Diesmal ist die Dokumenta anders. Keine elitäre Schau von für den Normalmenschen vollkommen Unverständlichem und Abgehobenem. Man musste nicht eine Litanei von akademischem Bramabisieren über sich ergehen lassen um eine Ahnung davon zu bekommen, was der Künstler gemeint hat. Diesmal ist eine frische und selbstbewusste Graswurzel-Gruppe aus Indonesien der Kurator der 100 Tage währenden Ausstellung in Kassel. Und prompt fliegen die Fetzen: Polit-Aktivismus statt Kunst wird ihnen vorgeworfen und – Gottseibeiuns! — es soll Antisemitismus „im Raum“ stehen. Die Gruppe zeigt sich wenig beeindruckt.
Dabei war es gar nicht die Gruppe, sondern die Tatsache, dass die Gruppe eine palästinensische Künstlerin eingeladen hatte, einmal einen internationalen Aufruf unterzeichnet haben soll, der Boykott-Aktionen (BDS = Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel auffordert. Während unser deutscher Bundeskanzler und weitere deutsche Politiker durch die Welt tingeln und (vergeblich) alle möglichen Länder abklappern und sie zu Sanktionen gegen Russland bewegen wollen, regt man sich auf, dass eine indonesische Gruppe eine Künstlerin einlädt, die irgendwann einmal einen Aufruf zum Boykott Israels unterzeichnet hat.
Ruangrupa, die indonesische Kuratorengruppe, reagierte prompt und kündigte eine Diskussionsreihe mit Experten an, die „angesichts von zunehmendem Rassismus und Antisemitismus und zunehmender Islamophobie“ diskutieren sollte. Aber auch das fand nicht statt, weil der Zentralrat der Juden in Deutschland die Zusammensetzung der geladenen Diskutanten für die Gesprächsrunde kritisierte. Warum? Nunja, ein Blick bei Wikipedia darauf, was Indonesien ist, erhellt doch sehr:
„Indonesien (indonesisch Indonesia) ist ein Inselstaat in Südostasien. Mit seinen über 274 Millionen Einwohnern ist Indonesien der viertbevölkerungsreichste Staat der Welt sowie der weltgrößte Inselstaat. Indonesien ist außerdem das Land mit der weltweit größten Anzahl an Muslimen.“
Dass ein Künstlerkollektiv die Weltkunstausstellung kuratiert, ist ein Novum. Die zehn Künstler aus Jakarta der Gruppe „ruangrupa“ wurden von einer internationalen Findungskommission einstimmung dazu gewählt, die künstlerische Leitung der dokumenta 15 zu übernehmen. Die Bezeichnung „ruangrupa“ könnte man mit „Raum der Kunst“ übersetzen. Die Begründung der Kommission lautete wie folgt:
„Wir ernennen ruangrupa, weil sie nachweislich in der Lage sind, vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern. Ihr kuratorischer Ansatz fußt auf ein internationales Netzwerk von lokalen Community-basierten Kunstorganisationen. Wir sind gespannt, wie ruangrupa ein konkretes Projekt für und aus Kassel heraus entwickeln wird. In einer Zeit, in der innovative Kraft insbesondere von unabhängigen, gemeinschaftlich agierenden Organisationen ausgeht, erscheint es folgerichtig, diesem kollektiven Ansatz mit der documenta eine Plattform zu bieten.“
Ihren selbstgestellten Anspruch formuliert ruangrupa so:
„Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der documenta 15 hinaus wirksam bleibt. Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen. Wenn die documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzungen zu richten. Insbesondere solche, die ihren Ausgang im Kolonialismus, im Kapitalismus oder in patriarchalen Strukturen haben. Diesen möchten wir partnerschaftliche Modelle gegenüberstellen, die eine andere Sicht auf die Welt ermöglichen.“
Klingt akademisch und passt mit seinen Schlagwörtern eigentlich sehr gut in die Zeit: „Ressourcennutzung, Kolonialismus, im Kapitalismus, patriarchale Strukturen, interdisziplinär …“
Wenn da eben nur nicht diese palästinensische Künstlerin wäre, die unter einem Aufruf zum Boykott gegen Israel unterschrieben hätte – und das riesige Wandbild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Es zeigt unter anderem eine Figur mit wölfischen Eckzähnen, einer Kippa, den jüdischen Pajes (Schläfenlocken) und dazu eine SS-Mütze. Anscheinend nicht weit weg von einer widerlichen Stürmer-Karikatur.
„Die Opfer des Holocaust werden zu Tätern gemacht. Und ein Schwein mit Davidstern wird als Mossad bezeichnet“. (Anmerkung: Mossad ist der israelische Geheimdienst und weltweit gefürchtet).Dieser Hass, diese Hetze von Kassel zerstören einen schönen Traum: Dass die Kunstschau des Jahres eine Feier der Freiheit und der Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationen werden könnte. Sehr viele der mehr als 1500 Eingeladenen wollten und wollen genau das. Einige aber verbreiten lieber üble Ressentiments. Und andere verhindern ebendieses nicht: Weder das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa schritt ein noch die Geschäftsführerin oder jene Kulturfunktionäre, die das Werden der Ausstellung seit Monaten begleiten. Es ist ein einziges Scheitern.
Die Kuratorengruppe Ruangrupa steht jetzt im Feuer. Man überlegte dort, ob man die besagten Teile der Monumentalbildes verhängen sollte. Doch viele fordern, gleich das ganze Bild wieder abzumontieren. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spielte seine Rolle. Er sei zur Eröffnung der Weltkunstausstellung nur sehr zögerlich erschienen, ließ er medienwirksam wissen, wegen der Antisemitismusvorwürfe „rund um die documenta und das „Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa“. Er erschien aber doch und zeigte in seiner Rede die Grenzen der Kunstfreiheit auf, wie die HNA schrieb. Herr Steinmeier sagte: „Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“
Für indonesische Bürger, die nicht allzu bewandert sind in den Tabus dessen, was hierzulande erlaubt ist zu denken und zu sagen, kann es schon einmal schwer einzuordnen sein, warum es in Deutschland einem Herrn Böhmermann als Freiheit der Kunst der Satire erlaubt ist, den Staatspräsidenten der Türkei als Ziegenf***r bösartig zu verleumden, ja, der deutsche Bundeskanzler Dr. Angela Merkel den Verleumder noch vor juristischen Folgen beschützt … jede Kritik an Muslimen ansonsten aber verdammenswerte Islamophobie ist. Dass eine bösartige, antisemitische Karikatur jüdischer Menschen indiskutabel ist und auf einer Weltkunstausstellung nichts verloren hat – richtig. Dass hier der deutsche Bundespräsident öffentlich eine strenge Zurechtweisung an die indonesischen Kuratoren erteilt und ihnen auch gleich unterstellt, die Existenz des Staates Israel in Frage zu stellen — das lässt sich draus nicht wirklich ableiten.
Ruangrupa hatte stets betont, dass sie jede Form von Antisemitismus ablehnen. „Im Rahmen der Documenta fifteen wurden zu keinem Zeitpunkt antisemitische Äußerungen gemacht“, betonen das indonesischen Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa: „Wir treten diesen Anschuldigungen entschieden entgegen und kritisieren den Versuch, Künstlerinnen und Künstler zu delegitimieren und sie auf Basis ihrer Herkunft und ihren vermuteten politischen Einstellungen präventiv zu zensieren“, erklärte die Gruppe.
„Niemand weiß genau, wie Ruangrupa zum BDS und zu Israel stehen. Es gibt keine jüdisch-israelischen Künstler bei dieser Documenta. Ist das Ausdruck eines Boykotts oder Zufall?“ wundert sich der linke Tagesspiegel.
Ein positiver Beitrag von Kia Vahland in der Süddeutschen zur Documenta 15 bringt es freundlich auf den Punkt:
„Lösungsideen, gar Utopien benötigen Austausch — mentale Abkapselung schadet da nur. Das kann gerade in Deutschland wohltuend sein, dem Land, das sich besonders gerne mit sich selbst beschäftigt und noch in Talkshows Ukrainern erklärt, wie es ist, bombardiert zu werden (weil man das selbst im Zweiten Weltkrieg auch wurde, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen). Denn die ewige Nabelschau, der stete Blick auf die eigenen Befindlichkeiten und Annahmen, das ist ja nichts Angenehmes; in der mentalen Abkapselung von der Welt gedeihen Ängste vor all dem, was kommen könnte.“
Das zeigt sich, wie Kia Vahland beschreibt, auch in den Exponaten:
„Das indonesische Kuratorenteam Ruangrupa bemüht sich gar nicht erst, westliche Erwartungen an Kunst zu erfüllen. Kaum etwas ist hier grandios gemeint, bis ins Letzte durchkomponiert, von bleibendem materiellem Wert. Wenn überhaupt eine europäische Kunstrichtung Pate stand, ist es die Arte Povera, die Kunst der ärmlichen Dinge: Sperrholz, Wellblechpappe, handschriftliche Notizen etwa sind zu sehen. Die eigentlichen Komponenten dieser Kunst aber sind Teamgeist, gute Laune, Gerechtigkeitssinn, Respekt vor der Natur und die Bereitschaft, ins Offene zu gehen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Dabei wird auch westliche wokeness nicht bedient, das Ideal einer moralischen Makellosigkeit ausgerechnet in den Industriestaaten. Denn die Kulturkämpfe des globalen Nordens sind offenbar gar nicht von Belang für die Gruppen, die in diesen Werken auftreten: singende Bergbewohnerinnen Syriens, zusammenhaltende Minenarbeiter Kongos oder in alten Mythen heimische Roma.“
Ich persönlich empfand die documenta bisher als ein unzugängliches, sprödes und elitäres Projekt. Kunst, die aus dem Anspruch lebt, nur von Eingeweihten verstanden zu werden. Das, was Kia Vahland beschreibt, könnte doch ein Grund sein, dorthin zu fahren und das mit zu erleben.