screenshot youtube

Staats­affäre Natascha Kam­pusch: Die “offi­zielle Geschichte”, die so nicht stimmt!

Am 2. August 2021, pünktlich zum 15. Jah­restag ihrer Flucht, blickt Natascha Kam­pusch in einem “Thema Spezial”  in ORF 2 zurück.

Dazu schreibt heute.at unter anderem:

Hier bestellen!

Wolfgang Prik­lopils Haus steht in der Ein­fa­mi­li­en­haus­siedlung in Strasshof wie ein Mahnmal für das, was hinter hohen Hecken und dicken Mauern unbe­merkt von den Nachbarn geschehen konnte. Alle zwei Monate kommt Natascha Kam­pusch hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Das Haus wurde ihr als Ent­schä­digung für das Erlittene zuge­sprochen, doch es ist mehr Fluch als Segen. Vor 15 Jahren, am 23. August 2006, gelang Natascha Kam­pusch die Flucht aus diesem Gefängnis (…)

Seit die zehn­jährige Natascha 1998 auf dem Schulweg ent­führt worden ist, hat Christoph Feur­stein über den Fall berichtet und 2006 das erste Fern­seh­in­terview nach ihrer Flucht geführt. Es ging um die Welt. Doch bald war die junge Frau mit Ver­schwö­rungs­theorien und Anfein­dungen kon­fron­tiert, ihr Selbst­be­wusstsein und ihre Elo­quenz irri­tieren viele (…)

Quelle: https://www.heute.at/s/kampusch-mir-sollte-es-so-gehen-wie-hitlers-opfern-100155467

Selbst heute noch werden anders­lau­tende und vor allem fak­ten­ba­sierte Recherchen als »Ver­schwö­rungs­theorien« abgetan. So auch die meines Kol­legen Udo Schulze und mir, obwohl wir ÖFFENTLICT bei einer Pres­se­kon­ferenz in Wien, bei der wir unser Buch vor­stellten, dazu auf­ge­rufen haben, dass Kri­tiker diese WIDER­LEGEN sollen.

Das ist bis heute nicht geschehen!

Vorab einige Anmerkungen:

Mehrfach haben wir Kam­puschs Management[i] um ein per­sön­liches oder schrift­liches Interview mit und von Natascha Kam­pusch ersucht. Vergeblich.

Für alle in diesem Buch genannten Per­sonen, ob mit rich­tigem Namen, Pseudonym oder Abkürzung, gilt aus recht­lichen Gründen die Unschuldsvermutung.

Auch wenn nur einer der Autoren ein Interview geführt, Orte bereist hat etc. benutzen wir im Text die Mehrzahl (»wir«).

Alle Recher­che­er­geb­nisse zu diesem Buch, Dateien, Doku­mente, Fotos, Tonband- und Film­auf­nahmen, sind ver­traulich bei Anwälten und Jour­na­lis­ten­kol­legen in Deutschland, Öster­reich, Schweiz, USA und England hin­terlegt. Sollte es betreffs unserer Per­sonen zu »Auf­fäl­lig­keiten« von Dritten oder gegen unser Umfeld kommen, werden diese Belege in den Medien der genannten Länder ver­öf­fent­licht und die Behörden eingeschaltet.

Quellen:

[i] Mit E‑Mails der Autoren an Wolfgang Brunner v. 31.08.11, 20.02.13 und 01.03.2012/Archiv Grandt/Schulze/Absagen von Wolfgang Brunner an die Autoren mit E‑Mails v. 02.09.11 und 01.03.13/Archiv Grandt/Schulze

————————

Bereits im Frühjahr 2013 schrieben mein Kollege Udo Schulze und ich zur Causa Natascha Kampusch:

»Wir müssen jeden Tag und überall in der Gesell­schaft für Demo­kratie, Toleranz und Respekt kämpfen.«

Stieg Larsson (Schwed. Jour­nalist und Schrift­steller)[i]

August 2011, Nähe von Wien: In einem Restaurant treffen wir hoch­rangige Per­sön­lich­keiten aus Politik und Justiz, sowie Insider des weltweit ein­zig­ar­tigen Ent­füh­rungs­falles (Causa) Natascha Kam­pusch. Auf­grund frü­herer Recherchen und Kon­takte kennen diese Per­sonen unsere jour­na­lis­tische Arbeit. Sie bitten uns den Fall aus Deutschland neu anzu­stoßen, weil ein Teil der Medien in Öster­reich poli­tisch gesteuert sein soll. Die wahre Geschichte würde so ver­schwiegen, ver­schleiert und vertuscht.

Kurz darauf werden uns hun­derte von Seiten ver­trau­licher und zum Teil höchst geheimer Doku­mente zur Causa Kam­pusch, sowie Ton­band­auf­zeich­nungen und Foto-und Video­ma­terial anonym zuge­spielt. Daraus erfahren wir von Sach­ver­halten, die der Öffent­lichkeit bislang zum größten Teil vor­ent­halten oder nur teil­weise oder ver­fälscht wie­der­ge­geben wurden. Uns wird schnell klar: Die »inof­fi­zielle« Geschichte um den Fall Kam­pusch unter­scheidet sich dras­tisch von der offi­zi­ellen Erzähl­weise. Diese inof­fi­zielle Geschichte ist Inhalt dieses Buches.

Bei der Sichtung des Mate­rials ging es uns wohl wie dem ver­stor­benen Film­pro­du­zenten Bernd Eichinger, der das Drehbuch für den Kinofilm 3096 Tage begann, bevor ihn der Tod einholte.

In der Bio­graphie seiner Frau Katja steht zu lesen: »Schon beim zweiten Gespräch erklärte sie (Natascha Kampusch/d.A.) Bernd (Eichinger/d.A.), dass sie NICHT alles erzählen werde (…) Niemand kannte die Geschichte so gut wie er. Er hatte Geheim­nisse erfahren, die sonst nur weniger als ein halbes Dutzend Men­schen kennen«.[1]

Auch wir haben von diesen »Geheim­nissen« erfahren. Im vor­lie­genden Buch prä­sen­tieren wir sie in dieser Zusam­men­stellung das erste Mal einer breiten Öffent­lichkeit. Gegen alle Wider­stände und Wid­rig­keiten, die uns während unserer Recherchen wider­fahren sind. Denn trotz aller doku­men­tierten Quel­len­belege, die uns vor­liegen, war es fast unmöglich eine Redaktion in Deutschland zu finden, die den jour­na­lis­ti­schen Mut hatte, an der offi­zi­ellen Kam­pusch-Story zu rütteln und neu zu erzählen.

Aus gut infor­mierten Bran­chen­kreisen erfuhren wir später auch, warum: Deutsche und aus­län­dische TV- und Print-Medien hätten hun­dert­tau­sende Euro für Exklusiv-Inter­views oder Ver­mark­tungs­rechte der »offi­zi­ellen« Kam­pusch-Story bezahlt und würden nun – im sprich­wört­lichen Sinne – den Teufel tun, sich mit einer medialen Rich­tig­stellung selbst ins Knie zu schießen. Das macht Sinn.

Der lang­jährige Chef­re­dakteur und Her­aus­geber der Presse, Thomas Chorherr, zitierte in diesem Zusam­menhang den fran­zö­sische Romancier, Dra­ma­tiker, Phi­losoph und Publizist Jean-Paul Sartre (1905–1980): »Die Hölle sind die anderen.« Doch »wer sind die anderen?« fragt  Chorherr weiter. »Jene, die nicht zu Nata­schas Freunden zählen. Also wir, die nicht alles glauben. ‘Wer lügt da wirklich?’, wollte ich schon vor Monaten, ja Jahren wissen. ‘Alle!’ wurde mir von Leuten, die sich meiner Meinung nach aus­kannten, unver­blümt geant­wortet. Das war noch bevor Nata­schas Mär­chenbuch (gemeint ist ihre Bio­graphie 3096 Tage/d.A.) erschienen war, noch immer ein Besteller, obgleich seither etliches pas­sierte«. Chorherr weiter: »Die Hölle sind die anderen. Jene, die von den Freunden Nata­schas als ‘Meute’ bezeichnet werden (…) Die Meute ist die Hölle, und die Hölle sind wir, die nicht alles glauben, was Natascha sagt«.[2]

Nach Chor­herrs phi­lo­so­phi­scher Defi­nition müssten auch wir die »Hölle«, die »Meute« sein, weil wir die Causa Kam­pusch nicht nur hin­ter­fragen, sondern auch große Teile der »offi­zi­ellen« Geschichte wider­legen können.

Schließlich erklärte sich ein großer deut­scher Pri­vat­sender im Rahmen eines TV-Magazins doch noch dazu bereit einige Wider­sprüche im Fall Kam­pusch aufzuzeigen.

Unser Film wurde am 29. Oktober 2011 aus­ge­strahlt. Im Februar 2012 erzählten wir in einer Arti­kel­serie für das Schweizer Inter­net­portal 20 Minuten Online mit Kol­le­ginnen und Kol­legen den Fall Kam­pusch neu. Die dies­be­züg­lichen Leser waren dankbar für unsere klar­stel­lende Bericht­erstattung. »Wie es scheint, haben die Medien in Öster­reich versagt, weil sie zu stark mit der Politik ver­bunden sind«, schrieb einer. Und eine Leserin kom­men­tierte: »Als Öster­rei­cherin muss ich wirklich auch ein großes Lob (…) aus­sprechen: bei uns erfährt man sonst nämlich nicht viel!«[3]

Die Arti­kel­reihe in der Schweiz sorgte nicht nur für großes mediales Auf­sehen bis ins Ausland, sondern auch für Neider aus der Branche. So schrieb der freie Jour­nalist Herwig G. Höller im Schweizer digi­talen Medi­en­ma­gazin Medi­en­woche, dass die Kam­pusch-Bericht­erstattung von 20.min.ch »in ihrer Über­trie­benheit« bis­weilen an »Real­satire« grenze und die Auf­ma­chung des Über­blicks­videos bis­weilen an einen »fik­tiven Krimi« erinnere. »Dieser spielt natürlich mit Kli­schees von einem armen Mädchen und bösen Männern aus Öster­reich, die offen­sichtlich – Freud lässt grüßen – Pro­bleme mit ihrer Sexua­lität haben (…) Was die Zugriffs­zahlen betrifft, hat das Sujet offenbar sein Ziel nicht ver­fehlt. 20min.ch-Chefredaktor Hansi Voigt[4] schrieb auf Twitter von ‘Allzeit-Rekorden’«.[5]

Dazu nur so viel: Gerne sind er – und andere Zweifler – dazu auf­ge­rufen, die in diesem Buch benannten Quellen, Doku­mente, Unter­lagen, Videos und Ton­bänder zu wider­legen. Und zwar öffentlich und im Beisein von unab­hän­gigen Experten. Dann wird schnell ersichtlich werden, wer tat­sächlich Ver­schwö­rungs­theorien ver­breitet und wer nicht. Kon­takte dies­be­züglich über den Verlag.

Inzwi­schen sind viele neue Fakten hin­zu­ge­kommen, weitere ver­trau­liche Doku­mente und Unter­lagen an uns aus­ge­händigt worden, die das Bild der »inof­fi­zi­ellen« Geschichte weiter vervollständigt.

Der Fall Kam­pusch ist viel mehr als »nur« ein weltweit ein­zig­ar­tiger Entführungsfall:

Er führt uns auch in die dunklen Abgründe der Kin­der­por­no­graphie und Kin­der­pro­sti­tution; der abscheu­lichen Pädo­kri­mi­na­lität also. Vor allem aber zeigt er auf, wie ein ganzer Staat erschüttert werden kann. Wie kri­mi­nelle Ver­tu­schungen, Mani­pu­la­tionen und Vet­tern­wirt­schaften auf Ebenen der Politik und Justiz, von Geheim­diensten und Medien, sein Gefüge wie Krebs­zellen zer­fressen können und wie scheinbar unzu­sam­men­hän­gende Sach­ver­halte und hoch­rangige Prot­ago­nisten in einem weit­ge­fä­cherten Netzwerk zusammenhängen.

Aus diesem Grund ist der Fall Natascha Kam­pusch ein staats­ge­fähr­dender Skandal. Eine »Staats­affäre«, die uns dras­tisch die Schat­ten­seite eines Rechts­staates vor Augen führt, die aller­dings erst nach und sichtbar wird und die mit allen demo­kra­ti­schen Mitteln bekämpft werden muss. Im Zuge unserer Recherchen haben wir uns mit zahl­reichen öster­rei­chi­schen Natio­nal­rats­ab­ge­ord­neten getroffen, die dafür auch einstehen.

Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die »Staats­affäre Natascha Kam­pusch« nicht nur auf Ermitt­lungs­ebene, wie es in der Ver­gan­genheit mehrfach getan wurde, sondern vor allem auch in der Justiz, auf staats­an­walt­schaft­licher Ebene und in der Politik auf­ge­klärt wird. Und zwar restlos. Die Zeit dafür ist reif.

————–

Quellen:

[1] Zitiert nach: Katja Eichinger: »BE«, Hamburg 2012, S. 556, 558

[2] »Natascha und ihre Freunde Die anderen – Bestien und Meute« in: diepresse.com v. 11.03.12 (http://diepresse.com/home/meinung/merkswien/739322/Natascha-und-ihre-Freunde-Die-anderen-Bestien-und-Meute)/Zugriff: 12.03.12

[3] »Ver­steckt, ver­tuscht, perfekt ver­marktet« in: 20min.ch v. 28.02.12 (http://www.20min.ch/ausland/dossier/kampusch/story/Versteckt–vertuscht–perfekt-vermarktet-12619417)/Zugriff: 28.02.12

[4] Hansi Voigt ist heute nicht mehr bei 20min. tätig

[5] »Der Sinn der Kam­pusch-Kam­pagne« in: medienwoche.ch v. 12.03.12 (http://medienwoche.ch/2012/03/12/der-sinn-der-kampusch-kampagne/)/Zugriff: 12.03.12

[i] Zitiert nach: Kurdo Baksi: »Mein Freund Stieg Larsson«; München2010, S. 85

————–

Fall Natascha Kam­pusch – Die »offi­zielle« Geschichte[i] (von Guido Grandt)

»Nach zwei Treffen mit NK[1] beschloss Bernd[2], sich diesem Stress nicht weiter aus­zu­setzen. Er hatte mitt­ler­weile auch die Fahnen zu NKs Buch[3] gelesen und fand das Buch gar nicht so schlecht. Zwar fehlte viel, aber es war immerhin ein Anfang«.

Katja Eichinger (Jour­na­listin, Autorin und Ehefrau des Pro­du­zenten Bernd Eichinger)[ii]

Öster­reich, Wien, 2. März 1998, gegen 7.45 Uhr: Die zehn­jährige Natascha Kam­pusch ver­lässt die Wohnung am Renn­bahnweg im Wiener Hei­mat­bezirk Donau­stadt und macht sich auf den Weg zur Volks­schule Brio­schiweg. Dabei wird sie von dem 44-jäh­rigen Wolfgang Prik­lopil in einen weißen Klein­trans­porter gezerrt und ins nie­der­ös­ter­rei­chische Strasshof ent­führt. Er ver­steckt das Mädchen in seinem Haus in einem »Verlies«, das durch eine Tre­sortür gesi­chert ist. Acht­einhalb Jahre lang.

Als die kleine Natascha nicht nach Hause kommt, alar­mieren ihre Eltern Bri­gitta Sirny und Ludwig Koch die Polizei. Zunächst ermittelt das Sicher­heitsbüro Wien. Einen Tag später berichtet die 12-jährige Schü­lerin Ischtar A. der Polizei ihre Beob­achtung, dass Natascha in einen weißen Bus ver­bracht worden ist. Sie ist die einzige Zeugin der Ent­führung. In der Folge über­prüft die Polizei 700 weiße Klein­busse aus Wien und Umgebung, sowie ihre Fahrer.

Am 6. April 1998 wird Wolfgang Prik­lopil von Beamten des Sicher­heits­büros in seinem Haus in Strasshof auf­ge­sucht. Er gibt an den Kleinbus für Bau­ar­beiten zu benutzen. Doch ent­gegen erster poli­zei­licher Angaben hat er kein Alibi für die Tatzeit. Die Ermittler machen lediglich Fotos und fahren wieder zurück zu ihrer Dienststelle.

Ohne Erfolg bleiben auch groß­an­ge­legte Polizei-Such­ak­tionen in der Luft, zu Lande und unter Wasser nach dem Mädchen.

Am 14. April 1998 macht ein Hun­de­führer der Wiener Polizei, der namentlich nicht auf­tauchen will und in den Akten anonym geführt wird, das Sicher­heitsbüro erneut auf den »Eigen­brötler« Wolfgang Prik­lopil auf­merksam. Dieser habe Kon­takt­pro­bleme und even­tuell Waffen. Zudem soll er einen »Hang zu Kindern« auf­weisen[4].

1999 bekommt Prik­lopil mehrmals Besuch von Behör­den­mit­ar­beiter bei sich zu Hause. Sie ent­decken Natascha aller­dings nicht.

Im Juli 2002 wird der Ent­füh­rungsfall der »SOKO Kam­pusch« über­geben, der von der bur­gen­län­di­schen Kri­mi­nal­ab­teilung geleitet wird. Zwei Jahre später lässt das öster­rei­chische Bun­des­kri­mi­nalamt auf dem Amts­hil­feweg prüfen, ob es einen Zusam­menhang mit den Taten des Michel Four­niret gibt. Der fran­zö­sische Seri­en­mörder hatte zwi­schen 1987 und 2001 sieben junge Mädchen, zum Teil noch Kinder, ver­ge­waltigt und ermordet. Im Mai 2008 wird das »Monster aus den Ardennen«[5], wie ihn die Presse nennt, zu einer lebens­läng­lichen Frei­heits­strafe verurteilt.

Am 1. Juli 2005 gibt es in der Causa Kam­pusch eine Zustän­dig­keits­über­tragung an das Lan­des­kri­mi­nalamt Bur­genland mit anschlie­ßendem Auftrag zur Cold-Case[6]-Eva­lu­ierung.

Am 23. August 2006 gelingt Natascha Kam­pusch nach 3096 Tagen die Flucht: während des Rei­nigens von Prik­lopils Wagen läuft sie einfach davon. Der Ent­führer selbst steht einige Meter abseits zum Tele­fo­nieren. Unweit ihres Gefäng­nisses bittet sie eine Frau um Hilfe, die die Polizei ver­ständigt. Als der Ent­führer die Flucht der jungen Frau ent­deckt, fährt er mit seinem roten BMW nach Wien, wirft sich vor einen Zug und stirbt sofort.

Einen Tag später bestä­tigen die Ermittler, dass es sich bei der jungen Frau um die 18-jährige Natascha Kam­pusch handelt. Dafür sprechen eine spe­zi­fische Narbe, ihr Rei­sepass, der im Verlies in Strasshof gefunden wird und kurz darauf ein DNA-Gut­achten. Auch ihre Eltern iden­ti­fi­zieren sie.

Es wird bekannt, dass Prik­lopil das Mädchen auch zum Ein­kaufen und zu Aus­flügen mit­ge­nommen hat.

Am 6. Sep­tember 2006 gibt Natascha Kam­pusch erstmals Inter­views in Print­medien und im ORF und bekennt: »Ich dachte nur an Flucht«.[7]

Am 21. Sep­tember 2006 wird das Ver­fahren gegen Wolfgang Prik­lopil wegen Todes ein­ge­stellt.[8]

Weitere Ermitt­lungen wegen »all­fäl­liger« Mit­täter werden ein­ge­leitet. Am 15. November 2006 stellt die Staats­an­walt­schaft das Ermitt­lungs­ver­fahren jedoch ein, weil es – bis auf die Zeu­gen­aus­sagen[9] der zwölf­jäh­rigen Ischtar A. – keine Hin­weise auf Kom­plizen gibt.

Im Februar 2008 erklärt der ehe­malige Chef des Bun­des­kri­mi­nal­amtes, Herwig Hai­dinger, im Innen­aus­schuss des Par­la­ments, dass es Hin­weise geben würde, die zu einer frü­heren Auf­de­ckung des Kam­pusch-Falles geführt hätten, aber ver­tuscht worden wären. Dar­aufhin setzt Innen­mi­nister Günther Platter eine Eva­lu­ie­rungs­kom­mission in der Causa ein. Ex-Ver­fas­sungs­ge­richtshof-Prä­sident Ludwig Ada­movich steht ihr vor. Im April 2008 spricht Ada­movich erstmals von einer »unge­klärten Frage« nach mög­lichen Mit­tätern.[10]

Im Juni des­selben Jahres kommt der Kom­mis­si­ons­be­richt zu dem Ergebnis, »dass die sach­dien­lichen Ermitt­lungs­an­sätze bisher nicht voll­ständig aus­ge­schöpft wurden«[11] und emp­fiehlt eine »Vielzahl an Ver­bes­se­rungs­vor­schlägen in Hin­blick auf künftige Kri­mi­nal­fälle von beson­derer Kom­ple­xität und öffent­lichem Interesse«. Hin­gegen könne von »poli­ti­scher Ver­tu­schung« nicht gesprochen werden.[12]

Im Oktober 2008 wird der Fall Kam­pusch neu auf­ge­rollt. Die Staats­an­walt­schaft Wien ordnet Erkun­di­gungen durch das Bun­des­kri­mi­nalamt an. Dazu wird am 1. Dezember 2008 beim Bun­des­kri­mi­nalamt eine Son­der­kom­mission (Soko Kam­pusch) ein­ge­setzt, die sich mit den unge­klärten Fragen aus der vor­he­rigen Eva­lu­ie­rungs­kom­mission beschäf­tigen soll. Die behörd­liche Leitung wird Erich Zwettler, die ope­rative Leitung Oberst Franz Kröll über­tragen. Kurz darauf wird die so genannte Ada­movich-Kom­mission durch das Bun­des­mi­nis­terium für Inneres wieder ein­ge­setzt, mit dem Ziel einer inter­dis­zi­pli­nären, beglei­tenden struk­tu­rellen Unter­stützung der Kriminalpolizei.

Sieben Monate später gibt es weitere Spe­ku­la­tionen über mög­liche Kom­plizen. Die Eva­lu­ie­rungs­kom­mission spricht sogar von »Lebens­gefahr durch einen mög­lichen Mit­täter«, während das Bun­des­kri­mi­nalamt dies ver­neint[13]. Im Juli 2009 erhalten Ermittler Ein­sicht in das von der Staats­an­walt­schaft bislang unter Ver­schluss gehaltene Ein­ver­nah­me­pro­tokoll von Kam­pusch, das unmit­telbar nach ihrer Flucht auf­ge­nommen wurde. Im selben Monat über­nimmt der Wiener Ober­staats­anwalt Thomas Mühl­bacher die Leitung des Verfahrens.

Im Sep­tember 2009 wird das Ver­fahren gegen den Partner und Geschäfts­freund des Ent­führers, Ernst H.[14], sowie gegen die wei­teren Ver­däch­tigen, Eli­sabeth G.[15] und den Hee­res­oberst im Ruhe­stand, Peter B.[16], ein­ge­stellt.

Im November 2009 gerät Prik­lopils Geschäfts­partner und Freund, Ernst H., erneut in den Fokus der Ermitt­lungen. »Er war unter Umständen beteiligt«, sagt der Grazer Ober­staats­anwalt Thomas Mühl­bacher. Ernst H. behauptet, dass Prik­lopil ihm kurz vor seinem Suizid Kam­puschs Ent­führung gestanden hätte, deshalb würde er Infor­ma­tionen darüber ver­fügen. Letztlich habe er dessen Selbstmord aber nicht ver­hindern können.

In einem ORF-Interview am 16. November 2009 bezweifelt Natascha Kam­pusch, dass ihr Ent­führer Mit­täter gehabt hätte. »Ich habe nur den Prik­lopil gesehen«, sagt sie.[17]

Am 8. Januar 2010 erklärt die Staats­an­walt­schaft bei einer Pres­se­kon­ferenz, dass die Causa Kam­pusch ein­ge­stellt ist, weil es keine wei­teren Erfolg ver­spre­chenden Ermitt­lungs­an­sätze geben würde.[18] Soko­leiter Oberst Franz Kröll ist nicht anwesend.

Im Januar 2010 kommen die Ermitt­lungs­be­hörden zu dem Ergebnis, dass Wolfgang Prik­lopil offenbar keine Kom­plizen oder Mit­wisser gehabt hatte. Somit schließt der Leiter der Ober­staats­an­walt­schaft Werner Pleischl eine »Mehr­täter-Theorie« aus.[19] Auch der Ver­dacht gegen Ernst H. erhärtet sich scheinbar nicht. Aller­dings wird er wegen Begüns­tigung ange­klagt, weil er Prik­lopil bei der Flucht geholfen haben soll. Im August wird er jedoch vom Wiener Straf­lan­des­ge­richt von dem Vorwurf frei­ge­sprochen.[20]

Wenige Wochen vorher, am 24. Juni 2010, kommt Oberst Franz Kröll ums Leben. Offi­zielle Version: Selbstmord.

Im November 2010 werden Ermitt­lungen in Inns­bruck gegen fünf in den Fall Kam­pusch invol­vierte Staats­an­wälte wegen des Ver­dachts des Amts­miss­brauchs bekannt. Ihnen werden schwere Ver­säum­nisse bei den Ermitt­lungen vor­ge­worfen. Dabei handelt es sich um: Werner Pleischl, Leiter der Wiener Ober­staats­an­walt­schaft, Thomas Mühl­bacher, Leiter der Staats­an­walt­schaft Graz und ehe­ma­liger Son­der­er­mittler in der Causa Kam­pusch, sowie die Staats­an­wälte Otto Schneider, Hans-Peter Kro­na­wetter und Gerhard Jarosch.

Aus­gelöst hatte die Ermitt­lungen der ehe­malige Prä­sident des Obersten Gerichts­hofes, Johann Rzeszut, der auch Mit­glied der vom Innen­mi­nis­terium ein­ge­setzten Eva­lu­ie­rungs­kom­mission war. In einer »Sach­ver­halts­mit­teilung«[21] v. 29. Sep­tember 2010 an die fünf Klub­ob­leute des Par­la­ments (Josef Cap (SPÖ), Karl­heinz Kopf (ÖVP), Heinz-Christian Strache (FPÖ), Eva Gla­wi­schnig-Pie­sczek (Die Grünen) und Josef Bucher (BZÖ)) erklärt er, dass die Staats­an­wälte »kon­se­quent und beharrlich ent­schei­dende poli­zei­liche Ermitt­lungs­er­geb­nisse ver­nach­lässigt« haben sollen.[22] Das Amts­miss­brauchs-Ver­fahren gegen die fünf Staats­an­wälte wird aller­dings am 23. November 2011 ein­ge­stellt.[23]

Im Mai 2011 lehnt die Finanz­pro­ku­ratur im Namen des Innen­mi­nis­te­riums, eine Ent­schä­di­gungs­zahlung an Natascha Kam­pusch für ihre jah­re­lange Gefan­gen­schaft ab, weil kein »begrün­deter« Ver­dacht gegen Ent­führer Prik­lopil vor ihrer Flucht weitere Ermitt­lungen not­wendig gemacht hätte.[24] Kam­pusch for­derte eine Ent­schä­digung, weil sie sicher war, dass sie hätte früher aus dem Kel­ler­verlies befreit werden können.[25]

Im Dezember 2011 wird ein geheimer Par­la­ments­aus­schuss, der Ständige Unter­aus­schuss des Aus­schusses für innere Ange­le­gen­heiten, ein­ge­richtet, um die Ermitt­lungen im Fall Kam­pusch noch einmal zu eva­lu­ieren. Zur Aus­kunft vor­ge­laden werden Johann Rzeszut, ehe­ma­liger Prä­sident des Obersten Gerichtshofs in Wien und Mit­glied der Eva­lu­ie­rungs­kom­mission, Ludwig Ada­movich, ehe­ma­liger Prä­sident des Ver­fas­sungs­ge­richtshofs und Vor­sit­zender der ersten Eva­lu­ie­rungs­kom­mission (Ada­movich-Kom­mission), Staats­anwalt Hans-Peter Kro­na­wetter, Lei­tender Ober­staats­anwalt Inns­bruck, Kurt Spitzer, Lei­tender Staats­anwalt Wien, Thomas Mühl­bacher, Gene­ral­major Nikolaus Koch, Chef­inspektor Früh­stück und Uni­ver­sitäts-Pro­fessor Daniele Risser. Der eben­falls ein­ge­ladene Unter­su­chungs­richter in der Causa Kam­pusch, Christian Gneist, folgt der Ein­ladung des Unter­aus­schusses »bedau­er­licher Weise« nicht.[26]

Am 28 Juni 2012 ver­öf­fent­licht der Aus­schuss einen Abschluss­be­richt, in dem es unter anderem heißt: »Der ständige Unter­aus­schuss für Innere Ange­le­gen­heiten hatte in der Eva­lu­ierung des Falls ‘Kam­pusch’ vor allem zwei Fragen zu beant­worten: 1. Sind die Ermittler von Staats­an­walt­schaft und Kri­mi­nal­po­lizei ihrer Aufgabe mit der not­wen­digen Sorgfalt und Pro­fes­sio­na­lität nach­ge­kommen? 2. Ist den wesent­lichen Fragen, die sich im Laufe der Ermitt­lungen ergeben haben, aus­rei­chend nach­ge­gangen worden? Nach Ansicht des Unter­aus­schusses müssen beide Fragen mit ‘Nein’ beant­wortet werden. Dabei wurde die Arbeit des Unter­aus­schusses durch den Umstand, dass ihm nicht alle Akten vor­ge­legen sind, erschwert. Daher emp­fiehlt der Unter­aus­schuss dem Bun­des­mi­nis­terium für Innere Ange­le­gen­heiten und dem Bun­des­mi­nis­terim für Justiz die Eva­lu­ierung der Ermitt­lungs­ar­beiten zum Fall ‘Kam­pusch’ durch Cold-Case-Spe­zia­listen mit inter­na­tio­naler Betei­ligung, etwa durch Experten des Bun­des­kri­mi­nal­amtes der Bun­des­re­publik Deutschland oder des FBI der Ver­ei­nigten Staaten von Amerika«.[27]

Das öster­rei­chische Innen­mi­nis­terium bittet die US-ame­ri­ka­nische Bun­des­po­lizei Federal Bureau of Inves­ti­gation (FBI) sowie das deutsche Bun­des­kri­mi­nalamt (BKA) um Hilfe.

Im Juli 2012 beginnt die »Cold Case«-Überprüfung der Causa Kam­pusch. Ende Oktober 2012 treffen sich zu einem ersten Infor­ma­ti­ons­aus­tausch Ermittler des FBI und Ermittler des BKA mit der Kam­pusch-Eva­lu­ie­rungs­kom­mission im öster­rei­chi­schen Innen­mi­nis­terium und führen die bis­he­rigen Ergeb­nisse der ope­ra­tiven Teams zusammen. Anscheinend gab es im Fall Kam­pusch ein »unpro­fes­sio­nelles Vor­gehen der Ers­termittler«[28]. Das Innen­mi­nis­terium will dazu keine Stellung nehmen. Bis Ende 2012 soll ein Ergebnis vor­liegen. Aller­dings ver­zögert sich der Bericht bis ins Frühjahr 2013. Doch auch dies ver­läuft im sprich­wört­lichen Sande …

Dies ist die »offi­zielle« Geschichte des weltweit ein­zig­ar­tigen Entführungsfalles.

Doch sie stimmt – unseren Recherchen nach – so nicht.

Es gibt noch eine andere, eine »geheime«, eine »inof­fi­zielle« Geschichte, die wir auf­ge­deckt haben!


Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de