Verehrte Leser, wo haben sie – außer bei n‑tv davon gelesen? Das wird unter einer meterdicken Schicht des Schweigens begraben. Warum? Weil die Türkei ein NATO-Mitglied ist und die geopolitisch äußerst wichtige Meerenge des Bosporus und damit einen Zugang Russlands zum Mittelmeer beherrscht. Während eine Explosion von Empörung und Wut über die Invasion Präsident Putins in die Ukraine wochenlang Schockwellen über den Globus schickt, darf der türkische Präsident Erdogan mit Luftwaffe und Soldaten in das Nachbarland Irak einfallen, ohne dass auch nur ein Hauch von Kritik geübt wird. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe?
Ja, es gibt Unterschiede. Präsident Putin hatte lange, sehr lange vorher immer wieder gemahnt, dass lebenswichtige Sicherheitsinteressen Russlands mit Füßen getreten werden. Er hatte die ständige NATO-Osterweiterung gegen die Zusagen des Westens kritisiert und dass nun die Ukraine ebenfalls in Richtung NATO driftet und von einer „roten Linie“ gesprochen. Er hatte die USA wochenlang aufgefordert, eine Stellungnahme abzugeben, wie der Konflikt gelöst werden kann. Er hat immer wieder den ständigen Völkermord an den russischstämmigen Ukrainern in den Donbass-Volksrepubliken kritisiert. Und er ist konsequent ignoriert worden.
Die Türkei ist immer wieder in den Nordirak einmarschiert, um dort die Kämpfer der PKK, die als Terroristen eingestuft werden (derer sich die USA aber gern im Syrien-Krieg bediente), zu bekämpfen. Im April 2021 bombardierten sie mal eben ein Krankenhaus im irakischen Bezirk Sindschar, als „Kollateralschaden“ werden auch Kindergärten bombardiert und Zivilisten kommen ums Leben. N‑TV schrieb:
„Die Türkei führt in der Region regelmäßig Luftangriffe gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus. Bei einem dieser Angriffe auf eine der PKK nahestehenden Miliz waren am Montag ein ranghohes jesidisches Mitglied sowie zwei seiner Mitstreiter getötet worden. Ein jesidischer PKK-Kämpfer wurde dabei verletzt und zur Behandlung in das nun zerstörte Krankenhaus gebracht, wie ein jesidischer Aktivist AFP sagte. Sindschar ist die Heimat der Jesiden. Die kurdischsprachige religiöse Minderheit war 2014 in besonderem Maße der Verfolgung durch die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) ausgesetzt. Tausende Jesiden wurden vom IS getötet, hunderttausende in die Flucht getrieben. (…) Erst im Juni waren bei einem türkischen Drohnenangriff auf ein von Kurden bewohntes Flüchtlingslager im Nordirak drei Zivilisten getötet worden. Bei dem Angriff auf das Lager Machmur wurde laut kurdischen Angaben ein Kindergarten in der Nähe einer Schule getroffen. “
Für Herrn Präsident Erdogan gilt die Begründung seines Rechts auf Selbstverteidigung. Auch wenn unbeteiligte Zivilisten und Kinder sterben. Vielleicht handelt er ja rechtmäßig. Aber gilt das dann nicht auch für Präsident Putin? Offensichtlich nicht. Offenbar hat Präsident Erdogan Sonderrechte, die ihm von der NATO?, dem Westen?, der USA? verliehen wurden. Frei nach dem Motto „Yes, he is a jerk, but he is OUR jerk!“ (Ja, er ist ein Schurke, aber er ist UNSER Schurke). Während „die Zeit“ den russischen Präsidenten Putin mal ganz leger mit Adolf Hitler vergleicht, werden türkische Militäreinsätze im Irak als „Einsätze“ oder das „Selbstverteidigungsrecht der Türkei“ — oder von den ganz Mutigen als „völkerrechtlich umstrittene Aktion“ etikettiert. Die Türkei macht hierzu geltend, dass die Kurden heimlich einen Großangriff auf die Türkei vorbereiten.
Vergessen wir nicht, dass die Türkei bei ihren Angriffskriegen gegen Syrien – ebenfalls vom Westen widerspruchslos toleriert – im Jahr 2018 ganze Landesteile in Syrien faktisch annektiert haben und bis heute besetzen. Internationale Beobachter versuchen immer wieder, die Verbrechen der türkischen Besatzer an der Bevölkerung in die Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit zu bringen: Folter sei an der Tagesordnung, Kurden werden enteignet und vertrieben, Oppositionelle willkürlich verhaftet. Es soll zu regelrechten ethnischen Säuberungen durch die türkischen Besatzer kommen. Schon seit Sommer 2021 weisen kurdische Organisationen (nicht die PKK) darauf hin, dass früher der Großteil der Bevölkerung in Afrin kurdischer Herkunft gewesen sei, heute aber durch die konsequente Vertreibung und Misshandlung nur noch eine Minderheit von etwa 25 Prozent darstelle. Hunderttausende Kurden lebten in Flüchtlingslagern in Syrien unter dem Existenzminimum und unter erbärmlichen Umständen. Die Türkei habe ganz gezielt Turkmenen und Islamisten in dieser Region angesiedelt. Und die Welt zeigt Desinteresse.
Der britische Guardian schreibt unter dem Titel „Uns gehört nichts mehr: Die Kurden werden nach dem türkischen Angriff aus Afrin verjagt“ (‚Nothing is ours anymore‘: Kurds forced out of Afrin after Turkish assault):
„Kürzlich sind Fremde vom anderen Ende Syriens in Areens Haus und das ihrer Familie eingezogen. Die wenigen Verwandten, die für flüchtige Besuche zurückgekehrt sind, sagen, dass die Zahl der Neuankömmlinge – allesamt Araber – jede Woche steigt. Ebenso die Ressentiments gegenüber den Neuankömmlingen und die Angst, dass die stetigen, zermürbenden Veränderungen einen weiteren Brennpunkt in dem siebenjährigen Konflikt ankündigen könnten.
Wenn überhaupt berichtet wird, dann kommt ein ganz anderes Vokabular zum Einsatz als bei der russischen „Militär-Sonderaktion“. Es heißt nicht „Angriffskrieg“, sondern „Offensive“ oder „Anti-Terror-Aktion“ gegen die verbotene kurdische Arbeiter-Partei PKK. So schreibt “die Zeit” zu der gerade stattfindenden Invasion:
„Die Türkei hat eine neue Offensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak gestartet. Die Luftwaffe habe unter anderem Verstecke, Tunnel und Munitionsdepots bombardiert, teilte das Verteidigungsministerium am Montag mit. Die Türkei begründete den Einsatz mit dem Schutz vor Terrorangriffen und dem Recht auf Selbstverteidigung. Bei dem Angriff seien Kampfjets, Hubschrauber und bewaffnete Drohnen eingesetzt worden. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar sagte, bei dem Einsatz in drei Regionen nahe der türkischen Grenze sei ‚eine große Zahl an Terroristen neutralisiert‘ worden. Der Einsatz werde in den kommenden Stunden und Tagen verstärkt.“
Der Irak protestierte zwar gegen die illegale Militäroperation, aber es interessiert niemanden. Weder die Regierungen der NATO-Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, können sich wenigstens zu einer kritischen Bemerkung entschließen. Derweil ist keine Beschimpfung des russischen Präsidenten hart genug, und die öffentlich-rechtlichen Fernsehnachrichten haben sich zu Plattformen für Russenhetze entwickelt.