Recep Tayyip Erdoğan Resmî Flickr Hesabı - CC0 1.0

Türkei: Mit besten Grüssen aus Europa

Wenn der isla­mis­tische Macht­haber der Türkei, Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan, in der ersten Dezem­ber­woche mehr schlaflose Nächte ver­bracht hat als wegen seiner Sorgen über die US-Sank­tionen, dann wegen der unmit­telbar bevor­ste­henden und poten­ziell stra­fenden Sank­tionen der Euro­päi­schen Union, die bei einem Gipfel am 10. und 11. Dezember Gestalt annehmen könnten. Er muss einen relativ ruhigen Schlaf gehabt haben, als der Gipfel vorbei war. Er könnte gedacht haben, dass er es geschafft hat, einer rie­sigen euro­päi­schen Sank­ti­ons­bombe zu ent­kommen, zumindest bis März. Es könnte jedoch etwas ver­früht sein, jetzt vor Erleich­terung zu seufzen.

(von Burak Bekdil)

Nachdem die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs die Türkei im Oktober unmiss­ver­ständlich gewarnt hatten, ent­schied sich Erdoğan für eine Eska­lation der Span­nungen und brachte damit das, was sonst eine rein diplo­ma­tische Ange­le­genheit gewesen wäre, auf die Ebene eines Mini-Kampfes der Kul­turen. Erdoğan kal­ku­lierte, dass er bis zum letzten Moment den harten osma­ni­schen Sultan spielen könnte und dass die EU es niemals wagen würde, ihre Brücken zur Türkei abzu­brechen. Er hatte Recht und Unrecht. Er hat Zeit gekauft, die EU hat ihre Brücken nicht abge­brochen, die Sank­tionen auf dem Dezember-Gipfel waren nicht stark genug, um den Kurs der Türkei zu ändern. Dennoch hat Erdoğan nun eine weitere Frist, bis zu der er sich zwi­schen einem wei­teren Kampf der Kul­turen und einer nach­hal­tigen Dees­ka­lation ent­scheiden muss.

Kurz vor dem Dezem­ber­gipfel zog die Türkei ein Koh­len­was­ser­stoff-Explo­ra­ti­ons­schiff aus den umstrit­tenen Gewässern des Mit­tel­meers zurück. Nachdem sie mona­telang die von der EU unter­stützten Explo­ra­ti­ons­be­mü­hungen in Frage gestellt hatte, wurde das Ver­mes­sungs­schiff Oruç Reis nach Hause geholt.

Darüber hinaus hat Ankara in einer Offensive voll fal­schem Charme eine plu­ra­lis­tische Rhe­torik gegenüber den nicht-mus­li­mi­schen Min­der­heiten des Landes ent­wi­ckelt. “Reli­giöse Min­der­heiten sind der Reichtum unseres Landes, basierend auf dem Prinzip der gleichen Staats­bür­ger­schaft und der gemein­samen Geschichte”, sagte Prä­si­den­ten­sprecher Ibrahim Kalın in einem Twitter-Posting. “Sie zu dis­kri­mi­nieren, würde die Türkei schwächen.”

Erdoğan sagte auch, dass er die Zukunft der Türkei in Europa sieht – im gleichen Europa, das er eben noch beschuldigt hatte, “Nazi-Über­bleibsel und Faschisten” zu sein.

Auf dem Tisch des Gipfels lag auch ein EU-weites Waf­fen­em­bargo gegen die Türkei, wie es von Grie­chenland und Zypern hart­näckig gefordert wird. Anstatt sich für ein sofor­tiges Embargo zu ent­scheiden, so kün­digte Bun­des­kanz­lerin Angela Merkel an, würden die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs die Themen mit Ver­tretern der NATO und der USA dis­ku­tieren. “Wir haben auch darüber gesprochen, dass Fragen der Rüs­tungs­exporte innerhalb der NATO dis­ku­tiert werden müssen. Wir haben gesagt, dass wir uns mit der neuen US-Regierung über die Türkei abstimmen wollen”, sagte Merkel auf einer Pressekonferenz.

Die Frage eines Waf­fen­em­bargos sei eben nicht der Kern der Sache gewesen. Im Jahr 2018 beliefen sich die gesamten EU-Waf­fen­ex­porte in die Türkei auf ver­nach­läs­sigbare 54 Mil­lionen Dollar. Im Jahr 2019 haben mehrere waf­fen­pro­du­zie­rende Länder in der EU (Deutschland, Frank­reich, Italien, Spanien, Schweden, Finnland und die Nie­der­lande) einzeln Waf­fen­ver­käufe an die Türkei gestoppt oder ein­ge­schränkt.

Im Kern ging es darum, wie hart die EU bei Sank­tionen vor­gehen würde, während sich die tür­kische Volks­wirt­schaft im freien Fall befand. Wie sich her­aus­stellte, ent­schied sich Brüssel für: Nicht so hart. Die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs einigten sich darauf, Sank­tionen gegen eine unbe­stimmte Anzahl tür­ki­scher Funk­tionäre und Unter­nehmen zu ver­hängen, die an Gas­boh­rungen in zyprio­ti­schen Gewässern beteiligt sind – aber sie ver­schoben die grö­ßeren Ent­schei­dungen, wie z.B. Han­dels­zölle, bis sie sich mit der kom­menden US-Regierung des desi­gnierten Prä­si­denten Joe Biden beraten können.

Der Chef der EU-Außen­po­litik, Josep Borrell, wird in den nächsten Wochen die Namen der­je­nigen bekannt geben, die mit Sank­tionen rechnen müssen. Aber das wird nicht das Ende der Geschichte sein. Auf dem Dezem­ber­gipfel wurde Borrell beauf­tragt, bis März Vor­schläge für eine breitere Her­an­ge­hens­weise an die Türkei vor­zu­be­reiten, um der EU Zeit zu geben, sich mit Bidens natio­nalem Sicher­heitsteam zu beraten.

Dieses Zeit­fenster ver­schafft Erdoğan eine kurze, vor­über­ge­hende Erleich­terung. Bis Ende Februar wird er seine letzten Karten aus­spielen müssen, bevor die EU die Sank­tionen ver­schärft oder die Ver­schärfung um weitere drei Monate ver­schiebt. Diese Ver­schie­bungen von här­teren Sank­tionen sind kein Gewinn­spiel für Erdoğan, vor allem, wenn gleich­zeitige US-ame­ri­ka­nische und euro­päische Sank­tionen drohen, die die fragile Wirt­schaft der Türkei weiter schwächen.

Das Problem ist, dass ein von Natur aus anti­west­licher, isla­mis­ti­scher Poli­tiker, der seine Popu­la­rität weit­gehend auf stän­digen Kon­fron­ta­tionen mit anderen Nationen auf­gebaut hat, sich nicht innerhalb von drei Monaten mental in einen fried­lichen Partner ver­wandeln kann. Er ist auf jeden Fall nicht bereit, das grausame Demo­kra­tie­de­fizit seines Landes nicht weiter zu ver­größern. “Erwarten Sie nicht, dass ich diesen Ter­ro­risten belohne [indem ich ihn frei­lasse]”, sagte Erdoğan nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel, als er von Sela­hattin Demirtaş sprach, dem inhaf­tierten Führer einer pro-kur­di­schen poli­ti­schen Partei, die bei den letzten Wahlen über 10 % der natio­nalen Stimmen gewann.

Demirtaş sitzt seit 2016 zusammen mit 12 kur­di­schen Abge­ord­neten wegen Ter­ro­ris­mus­vor­würfen in Unter­su­chungshaft und wartet auf seinen Prozess. Juris­tisch gesehen ist der Mann, den Erdoğan als “Ter­rorist” bezeichnete, ohne Gerichts­urteil nur ein Ver­däch­tiger. Das aber ist Erdoğans krankes Ver­ständnis von Ver­fas­sungs­rechten: Er ist der gewählte Führer, also glaubt er, sich die Freiheit nehmen zu können, Ver­dächtige für schuldig oder nicht schuldig zu erklären, während ihre Gerichts­ver­fahren noch laufen.

Um mehr Zeit im März zu kaufen, wird Erdoğan auch große Worte und Her­aus­for­de­rungen her­un­ter­schlucken müssen. Er wird die tür­ki­schen Koh­len­was­ser­stoff-Explo­ra­ti­ons­ak­ti­vi­täten im öst­lichen Mit­telmeer stoppen, die Span­nungen mit Grie­chenland und Zypern beenden und zu einer diplo­ma­ti­schen Sprache mit Europa wechseln müssen, einer Sprache, die keine Wörter wie Nazis, Faschisten und anti­mus­li­mische Ras­sisten ent­halten wird.

Einige sehr harte Haus­auf­gaben warten auf den Schulhof-Rüpel.

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Burak Bekdil, einer der füh­renden Jour­na­listen der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der renom­mier­testen Zeitung des Landes gefeuert, weil er in Gatestone schrieb, was in der Türkei vor sich geht. Er ist ein Fellow beim Middle East Forum.


Quelle: gatestoneinstitute.org