Nena und Herbert – über Helden und Hosen­scheißer, große und kleine Fische

„Die Frage ist nicht, was wir dürfen, sondern die Frage ist, was wir mit uns machen lassen.“

(Nena, am 25.7.2021 bei ihrem Ber­liner Konzert)

(von Maria Schneider) 

Was mag wohl im Laufe eines Lebens pas­sieren, das Men­schen dazu bewegt, ihre Ideale über Bord zu werfen, sich neu zu ori­en­tieren oder sich dann unver­hofft wieder an ihre Ideale zu erinnern?

Als Nena mit dem coolen Stirnband und rotem Leder­mi­nirock ihren Welthit „99 Luft­ballons“ sang und über die Bühne tobte, ging ich auf eine katho­lische Klos­ter­schule. Jeden Morgen gab es ein Gebet und die Lehrer wurden vor Beginn der Stunde unisono begrüßt, indem die Klasse geschlossen auf­stand und „Guten Morgen, Herr …“ leierte.

Die größte Form des Pro­tests und des Hin­ter­fragens von Auto­ri­täten war ein Wecker im Papierkorb, der mitten in der Stunde zu klingeln anfing.

Das höchste Gefühl der Ver­ruchtheit wie­derum war ein lab­be­riger Pullover, in dem sich manchmal eine Ratte tum­melte. Noch ver­ruchter waren lediglich die abge­klärten Mädels in der Rau­cherecke. Nena aber war nicht zu toppen.

Unge­zählt die Stunden, in denen ich in einem dun­kel­li­la­far­benen, knie­langen, grob gewebten Wollrock zu Nenas Luft­ballons im Jugend­treff­keller der katho­li­schen Kirche abtanzte und mir allein schon deshalb unerhört revo­lu­tionär vorkam. Das war damals Freiheit für uns.

Vor der ersten Liebe war man scheu. Stun­denlang lag ich mit meinem ersten Objekt der Begierde Nase an Nase auf der Wiese und spürte, wie Herbert Grö­ne­meyers Flug­zeuge in meinem Bauch flattern und später auch so manche Bruch­landung hinlegten.

Herbert – zufällig sah ich ihn kürzlich im TV bei einer Rück­schau auf die 80er Jahre. Schweiß­ge­badet, in voller Pracht schmet­terte er mit blonder Schmalz­locke seine Lie­bes­hymne an Bochum ins Mikrofon. Eine Kraft und Lei­den­schaft, die man so heute gar nicht mehr kennt.

Nena bekam erst einmal Kinder, verlor ein Baby nach inten­siver Pflege und ver­schwand aus meinem Blickfeld, bis ich vor einigen Jahren davon hörte, dass sie eine eigene Schule in Hamburg gründen wollte. Das inter­es­sierte mich. Ich hörte in eine Talkshow hinein, bei der sie zu Gast war und schaltete wenige Sekunden, nachdem ich ihr zickiges Gehabe und dass sie eigentlich gar nicht hier sein wolle (warum war sie dann gekommen?) ange­widert ab. Seitdem machte ich es mir zur Aufgabe, alles, was ich von Nena sah, wegzuschalten.

Herbert war mir schon früher suspekt geworden. Erst mit seinem hek­ti­schen Kla­gelied über Männer und dann mit seiner Hymne „Kinder an die Macht“. „Wie bescheuert“, dachte ich mir schon damals. „Sie mag Musik nur wenn sie laut ist“ berührte mich jedoch – ebenso wie Grö­ne­meyers trau­riges Schicksal, als er seine Frau an den Krebs verlor.

Erst während der Flücht­lings­krise wurde ich Grö­ne­meyer wieder gewahr. Wie ein altes U‑Boot tauchte er aus den Untiefen des Ver­gessens wieder auf und begann unter­schiedslos aus seiner abge­schot­teten Lon­doner Villa seine armen Lands­leute mit Vor­würfen zu über­ziehen, weil sie nicht jeden Boots­flüchtling mit freu­digen Armen auf­nehmen wollten.

Die Krönung war sein Auf­tritt im Sports­palast – „Keinen Mil­li­meter nach rechts“ – der Göring alle Ehre gemacht hätte. Nichts war übrig­ge­blieben von dem strah­lenden, jungen Mann, der ein Lie­beslied an seine Hei­mat­stadt mit Inbrunst her­aus­ge­sungen hatte. Statt dessen auf der Bühne ein feistes, schwit­zende Wallroß, das sich wohl nicht damit abfinden konnte, dass seine besten Tage vorbei waren. Herbert, Du hast mich ent­täuscht. Merke: Ein unbe­ach­teter Rollmops in der Protz­villa ist stets besser als ein räso­nie­render Rollmops auf der Bühne.

Und dann Nena. Nena, die ich schon längst als fest­ge­fahrene links­ra­dikale Oma oder Wagenknecht’sche Life­style-Linke abge­schrieben hatte. Nena hätte es sich wie Grö­ne­meyer, Campino, Wolfgang Nie­decken und all den anderen ehe­ma­ligen Revo­luzzer als fette, faule Künst­ler­ma­krele gut gehen lassen und in den trüben Gewässern der Ein­heits­meinung mit­dümpeln können.

Statt dessen offen­barte sie sich als flinker Lachs, der gegen den Strom die Gehege ihres Publikums über­sprang und ein authen­ti­sches Statement abgab, von dem mir jetzt noch die Ohren klingen:

„Die Frage ist nicht, was wir dürfen, sondern die Frage ist, was wir mit uns machen lassen.“ (Nena, am 25.7.2021 bei ihrem Ber­liner Konzert)

Respekt, Nena. Und wo wir schon dabei sind: Respekt auch an Dich, Helge Schneider.

Und die anderen zahn­losen Hechte? Herbert, Campino und Wolfgang? Beim Coro­na­putzen habe ich noch etwas abge­staubtes Fisch­futter hinten im Schrank gefunden. Ich glaube, das trifft genau Euren Geschmack.

In diesem Sinne, oder wie Nena schon 1989 sang:

„Immer weiter, immer weiter gradeaus
Nicht ver­zweifeln, denn da holt dich niemand raus
Komm steh selber wieder auf.“

(„Wunder gescheh’n, 1989)

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Maria Schneider ist freie Autorin und Essay­istin. In ihren Essays beschreibt sie die deutsche Gesell­schaft, die sich seit der Grenz­öffnung 2015 in atem­be­rau­bendem Tempo ver­ändert. Darüber hinaus ver­fasst sie Rei­se­be­richte und führt neben ihrer Berufs­tä­tigkeit seit November 2020 den Blog Con­servo, der 2010 von Peter Helmes gegründet wurde. Kontakt: Maria_Schneider@mailbox.org