Seit fast zehn Jahren bemüht sich die Europäische Zentralbank (EZB) um das Erreichen ihres Inflationsziels von zwei Prozent. Negativzinsen und milliardenschwere Wertpapierkäufe sollen eine Deflation in der Eurozone verhindern. So lautet die offizielle Begründung für eine Geldpolitik, die im Zuge der Corona-Krise alle bisherigen Beschränkungen über Bord wirft und verspricht, unbegrenzt Anleihen aufzukaufen und sich dabei auch nicht mehr an den Kapitalschlüssel zu halten.
Gekauft wird dort, wo es am meisten gebraucht wird: also in Italien, damit die Zinsen, die der italienische Staat für seine Schulden bezahlen muss, trotz der immer offensichtlicheren Überschuldung nicht steigen. Schon längst ist für jeden, der es sehen will, überdeutlich, dass es nicht um das Erreichen eines Inflationsziels geht, sondern um den Erhalt der Eurozone mittels einer Schuldenunion – über den Umweg der EZB-Bilanz. Ohne jede Mitsprache des Bundestages, der das alleinige Recht hat, über die finanziellen Verpflichtungen Deutschlands zu entscheiden, führt die EZB damit das ein, was offiziell nicht deutsche Politik ist: die Transferunion mit unbegrenzter Haftung.
Ökonomen kritisieren das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil nur kurzzeitig für Beunruhigung gesorgt. Europäischer Gerichtshof und EZB haben sogleich betont, dass es nicht Sache des deutschen Bundesverfassungsgerichts sei, die Politik der EZB zu beurteilen. Und um diese Haltung zu unterstreichen, hat die EZB unter Führung von Christine Lagarde erklärt, dass sie das laufende PEPP (Pandemic Emergency Purchase Program) um 600 Milliarden aufstockt, obwohl die umfangreiche zusätzliche Liquidität in der Realwirtschaft ohnehin zurzeit nicht gebraucht wird.
Ökonomen haben das Urteil überwiegend kritisch gesehen. Richter verstünden nichts von Wirtschaft, war ihre Mehrheitsmeinung. Angesichts der wirtschaftlichen Lage müsse eine Notenbank so handeln und es sei wichtig, das Risiko einer Deflation zu bekämpfen. Stellvertretend sei Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zitiert, der betonte, dass es das Mandat der EZB sei, die Preisstabilität zu wahren. Würde dieses Mandat eingeschränkt, gefährdete dies die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Zentralbank. „Wie kann eine Geldpolitik, die versucht, ihr Mandat zu erfüllen, nicht verhältnismäßig sein?“, fragte Fratzscher.
Bereits früher habe ich gezeigt, dass Fratzscher um jeden Preis die EZB-Politik in Schutz nimmt, selbst wenn er bei dieser Verteidigung heftig ins Straucheln gerät. Er ist halt mehr Polit-Ökonom als neutraler Experte.
Inflationsziel verfehlt
Doch nehmen wir Fratzscher und Co. beim Wort. Nehmen wir an, es ginge der Europäischen Zentralbank tatsächlich um das Inflationsziel von zwei Prozent. Dann müssten wir zunächst – wie der frühere Chef Mario Draghi – festhalten, dass die EZB anscheinend nicht in der Lage ist, dieses Ziel zu erreichen: „(…) although we have seen the successful transmission of monetary policy to financing conditions, and from financing conditions to GDP and employment, the final legs of the transmission process to wages and inflation have been slower than we expected. Wage growth is now strengthening as slack in the labor market diminishes. But the pass-through from wages to prices remains weak.“
Angesichts dieses Ergebnisses liegt die Frage nahe, ob das Instrumentarium wirklich dazu geeignet ist, eine erhöhte Inflationsrate zu erreichen. Natürlich gibt es Ökonomen, die diese Frage aufwerfen. Die überwiegende Mehrheit der Ökonomen hingegen sieht keine Alternative zur Politik der EZB. Wobei der Verdacht naheliegt, dass nicht wenige dabei auf das eigentliche Ziel der EZB schielen, die Eurozone trotz der zunehmenden Divergenz der Mitgliedsländer, um jeden Preis zu erhalten.
Es mangelt keineswegs an Studien, die zeigen, dass die Politik der EZB genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie vorgibt, erreichen zu wollen. So war schon vor Jahren zu lesen, dass in Japan nach der Ankündigung von Negativzinsen die Inflationserwartungen nicht wie erhofft gestiegen, sondern gesunken sind. Die Finanzmärkte zogen also aus dem Angebot von Geld zu Negativzins den nicht unerwarteten Schluss, dass man das nur macht, wenn es trübe aussieht.
Zombies wirken deflationär
Das seit Jahren immer billiger werdende Geld hat zu einer erheblichen Zombifizierung der Wirtschaft geführt: Immer mehr Unternehmen können lediglich das Geld für die (schon herabgesetzten) Zinszahlungen erwirtschaften. Sie werden von den Banken am Leben erhalten, weil sie selbst die Abschreibungen nicht verkraften können. Zombie-Banken und Zombie-Unternehmen stützen sich wie zwei Betrunkene gegenseitig.
Schon vor Corona waren nach Schätzungen der Bank of America neun Prozent der Unternehmen in Europa Zombies. Andere Schätzungen bezifferten den Anteil des Kapitals, der in Zombies gebunden ist, auf fünf bis 18 Prozent, wobei es in Italien, Spanien und Portugal besonders schlecht aussieht. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich schätze schon 2018, dass rund 20 Prozent der US-Unternehmen in Schwierigkeiten gerieten, sobald die Zinsen steigen würden.
Diese zunehmende Zombifizierung muss deflationär wirken. Unternehmen, die vor allem darauf ausgerichtet sind, die erforderliche Liquidität für die nächste Zinszahlung zu beschaffen, achten nicht auf die Profitabilität und sind eher geneigt, über den Preis zu verkaufen. Sie haben auch keine Mittel für Investitionen und Innovation. Kein Wunder, dass die Produktivitätsfortschritte seit Jahren im Einklang mit dem steigenden Anteil an Zombies immer mehr zurückgehen.
EZB als „Europäische Zombifizierungsbank“
Was für jeden Manager, der Unternehmen nicht nur aus der Theorie kennt, unmittelbar einleuchtend ist, wird von Ökonomen geleugnet. So erläuterten Ulrich Bindseil und Jürgen Schaaf von der EZB in einem Beitrag ausführlich, weshalb die EZB für eine etwaige Zombifizierung nichts könne. Die Kritik an der EZB sei „einfach nur abwegig“. Der Vorwurf sei „theoretisch nicht nachzuvollziehen, empirisch zweifelhaft und ordnungspolitisch verfehlt“.
Das mit der theoretisch nicht gegebenen Nachvollziehbarkeit kann mit der Distanz vom echten Leben in der Realwirtschaft entschuldigt werden. Der empirische Beweis für die Zombifizierungswirkung der Politik des billigen Geldes liegt jedoch vor. Nicht nur das. Eine aktuelle Studie weist nach, dass die Politik der EZB dazu führt, dass die Inflationsrate sinkt, nicht steigt.
Dabei decken sich die empirischen Ergebnisse mit dem, was man auch als Praktiker erwarten dürfte:
- Das Rätsel der fehlenden Inflation in Europa ähnelt der japanischen Erfahrung der verlorenen Jahrzehnte. In beiden Fällen gab es deflationären Druck, sehr lockere Geldpolitik und Zombiekredite durch unterkapitalisierte Banken. In Kombination mit der Suche der Investoren nach Rendite führt das zu sehr tiefen Finanzierungskosten, die es vielen schwachen Unternehmen ermöglicht, am Markt zu bleiben.
- Mit dem Beginn der Eurorettungspolitik 2012 steigt der Anteil der Zombieunternehmen deutlich an. Als Zombies werden Unternehmen definiert, die deutlich überdurchschnittlich verschuldet sind, eine überdurchschnittliche Zinslast haben und dies, obwohl der Zinssatz, den sie bezahlen müssen, unter dem der kreditwürdigsten Wettbewerber liegt. Ein deutliches Zeichen für eine Subventionierung der Finanzierung durch die Banken.
- Es überleben also schwache Unternehmen mit nicht nachhaltigen Geschäftsmodellen. Der Anstieg der Zombiefirmen führt zu Überkapazitäten, Preisdruck und dämpft gesamthaft die Inflationsrate. Die Produktivität nimmt ab.
- Dabei ist der Rückgang der Inflationsrate in den Märkten am größten, in denen die meisten Zombies hinzugekommen sind. Je mehr Zombies also, desto geringer der Preisanstieg bzw. die Inflation.
Das Fazit der Autoren: „The timing of the reversal of the inflation dynamics coincides with the adoption of extraordinary monetary easing measures, including negative rates, by the ECB (…).“ Klartext: Die Inflationsrate begann ab dem Zeitpunkt, weiter zu sinken, als die EZB Negativzinsen einführte und mit Wertpapierkäufen begann. Die Politik der EZB – der „Europäischen Zombifizierungsbank“, wie wir sie nun nennen sollten – bewirkt also eine geringere Inflation statt einer höheren, wie vermeintlich angestrebt.
Die Politik der „Europäischen Zombifizierungsbank“ wirkt zusammengefasst so:
- Das billige Geld ermöglicht es Unternehmen, die eigentlich nicht lebensfähig sind, weiter am Markt zu bleiben.
- Das billige Geld erodiert die Kapitalbasis des ohnehin schwach kapitalisierten Bankensystems.
- Den Banken bleibt keine andere Wahl, als den schlechten Schuldnern besonders günstige Kredite zu geben, weil sie die Abschreibung des Kredites selber nicht überleben.
- Damit bleiben noch mehr schlechte Schuldner am Markt, was zu Überkapazitäten und Preisdruck führt und so das Geschäft auch für die gesunden Mitbewerber erschwert.
- Wachstum und Produktivitätsfortschritte enttäuschen, die Inflationsrate sinkt.
- Darauf reagiert die EZB mit noch mehr billigem Geld, was die Banken weiter schwächt und die Zombifizierung fördert.
Durch Corona in die staatliche Zombiewirtschaft?
Die Corona-Krise wirkt auch hier wie ein Brandbeschleuniger: Bestehende Zombies werden erneut gerettet, weitere kommen hinzu. Dies dürfte auch in Deutschland der Fall sein, wo die Bazooka der Politik unglücklicherweise auf Kredite statt auf Umsatzausfallzahlungen gesetzt hat.
Große Teile der Wirtschaft Europas drohen zu zombifizieren. An dieser Tatsache ändern auch die Überlegungen der EZB nichts, eine „Bad Bank“ einzurichten, quasi als Endlager für faule Kredite der Banken. Zwar würde diese Bad Bank die Banken entlasten, aber danach die Zombifizierung fortsetzen. Denn die eigentlich erforderliche Bereinigung durch Konkurse der Zombies ist politisch nicht akzeptabel. Statt von insolventen Banken werden die Zombies dann von der staatlichen Bad Bank am Leben erhalten. Zugleich ändert auch die Bad Bank nichts an dem Problem der unterkapitalisierten Banken.
Damit ist Europa auf dem Weg in die staatliche Zombiewirtschaft. Aus Angst vor den kurzfristigen Folgen der Bereinigung unproduktiver und nicht wettbewerbsfähiger Strukturen, schaffen wir die Marktwirtschaft ab und ersetzen sie durch Notenbanksozialismus.
So richtig es ist, in jeder akuten Krise – auch heute – zu intervenieren, so negativ sind die langfristigen Folgen. Die Zombifizierung der europäischen Wirtschaft führt endgültig in das „japanische Szenario“ von Dauerstagnation und deflationären Tendenzen. Ob die Eurozone das überlebt?
Dr. Daniel Stelter –www. think-beyondtheobvious.com
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