Das Friderizianum, Documenta 15, Kassel. Bild: Wikimedia Commons, dontworry, CC BY-SA 3.0

Doku­menta 15 in Kassel – Stein­meier belehrt und ermahnt die indo­ne­sische Kuratorengruppe

Diesmal ist die Doku­menta anders. Keine elitäre Schau von für den Nor­mal­men­schen voll­kommen Unver­ständ­lichem und Abge­ho­benem. Man musste nicht eine Litanei von aka­de­mi­schem Bra­ma­bi­sieren über sich ergehen lassen um eine Ahnung davon zu bekommen, was der Künstler gemeint hat. Diesmal ist eine frische und selbst­be­wusste Gras­wurzel-Gruppe aus Indo­nesien der Kurator der 100 Tage wäh­renden Aus­stellung in Kassel. Und prompt fliegen die Fetzen: Polit-Akti­vismus statt Kunst wird ihnen vor­ge­worfen und – Gott­sei­beiuns! —  es soll Anti­se­mi­tismus „im Raum“ stehen. Die Gruppe zeigt sich wenig beeindruckt.

Dabei war es gar nicht die Gruppe, sondern die Tat­sache, dass die Gruppe eine paläs­ti­nen­sische Künst­lerin ein­ge­laden hatte, einmal einen inter­na­tio­nalen Aufruf unter­zeichnet haben soll, der  Boykott-Aktionen (BDS = Boycott, Dive­stment and Sanc­tions) gegen Israel auf­fordert. Während unser deut­scher Bun­des­kanzler und weitere deutsche Poli­tiker durch die Welt tingeln und (ver­geblich) alle mög­lichen Länder abklappern und sie zu Sank­tionen gegen Russland bewegen wollen, regt man sich auf, dass eine indo­ne­sische Gruppe eine Künst­lerin einlädt, die irgendwann einmal einen Aufruf zum Boykott Israels unter­zeichnet hat.

Ruan­grupa, die indo­ne­sische Kura­to­ren­gruppe, reagierte prompt und kün­digte eine Dis­kus­si­ons­reihe mit Experten an, die „ange­sichts von zuneh­mendem Ras­sismus und Anti­se­mi­tismus und zuneh­mender Isla­mo­phobie“ dis­ku­tieren sollte. Aber auch das fand nicht statt, weil der Zen­tralrat der Juden in Deutschland die Zusam­men­setzung der gela­denen Dis­ku­tanten für die Gesprächs­runde kri­ti­sierte. Warum? Nunja, ein Blick bei Wiki­pedia darauf, was Indo­nesien ist, erhellt doch sehr:

„Indo­nesien (indo­ne­sisch Indo­nesia) ist ein Insel­staat in Süd­ost­asien. Mit seinen über 274 Mil­lionen Ein­wohnern ist Indo­nesien der viert­be­völ­ke­rungs­reichste Staat der Welt sowie der welt­größte Insel­staat. Indo­nesien ist außerdem das Land mit der weltweit größten Anzahl an Muslimen.“

Dass ein Künst­ler­kol­lektiv die Welt­kunst­aus­stellung kura­tiert, ist ein Novum. Die zehn Künstler aus Jakarta der Gruppe „ruan­grupa“ wurden von einer inter­na­tio­nalen Fin­dungs­kom­mission ein­stimmung dazu gewählt, die künst­le­rische Leitung der doku­menta 15 zu über­nehmen. Die Bezeichnung „ruan­grupa“ könnte man mit „Raum der Kunst“ über­setzen. Die Begründung der Kom­mission lautete wie folgt:

„Wir ernennen ruan­grupa, weil sie nach­weislich in der Lage sind, viel­fältige Ziel­gruppen – auch solche, die über ein reines Kunst­pu­blikum hin­aus­gehen – anzu­sprechen und lokales Enga­gement und Betei­ligung her­aus­zu­fordern. Ihr kura­to­ri­scher Ansatz fußt auf ein inter­na­tio­nales Netzwerk von lokalen Community-basierten Kunst­or­ga­ni­sa­tionen. Wir sind gespannt, wie ruan­grupa ein kon­kretes Projekt für und aus Kassel heraus ent­wi­ckeln wird. In einer Zeit, in der inno­vative Kraft ins­be­sondere von unab­hän­gigen, gemein­schaftlich agie­renden Orga­ni­sa­tionen ausgeht, erscheint es fol­ge­richtig, diesem kol­lek­tiven Ansatz mit der docu­menta eine Plattform zu bieten.“

Ihren selbst­ge­stellten Anspruch for­mu­liert ruan­grupa so:

„Wir wollen eine global aus­ge­richtete, koope­rative und inter­dis­zi­plinäre Kunst- und Kul­tur­plattform schaffen, die über die 100 Tage der docu­menta 15 hinaus wirksam bleibt. Unser kura­to­ri­scher Ansatz zielt auf ein anders gear­tetes, gemein­schaftlich aus­ge­rich­tetes Modell der Res­sour­cen­nutzung – öko­no­misch, aber auch im Hin­blick auf Ideen, Wissen, Pro­gramme und Inno­va­tionen. Wenn die docu­menta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht ver­suchen, mit der docu­menta 15 das Augenmerk auf heutige Ver­let­zungen zu richten. Ins­be­sondere solche, die ihren Ausgang im Kolo­nia­lismus, im Kapi­ta­lismus oder in patri­ar­chalen Struk­turen haben. Diesen möchten wir part­ner­schaft­liche Modelle gegen­über­stellen, die eine andere Sicht auf die Welt ermög­lichen.“ 

Klingt aka­de­misch und passt mit seinen Schlag­wörtern eigentlich sehr gut in die Zeit: „Res­sour­cen­nutzung, Kolo­nia­lismus, im Kapi­ta­lismus, patri­ar­chale Struk­turen, interdisziplinär …“

Wenn da eben nur nicht diese paläs­ti­nen­sische Künst­lerin wäre, die unter einem Aufruf zum Boykott gegen Israel unter­schrieben hätte – und das riesige Wandbild des indo­ne­si­schen Künst­ler­kol­lektivs Taring Padi auf dem Kas­seler Fried­richs­platz. Es zeigt unter anderem eine Figur mit wöl­fi­schen Eck­zähnen, einer Kippa, den jüdi­schen Pajes (Schlä­fen­locken) und dazu eine SS-Mütze. Anscheinend nicht weit weg von einer wider­lichen Stürmer-Karikatur.

Die Süd­deutsche schreibt:

„Die Opfer des Holo­caust werden zu Tätern gemacht. Und ein Schwein mit David­stern wird als Mossad bezeichnet“. (Anmerkung: Mossad ist der israe­lische Geheim­dienst und weltweit gefürchtet).Dieser Hass, diese Hetze von Kassel zer­stören einen schönen Traum: Dass die Kunst­schau des Jahres eine Feier der Freiheit und der Ver­stän­digung zwi­schen Men­schen unter­schied­licher Nationen werden könnte. Sehr viele der mehr als 1500 Ein­ge­la­denen wollten und wollen genau das. Einige aber ver­breiten lieber üble Res­sen­ti­ments. Und andere ver­hindern eben­dieses nicht: Weder das indo­ne­sische Kura­to­ren­kol­lektiv Ruan­grupa schritt ein noch die Geschäfts­füh­rerin oder jene Kul­tur­funk­tionäre, die das Werden der Aus­stellung seit Monaten begleiten. Es ist ein ein­ziges Scheitern.

Die Kura­to­ren­gruppe Ruan­grupa steht jetzt im Feuer. Man über­legte dort, ob man die besagten Teile der Monu­men­tal­bildes ver­hängen sollte. Doch viele fordern, gleich das ganze Bild wieder abzu­mon­tieren. Auch Bun­des­prä­sident Frank-Walter Stein­meier spielte seine Rolle. Er sei zur Eröffnung der Welt­kunst­aus­stellung nur sehr zögerlich erschienen, ließ er medi­en­wirksam wissen,  wegen der Anti­se­mi­tis­mus­vor­würfe „rund um die docu­menta und das „Kura­toren-Kol­lektiv Ruan­grupa“. Er erschien aber doch und zeigte in seiner Rede die Grenzen der Kunst­freiheit auf, wie die HNA schrieb. Herr Stein­meier sagte: „Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infra­ge­stellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“

Für indo­ne­sische Bürger, die nicht allzu bewandert sind in den Tabus dessen, was hier­zu­lande erlaubt ist zu denken und zu sagen, kann es schon einmal schwer ein­zu­ordnen sein, warum es in Deutschland einem Herrn Böh­mermann als Freiheit der Kunst der Satire erlaubt ist, den Staats­prä­si­denten der Türkei als Ziegenf***r bös­artig zu ver­leumden, ja, der deutsche Bun­des­kanzler Dr. Angela Merkel den Ver­leumder noch vor juris­ti­schen Folgen beschützt …  jede Kritik an Mus­limen ansonsten aber ver­dam­mens­werte Isla­mo­phobie ist. Dass eine bös­artige, anti­se­mi­tische Kari­katur jüdi­scher Men­schen indis­ku­tabel ist und auf einer Welt­kunst­aus­stellung nichts ver­loren hat – richtig. Dass hier der deutsche Bun­des­prä­sident öffentlich eine strenge Zurecht­weisung an die indo­ne­si­schen Kura­toren erteilt und ihnen auch gleich unter­stellt, die Existenz des Staates Israel in Frage zu stellen — das lässt sich draus nicht wirklich ableiten.

Ruan­grupa hatte stets betont, dass sie jede Form von Anti­se­mi­tismus ablehnen. „Im Rahmen der Docu­menta fifteen wurden zu keinem Zeit­punkt anti­se­mi­tische Äuße­rungen gemacht“, betonen das indo­ne­si­schen Kura­toren-Kol­lektiv Ruan­grupa: „Wir treten diesen Anschul­di­gungen ent­schieden ent­gegen und kri­ti­sieren den Versuch, Künst­le­rinnen und Künstler zu dele­gi­ti­mieren und sie auf Basis ihrer Her­kunft und ihren ver­mu­teten poli­ti­schen Ein­stel­lungen prä­ventiv zu zen­sieren“, erklärte die Gruppe.

„Niemand weiß genau, wie Ruan­grupa zum BDS und zu Israel stehen. Es gibt keine jüdisch-israe­li­schen Künstler bei dieser Docu­menta. Ist das Aus­druck eines Boy­kotts oder Zufall?“ wundert sich der linke Tages­spiegel.

Ein posi­tiver Beitrag von Kia Vahland in der Süd­deut­schen zur Docu­menta 15 bringt es freundlich auf den Punkt:

„Lösungs­ideen, gar Utopien benö­tigen Aus­tausch — mentale Abkap­selung schadet da nur. Das kann gerade in Deutschland wohl­tuend sein, dem Land, das sich besonders gerne mit sich selbst beschäftigt und noch in Talk­shows Ukrainern erklärt, wie es ist, bom­bar­diert zu werden (weil man das selbst im Zweiten Welt­krieg auch wurde, wenn auch unter ganz anderen Vor­zeichen). Denn die ewige Nabel­schau, der stete Blick auf die eigenen Befind­lich­keiten und Annahmen, das ist ja nichts Ange­nehmes; in der men­talen Abkap­selung von der Welt gedeihen Ängste vor all dem, was kommen könnte.“ 

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Das zeigt sich, wie Kia Vahland beschreibt, auch in den Exponaten:

„Das indo­ne­sische Kura­to­renteam Ruan­grupa bemüht sich gar nicht erst, west­liche Erwar­tungen an Kunst zu erfüllen. Kaum etwas ist hier grandios gemeint, bis ins Letzte durch­kom­po­niert, von blei­bendem mate­ri­ellem Wert. Wenn über­haupt eine euro­päische Kunst­richtung Pate stand, ist es die Arte Povera, die Kunst der ärm­lichen Dinge: Sperrholz, Well­blech­pappe, hand­schrift­liche Notizen etwa sind zu sehen. Die eigent­lichen Kom­po­nenten dieser Kunst aber sind Team­geist, gute Laune, Gerech­tig­keitssinn, Respekt vor der Natur und die Bereit­schaft, ins Offene zu gehen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Dabei wird auch west­liche wokeness nicht bedient, das Ideal einer mora­li­schen Makel­lo­sigkeit aus­ge­rechnet in den Indus­trie­staaten. Denn die Kul­tur­kämpfe des glo­balen Nordens sind offenbar gar nicht von Belang für die Gruppen, die in diesen Werken auf­treten: sin­gende Berg­be­woh­ne­rinnen Syriens, zusam­men­hal­tende Minen­ar­beiter Kongos oder in alten Mythen hei­mische Roma.“

Ich per­sönlich empfand die docu­menta bisher als ein unzu­gäng­liches, sprödes und eli­täres Projekt. Kunst, die aus dem Anspruch lebt, nur von Ein­ge­weihten ver­standen zu werden. Das, was Kia Vahland beschreibt, könnte doch ein Grund sein, dorthin zu fahren und das mit zu erleben.