Kesselschlacht Stalingrad, Bundesarchiv, Bild 183-P0613-308 / CC-BY-SA 3.0, File:Bundesarchiv Bild 183-P0613-308, Russland, Kesselschlacht Stalingrad.jpg, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-P0613-308,_Russland,_Kesselschlacht_Stalingrad.jpg#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-P0613-308,_Russland,_Kesselschlacht_Stalingrad.jpg

ZEIT­GE­SCHICHTE: Setzte die Rote Armee in STA­LINGRAD »Bio­waffen« gegen deutsche Truppen ein?

Im Süd­russland-Feldzug kam es zu »mys­te­riösen« Tularämie-Erkran­kungen! Ein sowje­ti­scher Experte für bio­lo­gische Kriegs­führung packte aus! Fakt oder Fake?

Vom 23. August 1942 bis zum 2. Februar 1943 ent­brannte die Schlacht von Sta­lingrad, die mit der Ver­nichtung der 6. deut­schen Armee unter General Friedrich Paulus (1890–1957) endete und damit her­kömmlich als Wen­de­punkt des Deutsch-Sowje­ti­schen Krieges ange­sehen wird.

Ins­gesamt kamen etwa 1.052.000 Sol­daten ums Leben: 526.000 Sowjets und 226.000 Deutsche im Kessel der Stadt, weitere 300.000 Ver­bündete in der Umgebung. Zirka 91.000 Wehr­machts­sol­daten gerieten in Gefan­gen­schaft, von denen lediglich 6.000 zurückkehrten.

Soweit die offi­zielle Geschichte.

Doch schon früh tauchten nicht nur Gerüchte, sondern auch Berichte sowje­ti­scher Ver­ant­wort­licher auf, dass die Rote Armee in dieser schick­sal­haften Schlacht »Bio­waffen-Erreger« gegen die deutsche Wehr­macht ein­ge­setzt hätte.

Hin­ter­grund: Seit 1926 forschten sowje­tische Wis­sen­schaftler im Weißen Meer an gezüch­teten Krank­heits­er­regern. Und seit 1941 am Tularämie-Erreger (»Hasenpest«).

So erkrankten 1942 deutsche Sol­daten in der Sowjet­union an Tularämie. Aller­dings behaup­teten die Sowjets, es würde sich dabei um eine natürlich ent­standene Krankheit handeln. Und das, obwohl Wochen darauf auch viele Russen an der gefürch­teten Lun­gen­tu­larämie, die durch die Luft über­tragen wird, starben.

Dem­entspre­chend sprachen zumindest Indizien dafür, dass die Sowjets die »Hasenpest« als Bio­waffe gegen die deut­schen Sol­daten ein­ge­setzt hatten, jedoch später gänzlich auf einen wei­teren Einsatz ver­zich­teten, um nicht auch die eigene Bevöl­kerung aus­zu­rotten. Denn die feind­lichen Truppen standen doch gewis­ser­maßen mitten in Russland.

Soweit also das Wirrwarr aus Gerüchten, Ver­mu­tungen und Fakten.

Erhard Geißler, Pro­fessor für Genetik und ehe­ma­liger Leiter der For­schungs­gruppe Bio­ethik am Max-Del­brück-Centrum für Mole­kulare Medizin, Berlin-Buch, ver­fasste 2005 dazu  eine umfang­reiche Arbeit mit dem Titel: Alibek, Tularaemia and the Battle of Sta­lingrad.[i]  

Dieses »Back­round Document« möchte ich nach­folgend bezüglich der Gerüchte, die Sowjets hätten in der Sta­lingrad-Schlacht Bio­waffen gegen Sol­daten der Wehr­macht ein­ge­setzt, zusammenfassen. 

Auf­ge­stellt wurde diese Behauptung vom 1950 gebo­renen, kasa­chisch­stäm­migen Obersten Ken Alibek alias Kantjan (Kanatzhan) Ali­bekov.[ii]

Zunächst bleibt fest­zu­stellen: Ali­bekov ist bei­leibe kein »Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker«, sondern Experte für bio­lo­gische Kriegs­führung und ehe­ma­liger Direktor der sowje­ti­schen Bio­waffen-Abteilung »Bio­pre­parat«.

Wie bereits erwähnt, behauptete er nach seiner Flucht in den Westen, dass die Rote Armee Fran­cisella tula­rensis, also Tularämie (Hasenpest), gegen die deut­schen Truppen ein­ge­setzt hätte.

Ali­bekov schuf einst einen neuen Anthrax-Stamm (»Stamm 836«), der als der »viru­len­teste und bös­ar­tigste Anthrax-Stamm« beschrieben wurde, »den der Mensch kennt.«[iii] Außerdem ent­wi­ckelte er Russ­lands erste Tularämie-Bombe.[iv]

1992 über­sie­delte der Bio­waffen-Experte in die USA, wurde ame­ri­ka­ni­scher Staats­bürger und betei­ligte sich aktiv an der Ent­wicklung einer Stra­tegie zur bio­lo­gi­schen Ver­tei­digung für die US-Regierung.

Ali­bekov arbeitete dann als Senior Vice Pre­sident für For­schung und Ent­wicklung bei Locus Fer­men­tation Solu­tions in Ohio, USA.[v]

Der Erreger der Tularämie gehört zu den krank­heits­er­re­gendsten Bak­terien, die bekannt sind. Experten des US-ame­ri­ka­ni­schen Centers for Disease Control and Pre­vention (CDC) Zentren für Krank­heits­kon­trolle und ‑prä­vention‘) ordnen ihn in die Kate­gorie der bio­lo­gi­schen Agenzien ein, die das »größte Potenzial für negative Aus­wir­kungen auf die öffent­liche Gesundheit mit Mas­sen­ver­lusten haben.«[vi]

In der Ver­gan­genheit wurde Tularämie von ver­schie­denen Groß­mächten aus­giebig erforscht, pro­du­ziert und als Bio­waffe ein­ge­lagert, wie etwa von den USA, der Sowjet­union und Japan.

Selbst Frank­reich zog deren Einsatz noch vor dem Zweiten Welt­krieg in Erwägung.[vii]

Doch zurück zur Ent­schei­dungs­schlacht des Zweiten Welt­kriegs in Stalingrad:

Bei einer Anhörung im Jahr 1998 verriet Ali­bekov: »Meine eigene Analyse eines Tularämie-Aus­bruchs unter deut­schen Truppen in Süd­russland im Jahr 1942 deutet darauf hin, dass dieser Vorfall sehr wahr­scheinlich das Ergebnis des Ein­satzes von bio­lo­gi­schen Waffen durch die UdSSR war.«[viii]

Diese Behauptung wie­der­holte der Bio­waffen-Experte auch noch danach, nämlich in seinem viel beach­teten Buch Bio­hazard sowie in der rus­si­schen Zeitung Prawda.[ix]

Auf­grund seines immensen Fach­wissens kam Ali­bekov ganz gezielt zu einer solchen weit­rei­chenden Schluss­fol­gerung. In seiner Kadet­tenzeit im Jahr 1973 wurde er von einem seiner Pro­fes­soren gebeten, einen »mys­te­riösen Aus­bruch von Tularämie« an der deutsch-sowje­ti­schen Front kurz vor der Schlacht von Sta­lingrad im Jahr 1942 zu überprüfen.

In der Folge wertete er die History of Soviet Military Medicine in the Great Patriotic War 1941–1945 sowie wis­sen­schaft­liche Zeit­schriften aus dieser Zeit aus. So kam er zu diesen äußerst bri­santen Erkennt­nissen.[x]

Erhard Geißler, Gene­tiker, Mole­ku­lar­biologe und Bio­ethiker und andere Experten äußerten einige Vor­be­halte zu den Ergeb­nissen von Ali­bekov, weil diese weder auf per­sön­lichen Erfah­rungen, noch durch Doku­mente der Roten Armee selbst schlüssig belegt sein würden.[xi]

Andere wie­derum erklärten, der Tularämie-Aus­bruch wäre keiner absicht­lichen Ver­breitung geschuldet, sondern »natür­lichen« Ursprungs; ver­ur­sacht durch einen völ­ligen Zusam­men­bruch der öffent­lichen Gesund­heits­in­fra­struktur.[xii]

Ali­bekov hin­gegen ver­breitete weiter, dass die Tularämie-Epi­demie, die Zehn­tau­sende von sowje­ti­schen und deut­schen Sol­daten an der Ost­front während des Zweiten Welt­kriegs befallen hätte, das Ergebnis einer »absicht­lichen Anwendung« gewesen sein könnte.[xiii] Ebenso blieb er dabei, dass sich ein mys­te­riöser Tularämie-Aus­bruch kurz vor der Schlacht um Sta­lingrad im Jahre 1942 ereignet hätte.[xiv]

Geißler schrieb dazu, dass der Aus­bruch jedoch kei­neswegs »mys­teriös« gewesen sei, gab es doch bereits seit 1926 zwi­schen dem Schwarzen und dem Kas­pi­schen Meer mehrere große Tularämie-Epi­demien.[xv] Dies war offenbar auch der Grund dafür, dass die Sowjets die Haupt­über­träger der Hasenpest, nämlich Mäuse und andere Nage­tiere, aus­zu­rotten ver­suchten.[xvi]

Dem­ge­genüber erklärte Ali­bekov, dass ein großer Tularämie-Aus­bruch im Gebiet der Wolga zuerst unter deut­schen Pan­zer­truppen im Spät­sommer 1942 auftrat. Innerhalb von sieben Tagen erkrankten Tau­sende Sol­daten – deutsche, wie auch rus­sische – sowie Zivi­listen.[xvii]

Dass es einen solchen gegeben haben muss, scheint unzwei­felhaft, denn selbst die sowje­tische Prawda berichtete darüber.

So schrieb die rus­sische Tages­zeitung gar von einem »Einsatz von infi­zierten Ratten gegen die Nazi-Armee«, die jedoch auch einen umge­kehrten Effekt hatte: Die Krankheit drang über die Front­linie und steckte viele eigene (sowje­tische) Sol­daten und Zivi­listen an. Dem­entspre­chend betraf die Epi­demie also nicht nur den Feind.[xviii]

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Zusätz­liche Quellen:

BACK­GROUND DOCUMENT (Geissler), 23rd Workshop of the Pugwash Study Group on the Imple­men­tation of the Che­mical and Bio­lo­gical Weapons Con­ven­tions: Achieving a Suc­cessful Outcome of the Sixth Review Con­fe­rence Geneva, Switz­erland, 3–4 December 2005: “Alibek, Tularaemia and the Battle of Sta­lingrad” (The CBW Con­ven­tions Bul­letin, No. 69+70 (2005), 10–15 (https://www.prof-dr-erhard-geissler.de/geschichte-der-biowaffen/alte-und-neue-desinformationen/tular%C3%A4mie-und-die-stalingrader-schlacht/9/Zugriff: 26.03.21///Richard Overy: Russ­lands Krieg, 2004, S. 286///Torsten Diedrich: Sta­lingrad 1942/43, Stuttgart 2018, S. 149/// Dr. phil. Utz Anhalt: „Bio­lo­gische Kriegs­führung“ in: heilpraxisnet.de v. 27.07. 2019 (https://www.heilpraxisnet.de/themen/biologische-kriegsfuehrung/)/Zugriff: 27.03.21///Todes­opfer der Schlacht um Sta­lingrad nach Kriegs­partei vom 23. August 1942 bis zum 02. Februar 1943” in: statista.com (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1093370/umfrage/todesopfer-der-schlacht-um-stalingrad-nach-kriegspartei/)/Zugriff: 26.03.21///”Tularämie: Hasenpest gefährdet auch Men­schen“ in: pharmazeutische-zeitung.de v. 24.06. 2002 (https://www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-26–2002/medizin3-26–2002/)/Zugriff: 26.03.21

[i] BACK­GROUND DOCUMENT (Geissler), 23rd Workshop of the Pugwash Study Group on the Imple­men­tation of the Che­mical and Bio­lo­gical Weapons Con­ven­tions: Achieving a Suc­cessful Outcome of the Sixth Review Con­fe­rence Geneva, Switz­erland, 3–4 December 2005: “Alibek, Tularaemia and the Battle of Sta­lingrad” (The CBW Con­ven­tions Bul­letin, No. 69+70 (2005), 10–15 (https://www.prof-dr-erhard-geissler.de/geschichte-der-biowaffen/alte-und-neue-desinformationen/tular%C3%A4mie-und-die-stalingrader-schlacht/9/Zugriff: 26.03.21

[ii] In der Folge werde ich seinen rus­sisch-kasa­chi­schen Namen verwenden.

[iii] »Selling the threat of bio­ter­rorism« in: Los Angeles Times v. 01.07. 2007 (https://www.latimes.com/archives/la-xpm-2007-jul-01-na-alibek1-story.html)/Zugriff: 26.03.21

[iv] Vgl. Annie Jacobsen: Das Gehirn des Pen­tagons: Eine unzen­sierte Geschichte von DARPA, Ame­rikas streng geheimer mili­tä­ri­scher For­schungs­agentur, New York 2015,  S. 293

[v] »Выпускники Назарбаев Университета работают в команде ученых в США и помогают лечиться детям-аутистам« in: newtimes.kz v. 12.03. 2019 (https://newtimes.kz/eksklyuziv/87248-vypuskniki-nazarbaev-universiteta-rabotayut-v-komande-uchenykh-v-ssha-i-pomogayut-lechitsya-detyam-autistam)/Zugriff: 26.03.21

[vi] Rotz, L.D., A.S. Khan, S.R. Lil­li­bridge et al. 2002, “Public health assessment of potential ter­rorism agents”, Emerging Infec­tious Diseases 8, No. 2, 225–230.)

[vii] Kliewe,H. 1941, “Vor­trags­notiz für den Herrn Chef des Stabes“. Geheim. National Archives College Park, Record Group 319, Box 1, Folder BW 2, 15–18.

[viii] Alibek, K. 1998, “Ter­rorist and intel­li­gence ope­ra­tions: potential impact on the U.S. economy”. Statement before the Joint Eco­nomic Com­mittee, U.S. Con­gress, 20 May. www/house.gov/jec/ hearings/intell/alibek.htm

[ix] »Soviet army used ‘rat weapon’ during WWII« [In Russian]. Pravda 2005, 5 February. http://english.pravda.ru/printed.html?news_id=14923. Quoted in The CBW Con­ven­tions Bul­letin No. 68 (June 2005), 21

[x] Alibek, K. with S. Han­delman 1999, Bio­hazard. Random House, New York, 29–30.

[xi] Oyston, P.C.F., A. Sjo­stedt and R.W. Titball 2004, “Tularaemia: bio­ter­rorism defence renews interest in Fran­cisella tula­rensis”, Nature Reviews/Microbiology 2, December, 967–978. http://www.nature.com

[xii] Croddy, E. and S. Krčalova 2001, “Tularemia, bio­lo­gical warfare, and the battle for Sta­lingrad”, Military Med. 166, No. 10, 837–838

[xiii] Dennis, T., T.V. Ing­lesby, D.A. Hen­derson et al. 2001, “Tularemia as a bio­lo­gical weapons. Medical and public health management”, J.Amer.Med.Assoc. 285, No. 21, 2763–2773


Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de