Sieg im Kau­kasus”, da es den Türken zum ersten Mal seit dem Ende des Osma­ni­schen Reiches gelungen ist, einen Teil des Islamdoms von der Herr­schaft der “Ungläu­bigen” zu “befreien”. Acht­und­vierzig Stunden nach dem Waf­fen­still­stand bat Erdogan das tür­kische Par­lament, ihm die Ent­sendung einer Expe­di­ti­ons­truppe nach Aser­bai­dschan zu gestatten. Eine tür­kische Mili­tär­präsenz in Trans­kau­kasien könnte die Gefahr einer direkten Kon­fron­tation zwi­schen Moskau und Ankara mit sich bringen, die sich bereits an einer Reihe anderer Orte, ins­be­sondere in Syrien, Libyen und im Kosovo, im Kon­flikt befinden.

Schlimmer noch für Putin: Erdogan hat bereits ange­deutet, dass er seine Frem­den­legion der Dschi­hadis in den Schutz “mus­li­mi­scher Länder” ein­be­ziehen will. Die Mos­kauer Tages­zeitung Neza­vi­simaya Gazeta zitiert rus­sische Mili­tär­ex­perten, die davor warnen, dass Erdogan ein Auge darauf haben könnte, Ärger unter den Krim­ta­taren zu schüren, die bereits mit der rus­si­schen Annexion unzu­frieden sind. Ein kürz­licher Besuch eines Herrn, der sich als Thron­folger der Krim im Namen der Dynastie der Develt Giray-Tataren ausgibt, die im Mit­tel­alter in Baghche-Sarai regierten, wurde in Ankara hoch gelobt. (Krim­ta­taren wurden von Stalin mas­senhaft nach Sibirien trans­por­tiert, durften aber unter Chruscht­schow in den 1950er Jahren zurückkehren).

Die Region ist voller mus­li­mi­scher Länder, die von der Kon­trolle durch die rus­si­schen “Ungläu­bigen” “befreit” werden sollen, ins­be­sondere Dagestan, Tsche­tschenien, Ingu­schetien und Karat­schai-Tscher­kessien, ganz zu schweigen von den bevöl­ke­rungs­rei­cheren auto­nomen Repu­bliken Tatarstan und Baschkortostan.

Unmit­tel­barer betrachtet, könnten Erdogans Ambi­tionen die Existenz Arme­niens bedrohen. Die Türken werfen den Arme­niern vor, dem Osma­ni­schen Reich im Ersten Welt­krieg in den Rücken gefallen zu sein, indem sie sich auf die Seite Russ­lands stellten. Es ist kein Zufall, dass Ankara die Erin­nerung an das so genannte Iravan (Eriwan auf Arme­nisch) Khanat wie­der­belebt hat, einen Mini-Staat unter einem selbst­er­nannten tür­ki­schen Khan, der während der Zeit des ira­ni­schen Nie­der­gangs unter den Kad­scharen eine kurze Existenz genoss.

Mehrere Mos­kauer Zei­tungen sagen, dass Erdogans anschwel­lender Ehrgeiz sowohl für Russland als auch für Armenien gefährlich sei.

Indem er seinen Dschi­ha­dismus der Mus­lim­bru­der­schaft mit pan-tür­ki­schen Themen ver­mischt, die an Enver Pascha erinnern, hofft Erdogan, das Atatürk-Nar­rativ durch ein neues Nar­rativ des reli­giösen Natio­na­lismus zu ersetzen. Es ist kein Zufall, dass er auch seine anti-west­liche Rhe­torik schärft und seine Bezie­hungen zu den Grauen Wölfen, einer pan-tür­ki­schen Gruppe, die von der Euro­päi­schen Union als “ter­ro­ris­tische Orga­ni­sation” ver­boten ist, inten­si­viert. Die “Grauen Wölfe” träumen von einem tür­ki­schen Imperium, das sich vom Balkan bis nach Zen­tral­asien erstreckt. In ihrem am meisten geschätzten Buch “Die Weißen Lilien” behaupten sie sogar, dass Finnen und Ungarn eben­falls Türken seien und Teil des Reiches werden würden.

Das Chaos, das Putin und Erdogan in Trans­kau­kasien ange­richtet haben, könnte auch die arme­nische Militanz wie­der­be­leben. Es gibt etwa 12 Mil­lionen Armenier auf der ganzen Welt, mehr als 3 Mil­lionen allein in Russland. In den letzten Tagen haben wir Gerüchte über “Frei­willige” aus ver­schie­denen Teilen Europas und Nord­ame­rikas gehört, die in die Region gehen könnten, um gegen den “tür­ki­schen Feind” zu kämpfen.

Vor zwei Jahr­zehnten erlebten wir einen ähn­lichen Trend, als Serben und Kroaten in der Dia­spora auf den Balkan zurück­kehrten, um um ihr jewei­liges Stück Land zu kämpfen. Fast drei Jahr­zehnte lang, bis zum Fall des Sowjet­reiches, war die arme­nische Geheim­armee zur Befreiung Arme­niens (ASALA) sowohl der Türkei als auch Russland ein Dorn im Auge.

Ah, und was ist mit dem Iran? Er hat seine Grenze zu Armenien ver­loren und hat Russland wieder als Nach­barland. Die jüngste Episode ent­hüllte die Isla­mische Republik als ein Land ohne eine richtige Regierung im nor­malen Sinne des Wortes und damit als einen unwich­tigen Zuschauer, während die “großen Tiere” es unter sich ausmachen.

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Amir Taheri war von 1972 bis 1979 Chef­re­dakteur der Tages­zeitung Kayhan im Iran. Er arbeitete an oder schrieb für unzählige Publi­ka­tionen, ver­öf­fent­lichte elf Bücher und ist seit 1987 Kolumnist bei Asharq Al-Awsat.


Quelle: gatestoneinstitute.org