Bild: Flag of South Tyrol.svg, Attribution 3.0 Unported (CC BY 3.0), https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/, F l a n k e r - Own work

60 Jahre Feu­er­nacht — Auspizien des Süd­ti­roler Freiheitskampfs

Ein Rei­sebus ver­lässt Inns­bruck. Die Insassen begeben sich auf „Exkursion“ nach Verona. „Pro arte et musica“ heißt ihr Pro­gramm, auf das sie Günther Ander­gassen, Hoch­schul­lehrer am Salz­burger Mozarteum, mit­nimmt. Doch sie sind keine gewöhn­lichen Aus­flügler, ihre Fahrt am 10. Juni 1961 dient der Tarnung. Auch Her­linde Molling, die an diesem Tag ihr Sport-Coupé  mit dem Münchner Kenn­zeichen M‑LE 333 gen Süden chauf­fiert, um in Vilpian, einem Ort zwi­schen Bozen und Meran, auf ihren Mann Klaudius zu treffen, der zu besagter Rei­se­gruppe gehört, ist nicht wirklich zum Ver­gnügen unterwegs. Im Kof­ferraum trans­por­tiert sie Spreng­stoff. Spreng­stoff führen auch die „Exkur­si­ons­teil­nehmer“ in Ruck­säcken mit sich. Auf Alm­hütten, Wald­lich­tungen, selbst in einem Gasthof mitten in Bozen trifft man sich mit Lands­leuten aus dem süd­lichen Teil Tirols und übergibt ihnen die por­tio­nierten „Mit­bringsel“.

Donarit und Zeitzünder

Am Spät­abend des 11. Juni ver­lässt Luis Stein­egger seinen Hof und fasst oberhalb von Tramin das dort in einer Höhle ver­wahrte Donarit, welches einer der Exkur­si­ons­teil­nehmer über­bracht hat. Mit seinem Freund Oswald Kofler prä­pa­riert er zwei Strom­masten in Altenburg. Sie befes­tigen den Spreng­stoff, legen die Zünd­schnur lose um die Stahl­träger. Dann wird der Zeit­zünder, Marke Eigenbau, scharf gemacht. Die Uhr der Dorf­kirche schlägt zehn Mal, als Stein­egger den Zünder auf eins stellt. Pünktlich um ein Uhr  deto­nieren die Ladungen, die Strom­masten krachen in sich zusammen. Das­selbe in Sinich nahe Meran, wo Sepp Inner­hofer von Schenna aus mit dem Feld­stecher beob­achtet, wie die von ihm „gela­denen“ Masten unter wider­hal­lendem Getöse wie Streich­hölzer umknicken.  Auch in Bozen durch­bricht um die­selbe Zeit ein lauter Knall die nächt­liche Ruhe. Das don­ner­gleiche Grollen, dem weitere Deto­na­tionen folgen, reißt viele aus dem Schlaf. Zwi­schen eins und halb vier blitzt und knallt es rund um den Bozner Tal­kessel, krachen stäh­lerne Ungetüme zu Boden. (Zeit­zeu­gen­be­richte aus dem 2011 im Inns­brucker Tyrolia-Verlag erschie­nenen Buch „Süd­tirol 1961, Herz Jesu-Feu­er­nacht …“ von Birgit Mosser-Schuöcker und Gerhard Jelinek) 

Aus­nah­me­zu­stand, Haft, Folter, Tod

Am Morgen des 12. Juni, des „Herz-Jesu-Sonntags“, wird das Ausmaß dessen ersichtlich, was die „Feu­er­nacht“ bewirkte: 37 Hoch­span­nungs­masten, acht Eisen­bahn­masten und zwei zu Kraft­werken füh­rende Hoch­druck­was­ser­lei­tungen sind in die Luft geflogen: Eine effekt­volle kon­spi­rative Gemein­schafts­aktion des „Befrei­ungs­aus­schusses Süd-Tirol“ (BAS) mit dem Ziel der größt­mög­lichen Schä­digung Ita­liens unter Schonung von Men­schen und Pri­vat­ei­gentum. Die Welt­öf­fent­lichkeit soll auf das Süd­tirol-Problem auf­merksam gemacht und auf die als Besat­zungs­regime  emp­fundene ita­lie­nische Staats­macht Druck aus­geübt werden. Dem BAS gehören etwa 200 Akti­visten aus beiden Teilen Tirols an: „Wir fordern für Süd­tirol das Selbst­be­stim­mungs­recht! (…) Europa und die Welt werden unseren Not­schrei hören und erkennen, dass der Frei­heits­kampf der Süd­ti­roler ein Kampf (…) gegen die Tyrannei ist.“ Doch ihr Aufruf zum Kampf erfährt erst breitere Unter­stützung, als die Bevöl­kerung die Reaktion Roms auf die Feu­er­nacht direkt ver­spürt: es ver­hängt den Aus­nah­me­zu­stand über die Provinz, das gesamte IV. Armee­korps – 24 000 Sol­daten — sowie zusätzlich 10 000 Cara­bi­nieri – kaser­nierte Poli­zei­kräfte — werden nach Süd­tirol verlegt. Bis Ende Juli werden die meisten Süd­ti­roler BAS-Mit­glieder inhaf­tiert, dar­unter auch Sepp Kersch­baumer, ihr Kopf. Seine Mit­streiter Franz Höfler und Anton Gostner erliegen grau­samen Fol­te­rungen in der Cara­bi­nieri-Kaserne von Eppan. Jetzt erst kommt es zu einer Welle der tätigen Soli­da­rität. Auch von poli­ti­scher Seite in Österreich.

Was treibt die „Bumser“ an, wie die Atten­täter noch heute im Volksmund genannt werden? Sie wollen ein mar­kantes Zeichen setzen, um die Auf­merk­samkeit der Welt­öf­fent­lichkeit auf das unge­bro­chene neo­ko­lo­nia­lis­tische Gebaren Roms zu lenken. Der süd­liche Lan­desteil Tirols ist Ita­liens Kriegs­beute, Belohnung dafür, dass es aus dem Dreibund (mit Deut­schem Reich und Öster­reich-Ungarn) zu Beginn des Ersten Welt­kriegs aus­schert, sich anfangs als „Neu­traler“ geriert, um 1915 auf der Seite der Entente-Mächte England und Frank­reich als Ver­bün­deter in den Krieg ein­tritt. Vor dem Untergang der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Dop­pel­mon­archie war es – wie „Welsch­tirol“ (Trentino) für fünf Jahr­hun­derte Teil der „gefürs­teten Graf­schaft Tirol“ und also Habs­burger-Kronland. Nach dem Frie­dens­diktat von Saint-Germain-en-Laye (10. Sep­tember 1919) gliedert das König­reich Italien am 10. Oktober 1920 das Land bis zum Brenner ein. Mit der Macht­über­nahme Mus­so­linis 1922 soll das „Alto Adige“  („Hoch­etsch“) ent­deutscht und kul­turell ita­lia­ni­siert werden. Das römische Ver­wal­tungs­system wird ein­ge­führt, die ita­lie­nische Sprache zur allei­nigen Amts- und Unter­richts­sprache erklärt. Infolge gezielter Ansiedlung von Unter­nehmen und Beschäf­tigten aus Alt­italien ver­drei­facht sich bis 1939 die Zahl eth­ni­scher Ita­liener in Süd­tirol. Schließlich ver­ab­reden die Dik­ta­toren Mus­solini und Hitler,  „Ach­sen­partner“ im bald darauf ent­fes­selten Krieg, das soge­nannte Opti­ons­ab­kommen: damit zwingen sie die Süd­ti­roler, sich ent­weder für „das Reich“ zu ent­scheiden und die Heimat zu ver­lassen, oder zu bleiben und in der Ita­lianità auf­zu­gehen. 

Die ver­fälschte Autonomie 

Nach dem Zweiten Welt­krieg ver­werfen die Alli­ierten die Rück­glie­derung Süd­tirols an Tirol und das wieder erstandene Öster­reich, wie es mehr als 175 000 im Geheimen gesam­melte und in Inns­bruck an Kanzler Leopold Figl über­gebene Unter­schriften fordern. Zwar gesteht ein zwi­schen Außen­mi­nistern Karl Gruber und dem ita­lie­ni­schen Minis­ter­prä­si­denten Alcide de Gasperi im Sep­tember 1946 zu Paris geschlos­senes Abkommen den Bewohnern der Provinz Bozen weit­ge­hende sprach­liche und kul­tu­relle Rechte sowie eine gewisse Selbst­ver­waltung zu. Doch Rom führt diese Über­ein­kunft im ersten Auto­no­mie­statut von 1948 dadurch ad absurdum, dass es seine Gül­tigkeit für die Region Trentino-Alto Adige festlegt, worin die beiden Nach­bar­pro­vinzen zusam­men­ge­schlossen und die Süd­ti­roler von der Dominanz der eth­ni­schen Ita­liener des Trentino majo­ri­siert sind. Dagegen und gegen die auch vom demo­kra­ti­schen Italien quasi in Kolo­ni­al­herr­schafts­manier bruchlos fort­ge­setzte Ansiedlung von Süd­ita­lienern — in neu­er­lichen Wohnbau- und Indus­trie­pro­jekten — wenden sie sich in der vom nachmals legen­dären Lan­des­hauptmann Silvius Magnago initi­ierten „Los von Trient“-Bewegung. Die 1950er und 1960er Jahre sind daher vom  Auf­be­gehren gegen die  römische Politik erfüllt. Vor­läufer des BAS ist die „Gruppe Stieler“; auch sie hält sich strikt an das Gebot „Gewalt lediglich gegen Sachen“.

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Gleichwohl kommt es am Tag nach „Feu­er­nacht“ durch unglück­liche Umstände zum ersten Opfer; ein ita­lie­ni­scher Stra­ßen­wärter ent­deckt nahe (der Provinz- und Sprach­grenze an der Landenge von) Salurn an einem mäch­tigen Baum einen nicht deto­nierten Sprengsatz, mit dem der Baum gefällt und die Stra­ßen­ver­bindung gen Trient sinn­fällig-zei­chen­setzend unter­brochen werden sollte, der ihn während seines Ent­fer­nungs­ver­suchs tötet. Infolge spä­terer Anschläge sind – auf beiden Seiten – ins­gesamt 25 Todes­opfer zu beklagen. Jüngere For­schungen haben indes gezeigt, dass davon nicht wenige auf das Konto kon­spi­ra­tiver Anschläge unter maß­geb­licher Betei­ligung ita­lie­ni­scher Geheim­dienst­leute sowie des ita­lie­ni­schen Zweigs „Gladio“ der ver­deckt ope­rie­renden Nato-Geheim­or­ga­ni­sation „Stay behind“ gehen.

150 BAS-Akti­visten wird man habhaft, einige können ent­kommen und setzen ihre Akti­vi­täten von Nord- und Ost­tirol aus fort. Im Mai­länder Spreng­stoff­prozess 1963 gegen 94 Ange­klagte (87 aus Süd­tirol, 6 aus Öster­reich, einer aus der Bun­des­re­publik) werden zumeist lang­jährige Haft­strafen aus­ge­sprochen. Ein halbes Jahr später stirbt Sepp Kersch­baumer in einem Vero­neser Gefängnis; 15.000 Süd­ti­roler folgen seinem Sarg.

Viel ist seit jener „Feu­er­nacht“ in Süd­tirol  geschehen. Auf­grund zweier Dekla­ra­tionen der Ver­einten Nationen (UN), vor die der damalige öster­rei­chische Außen­mi­nister Bruno Kreisky den Süd­tirol-Kon­flikt trägt, wird in zähen Ver­hand­lungen zwi­schen Rom, Bozen und Wien schließlich eine Lösung in Form eines neuen Auto­no­mie­statuts gefunden, der die seit 1945 im Lande domi­nante Süd­ti­roler Volks­partei (SVP) 1969 mit knapper Mehrheit zustimmt. Ver­bunden mit „Paket­maß­nahmen“ und „Durch­füh­rungs­be­stim­mungen“, deren Ver­wirk­li­chung sich auf­grund römi­scher Finten immer wieder ver­zögert, wird der Kon­flikt mit der von der Schutz­macht Öster­reich vor den UN abge­ge­benen „Streit­bei­le­gungs­er­klärung“ gegenüber Italien erst 1992 völ­ker­rechtlich bei­gelegt. Heute gehört die Pro­vincia autonoma di Bolzano — Alto Adige Autonome Provinz Bozen-Süd­tirol zu den pro­spe­rie­renden Gebieten Ita­liens und darüber hinaus, weshalb die­je­nigen, die  mit den obwal­tenden Ver­hält­nissen, in denen sie sich mehr oder weniger kom­for­tabel ein­rich­teten, zufrieden sind und sie, wie allem Anschein nach die heutige Führung der nach wie vor regie­renden Mehr­heits­partei SVP – und mit ihr alle Par­la­ments­par­teien des „Vater­lands Öster­reich“ außer der oppo­si­tio­nellen FPÖ – quasi als poli­ti­schen und recht­lichen End­zu­stand erachten sowie als „Vorbild für die fried­liche Bei­legung von Min­der­hei­ten­kon­flikten“ pro­pa­gieren. Alle anderen Süd­ti­roler deut­scher und ladi­ni­scher Zunge, die deutsch­süd­ti­roler Oppo­sition ohnedies, die austro-patrio­ti­schen Ver­ei­ni­gungen wie Hei­matbund (SHB) und Schützen (SSB), aber auch die­je­nigen wenigen in der SVP, die die Auto­nomie nicht als „End­stadium“, sondern lediglich als Zwi­schen­schritt auf dem völ­ker­rechtlich mög­lichen und men­schen­rechtlich gebo­tenen Weg zur Selbst­be­stimmung betrachten, welche 1919 und 1946 ver­weigert wurde, setzen sich nach wie vor für die Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts ein. 

Kein „Ende der Geschichte“

Ist der „Feu­er­nacht” eine poli­tische Bedeutung und zukunfts­ge­stal­te­rische Wirkkraft

eigen? Stets lehnten Magnago und die engere SVP-Führung  Anschläge als prin­zi­piell ver­werf­liche Taten ab. Ebenso wie öster­rei­chische Poli­tiker aus der Erleb­nis­ge­ne­ration bestritten sie, von deren Vor­be­reitung gewusst oder mit den Akti­visten zu tun gehabt oder gar zusam­men­ge­wirkt zu haben. Das darf jedoch in dieser Pau­scha­lität füglich bezweifelt werden, weil wir heute wissen, dass und welche Per­sön­lich­keiten in Nord­tirol, in anderen öster­rei­chi­schen Bun­des­ländern, auch im benach­barten Bayern sowie in der dama­ligen Bonner Poli­ti­ker­riege und selbst­redend auch in Süd­tirol hinter ihnen standen, ihr Tun wenn nicht aus­drücklich gut­hießen so doch mit Sym­pathie – und ver­einzelt sogar über das Ideelle hinaus – beglei­teten. Später hieß es dann,  die Anschläge seien als „Anstoß für die Änderung der ita­lie­ni­schen Süd­ti­rol­po­litik“ zu sehen, an deren Ende die „Paket-Lösung“ von 1969 und das Zweite Auto­no­mie­statut von 1972 standen. Das sei letztlich jenen zu ver­danken (gewesen), die mit dem Einsatz ihres Lebens wesentlich dazu bei­trugen, die Heimat vor Ita­liens ins Werk gesetztem fait accompli, nämlich  ein­eb­nende, ent­na­tio­na­li­se­rende Assi­mi­lierung, zu bewahren. Magnago äußert einmal, die Anschläge hätten „einen bedeu­tenden Beitrag zum Erzielen einer bes­seren Auto­nomie für Süd­tirol“ geleistet.

Doch Auto­nomie als Zustand und Wert an und für sich, wie sie Magnagos poli­tische Enkel  innerhalb und außerhalb seiner SVP geradezu ver­ab­so­lu­tieren, weil es ihrem wohl­ge­fäl­ligen Mehren selbst­be­trü­ge­ri­schen Zufrie­den­heits­emp­findens frommt und das kom­pro­miss­le­rische Arran­gement mit Rom sowie die schlei­chende Italo­philie begünstigt, oder gewis­ser­maßen gar als eine Art „Ende der Geschichte“ betrachten, wie nicht wenige Ange­hörige der poli­ti­schen Klasse Öster­reichs — all ihren Sonn­tags­reden von der „Her­zens­an­ge­le­genheit Süd­tirol“ zum Trotz — wollten just die Frei­heits­kämpfer nicht. Weder jene, derer die ita­lie­nische Staats­macht 1961 und in den Jahren danach habhaft wurde, sie als „Ter­ro­risten“ ver­ur­teilte und manche sogar zu Tode schund; noch die damals Ent­wischten und in Abwe­senheit men­schen­rechts­widrig zu lebens­läng­licher oder mehr­jäh­riger Haft Ver­ur­teilten und die seitdem ihre Heimat nicht mehr gesehen haben. Und schon gar nicht all jene, die sich ihnen und ihren Zielen auch heute und in Zukunft weiter ver­bunden und dies­seits wie jen­seits des Brenners durchweg ihrem Erbe ver­pflichtet fühlen.

Selbst­be­stimmtes „Los von Rom

Ihr Ziel war und bleibt die Selbst­be­stimmung, das ideelle, mate­rielle, poli­tisch-recht­liche „Los von Rom“. Zu welchem Behufe und in welcher völker- oder staats­rechtlich gere­gelten Form, ob als nurmehr absolut lose mit Italien ver­bun­denes, über Kul­tur­hoheit, Juris­diktion und Poli­zei­gewalt ver­fü­gendes auto­nomes Ter­ri­torium mit wei­test­ge­hendem Eigen­staat­lich­keits­cha­rakter, ob als von Öster­reich und Italien gemeinsam ver­wal­tetes Kon­do­minium mit Eigen­recht, ob als gänzlich unab­hän­giger sou­ve­räner Klein­staat, ob als zehntes Bun­desland Öster­reichs oder ob mit dem Bun­desland Tirol und also Öster­reich wie­der­vereint, ist und bleibt offen. Klar muss aller­dings sein, dass über das süd­liche Tirol und dessen Zukunft allein die­je­nigen zu befinden haben, die weder 1918/19 noch 1945/46 gefragt, sondern vor voll­endete Tat­sachen gestellt worden sind, nämlich die Süd­ti­roler deut­scher und ladi­ni­scher Zunge – und zwar in freier, gleicher und geheimer Aus­übung ihres unver­brüch­lichen Rechts auf Selbstbestimmung.