Erinnern als Straftat: Chinas Führung will Tian‘anmen-Massaker aus dem kol­lek­tiven Gedächtnis löschen

Das mit dem Erinnern ist eine hoch­po­li­tische Sache. Es gibt kol­lektive Erin­ne­rungen an beglü­ckende und trau­ma­ti­sie­rende Zeiten und Gescheh­nisse, an Wen­de­punkte der Zeit­läufe. Jeder Mensch hat eine kleine Facette davon, und das ergibt ein großes Bild, das His­to­riker erfor­schen. Dann gibt es die Geschichts­schreibung, die nicht nur Fakten archi­viert, sondern meist auch in der Weise bewertet und gewichtet, wie es den gerade Mäch­tigen dient. Es gibt Länder, wo den Men­schen die Erin­ne­rungen immer wieder auf­ge­tischt und vor­ge­worfen werden, um sie zu lenken und klein zu halten — und es gibt Länder, in denen die Regierung die Erin­nerung unter Strafe ver­bietet, weil sie ihre eigenen Ver­brechen ver­tu­schen will. Das geschieht gerade wieder in China.

Sportstudent und Li Xiaoming, ein Soldat, sind Men­schen, die ihren Platz als Facette der Ereig­nisse auf dem Tian‘anmen, dem „Platz des himm­li­schen Friedens“ im his­to­ri­schen Gedächtnis haben. Beide waren vor 32 Jahren in den Mor­gen­stunden des 4. Juni dort gewesen. Es ist für beide eine trau­ma­tische Erin­nerung, die ihr Leben prägte. Fang Zheng verlor an diesem Tag beide Beine, weil ein Panzer darüber rollte und sitzt seitdem im Roll­stuhl. Ex-Offizier Li Xiaoming kann die Tränen nicht zurück­halten. „Ich habe nicht geschossen. Ich habe nie­manden getötet. Aber es tut mir so leid.“

Beide leben heute außerhalb Chinas, denn sonst dürften sie darüber gar nicht sprechen, ohne hohe Gefäng­nis­strafen zu ris­kieren. Sie haben die Auf­ar­beitung dieses Tages als eine Lebens­aufgabe akzeptiert.

Damals, am 3. und 4. Juni 1989 hatten sich Tau­sende auf dem Platz ver­sammelt, weil der letzte Sowje­tische Prä­sident Michail Ser­ge­je­witsch Gor­bat­schow zu Besuch kam und dort, auf dem Tian‘anmen-Platz, von der Regierung emp­fangen werden sollte. Die Stu­denten Chinas und viele andere Bürger sahen in dem rus­si­schen Prä­si­denten einen Hoff­nungs­träger für Freiheit und Reformen, wie sie damals in Polen und Ungarn vom Volk durch­ge­setzt wurden. Die Besetzung des Tian‘anmen wurde weltweit berichtet, denn die inter­na­tionale Presse war zu diesem Ereignis ange­reist. Nicht zur Freude der chi­ne­si­schen Regierung.

Im Frühjahr 1989, im Vorfeld des Gor­bat­schow-Besuches, war die kom­mu­nis­tische Führung wochenlang hand­lungs­un­fähig, während die Pro­teste im ganzen Land an Fahrt gewannen und die Stu­denten in den Hun­ger­streik traten. Der refor­me­rische Par­teichef Zhao Ziyang zeigte durchaus Sym­pa­thien für das Anliegen der Stu­denten. Es kam zu einem inneren Macht­kampf in der chi­ne­si­schen Regierung, den er aber am Ende gegen die Hard­liner verlor. Der „starke Mann“ Deng Xiaoping ent­schied sich zum gewalt­samen Vor­gehen gegen die Studenten.

Die Demons­tration des Volkes auf dem Platz war eigentlich schon zu Ende,  und die Men­schen zogen sich friedlich zurück, der Platz war fast schon geräumt, als plötzlich Panzer und mas­senhaft Militär auf­tauchte. Die Panzer auf der Straße des Ewigen Friedens (Chang‘an) rasten mit hoher Geschwin­digkeit auf die Men­schen zu, Rauch­gas­gra­naten wurden abschossen, explo­dierten zwi­schen den Stu­denten. Panzer rollten einfach über die Men­schen hinweg und zer­quetschten Hunderte.

Auf dem Platz selbst starben dabei keine Men­schen, in anderen Teilen der Stadt ver­loren nach Angaben von Amnesty Inter­na­tional zwi­schen meh­reren hundert und meh­reren tausend Men­schen ihr Leben. Pres­se­be­richte, die sich auf Quellen im chi­ne­si­schen Roten Kreuz beriefen, nannten 2.600 Tote auf Seiten der Auf­stän­di­schen und des Militärs und rund 7.000 Ver­letzte im Laufe der Woche in ganz Peking.“

Die Regierung reagierte mit aller Härte, musste aber fest­stellen, dass es unter der Ober­fläche eine große, stille Wut gab und inter­na­tional einen desas­trösen Anse­hens­verlust. Mit einer Mischung aus kleinen, oft halb­her­zigen Reformen und gleich­zei­tiger Aus­weitung der Über­wa­chung, mit Gän­ge­lungen, Zensur und Ver­haf­tungen, Umdeu­tungen und Ver­boten wird seit 30 Jahren ver­sucht, die Erin­nerung an diesen trau­ma­ti­schen Tag aus­zu­lö­schen. Nur in noch freiem Hongkong gab es bisher jedes Jahr zum Gedenktag Ver­samm­lungen von Hun­dert­tau­senden, die mahnend an das Mas­saker erin­nerten. Auch das ist nun, da Hongkong wieder unter der Führung Rot­chinas steht, nicht mehr möglich.

Die kom­mu­nis­tische chi­ne­sische Führung hat damit eine Erin­nerung geschaffen, die eine für immer bestehende Belastung für das Ver­hältnis zum eigenen Volk ist, unab­hängig von dem jewei­ligen Füh­rungs­per­sonal. Niemand hatte es bis zu dem denk­wür­digen Tag für möglich gehalten, dass die eigene Armee auf das eigene Volk schießen würde. Man war opti­mis­tisch gewesen, es herrschte eine begeis­terte Auf­bruch­stimmung. Reformen, Frei­heiten, Bür­ger­rechte, eine demo­kra­tische Zukunft schien zum Greifen nah. Ein Gefühl, das der Song „Wind of Change“ der Scor­pions sehr treffend beschreibt.

Der China-Pro­fessor Michel Bonnin schätzt es so ein: „Dass die Volks­be­frei­ungs­armee offen Kugeln und Panzer ein­setzte, um unbe­waffnete chi­ne­sische Zivi­listen im großen Stil zu töten, bedeutete einen plötz­lichen Verlust der Legi­ti­mität für die Partei in großen Teilen der Bevöl­kerung”. Es habe dem Volk „die Bru­ta­lität des Regimes“ vor Augen geführt.

Dieses Jahr gibt es eine wun­derbare Begründung für die Zensur und Unter­drü­ckung: „Wegen Corona“ wurden alle Ver­samm­lungen streng ver­boten und mit Haft­strafen belegt. Schon im Vorfeld gab es Ver­haf­tungen der füh­renden Köpfe der Akti­visten und Menschenrechtler:

Einer davon, Wang Aizhong erhielt einen Anruf.
„Jemand teilte ihm mit, sein Auto sei beschädigt worden. Er solle sofort zum Fahrzeug kommen, um den Schaden zu begut­achten. Wang folgte der Auf­for­derung und musste fest­stellen, dass es gar keinen Blech­schaden gegeben hatte. Statt­dessen lief er einer Gruppe von Poli­zei­be­amten in die Arme, die ihn umgehend in Gewahrsam nahm. Kurz darauf durch­suchten die Beamten seine Wohnung und kon­fis­zierten Bücher, Com­puter und ein Mobil­te­lefon. Auch Wangs Ehefrau wurde zum Verhör zitiert und zu den Kon­takten ihres Mannes befragt. Er selbst ist seitdem verschwunden.“

In Hongkong geht es jetzt nicht anders zu:

„Die 65-jährige Alex­andra Wong – innerhalb der Pro­test­be­wegung eine lokale Berühmtheit – ist am Montag zum chi­ne­si­schen Ver­bin­dungsbüro auf­ge­brochen, um des Tian­anmen-Mas­sakers vor 32 Jahren zu gedenken. «Ich bin doch nur allein hier, eine alte Frau. Wieso halten Sie mich an?», soll sie laut Medi­en­be­richten den Poli­zisten gesagt haben. Dann wurde «Gross­mutter Wong» ver­haftet. Der Grund: «nicht auto­ri­sierte Ver­sammlung». Am Mittwoch schloss ein Museum in Hongkong, das an die blutige Nie­der­schlagung der Pro­teste im Jahr 1989 erinnert, nach nur drei Tagen. Die Behörden hätten unter­sucht, ob das Museum auch die rich­tigen Lizenzen habe für öffent­liche Aus­stel­lungen, sagten die Orga­ni­sa­toren gegenüber den Medien.“

Das ist aller­dings nichts neues, sondern wie­derholt sich immer wieder kurz vor dem Jah­restag des Mas­sakers. Jedes Jahr werden die füh­renden und bekann­testen Per­sön­lich­keiten der Bewegung einfach ver­haftet und wochenlang im Poli­zei­ge­wahrsam fest­ge­halten. Dieses Jahr ris­kiert jeder fünf Jahre Haft, der an Gedenk­ver­an­stal­tungen teil­nimmt oder sich auf den Sozialen Medien ent­spre­chend äußert.

Die NZZ schreibt:

«Eine Erlaubnis für die Ver­an­staltung wäre der beste Weg für Peking, um der Kritik zu ent­gehen, die Mei­nungs­freiheit in Hongkong werde unter­drückt», heisst es in einem Leit­ar­tikel der «South China Morning Post». So logisch das Argument, ist es dennoch geradezu naiv: Den Par­tei­kadern Fest­land­chinas geht es längst weniger darum, auf der inter­na­tio­nalen Bühne als ver­ant­wortlich wahr­ge­nommen zu werden, denn vielmehr darum, eine Bot­schaft der Angst an seine Kri­tiker zu senden. Seitdem Peking im letzten Juli Hongkong ein «Gesetz für nationale Sicherheit» auf­ge­zwungen hat, steht prak­tisch jede poli­tische Kritik am System Fest­land­chinas unter Strafe. 

„Eine Bot­schaft der Angst an die Kri­tiker.“ Lies es genau, deut­scher Michel. Und betrachte die letzten zwei Jahre und was sich seitdem geändert hat.