Minimal-Demo­kratie: „Eliten“ als Sach­walter der Demokratie?

Im ersten Teil der Serie wurde gezeigt, dass der „Populismus“-Begriff sowohl gemäß seiner ety­mo­lo­gi­schen Her­kunft als auch gemäß seiner his­to­ri­schen Ver­wendung auf die Bevöl­kerung bzw. die Bürger als letzt­lichen Sou­verän in der poli­ti­schen Ver­fasstheit einer Gesell­schaft ver­weist bzw. auf die For­derung nach mehr Demo­kratie. Er bezeichnet insofern nichts anderes als die ideelle Grundlage der Demo­kratie, nämlich die Herr­schaft der Bevöl­kerung oder Bürger bzw. „popular sove­reignty“, wie Sartori (1978: 59 ) schreibt. (Sartori gesellt der Herr­schaft der Bürger Gleichheit und Auto­nomie als ideelle Grund­lagen der Demo­kratie hinzu; s. Sartori 1978: 59.)

Im zweiten Teil wurde betrachtet, wie manche Autoren „Popu­lismus“ als eine Gefahr für Demo­kratie kon­stru­ieren, und diese Kon­struk­tionen wurden als unplau­sibel und empi­risch unbe­gründet iden­ti­fi­ziert. Dabei ist erkennbar geworden sein, dass der Kon­struktion von „Popu­lismus“ als einer Gefahr für die Demo­kratie ein Miss­trauen gegenüber oder gar eine Ver­achtung der Bürger zugrun­de­liegt bzw. – umge­kehrt for­mu­liert – ein Eli­tismus, dem gemäß eine Elite als Sach­walter der Demo­kratie fun­gieren soll oder gar muss.

Der Eli­tismus, der der Rede von Popu­lismus als einer Gefahr für Demo­kratie zugrun­de­liegt, beschäftigt uns in diesem dritten Teil der Serie (und wird uns weiter in Teil 4 der Serie beschäftigen).

Betrachten wir zunächst den Begriff „Elite“ als solchen.

„Elite“ in der sta­tis­ti­schen Nor­mal­ver­teilung: Quan­ti­tativ und qua­li­tativ problematisch

Das all­ge­meine (Vor-/)Verständnis von „Elite“ dürfte etwa das fol­gende sein: „Elite“ bezeichnet eine Gruppe von Men­schen, von denen ange­nommen wird, dass sie anderen Men­schen (über­haupt oder in bestimmten Hin­sichten) über­legen sind. Worin genau eine Elite anderen Men­schen über­legen sein soll, ist variabel; es kann sich im Prinzip um jedes erdenk­liche Merkmal handeln, so z.B. um Bildung, um Fleiß, um bio­lo­gische Abstammung, um Reichtum, um Schönheit.

Formal ent­spricht eine Elite dann dem rechten Rand einer Nor­mal­ver­teilung; sie umfasst die Besten im Hin­blick auf ein bestimmtes Merkmal oder auf einem bestimmten Gebiet.

Mit dem Verweis auf die Nor­mal­ver­teilung ist ein erstes grund­le­gendes Problem ange­sprochen, nämlich das der Bestimmung der Spann­weite bzw. Breite des rechten Randes in einer Nor­mal­ver­teilung, in die Per­sonen fallen sollen, die als „Elite“ defi­niert werden sollen. Theo­re­tisch kann der rechte Rand einer Nor­mal­ver­teilung rechts vom Mit­tel­punkt der Ver­teilung beginnen; eine Position knapp rechts vom Mit­tel­punkt einer Ver­teilung dürfte aber nicht das sein, was wir mit dem Begriff „Elite“ ver­binden. Man kann aber auch „Elite“ im strengen Sinn ver­stehen, was bedeutet, dass „Elite“ immer nur ein ein­zelner sein kann, nämlich der Beste im Hin­blick auf eine Sache; es gibt nur einen Eliud Kip­choge, der derzeit (genau: seit dem 25. Sep­tember 2022) den Welt­rekord im Marathon der Männer (mit zwei Stunden, einer Minute und neun Sekunden) hält. Er ist dies­be­züglich zwei­fellos „Elite“, nämlich der Beste; alle anderen sind weniger gut, also nicht „die Besten“, sondern die Zweit‑, Dritt‑, Viert- etc. ‑besten. Sie sind „Elite“ relativ zu den­je­nigen, die länger brauchen, um einen Marathon-Lauf zu Ende zu bringen, aber keine „Elite“ relativ zu Eliud Kipchoge.

Tat­sächlich ist deshalb schon der Aus­druck „die Besten“ – im Plural – unlo­gisch; es wäre zwar vor­stellbar, dass vier Leute außer Kip­choge den Marathon in genau zwei Stunden, einer Minute und neun Sekunden absol­viert haben – dann wäre es sinnvoll von den fünf Besten, die zusammen die Elite bilden, zu sprechen –, aber man könnte argu­men­tieren, dass die fünf nicht tat­sächlich genau die­selbe Zeit gebraucht haben, dass das Messen in Sekunden nicht hin­rei­chend genau ist und eben doch einer der Schnellste, eben der Beste in dieser Hin­sicht, ist.

Immerhin kann man im obigen Bei­spiel mit dem Begriff „Elite“ etwas eini­ger­maßen klar Mess­bares ver­binden. Wie verhält es sich aber z.B. mit der Rede von der finan­zi­ellen Elite?

Kann man finan­zi­ellen Reichtum direkt messen?
Nein. Auch „Reichtum“ ist ein Kon­strukt, das eine Ope­ra­tio­na­li­sierung erfordert, um es in der Rea­lität beob­achtbar zu machen. Gehört z.B. jemand, dessen Jah­res­ein­kommen ein Achtel über dem durch­schnitt­lichen Jah­res­ein­kommen in der Bevöl­kerung liegt, zur finan­zi­ellen Elite des Landes? Oder muss jemand Mil­li­ardär sein, um zur finan­zi­ellen Elite gezählt werden zu können? Oder gehört zur finan­zi­ellen Elite, wer min­destens eine Yacht in einem Hafen im Mit­telmeer liegen hat, die er sein Eigentum nennen kann? Oder gehört zur finan­zi­ellen Elite, wer den größt­mög­lichen Schul­denberg ange­häuft hat, weil er ja, um dies tun zu können, als zuver­lässig zah­lungs­fähig gelten muss?

Aber das Problem ist nicht nur, dass man bestimmen muss, ab welchem Punkt genau in der Nor­mal­ver­teilung eine Person der Elite zuge­schlagen werden soll. Das Problem ist nicht nur ein quan­ti­ta­tives, sondern auch ein qua­li­ta­tives: Genügt ein Abitur, um zur Bil­dungs­elite zu gehören? Oder muss eine Person an einer Uni­ver­sität habi­li­tiert sein, um zur Bil­dungs­elite zu gehören? Oder gehört zur Bil­dungs­elite, wer in einem Rate­spiel alle Fragen, die ihm zu seinem Spe­zi­al­gebiet gestellt werden, korrekt beant­worten kann? Oder ist es jemand, der in einem Rate­spiel allen Frage zu allen mög­lichen Gebieten korrekt beant­worten kann?

„Elite“ gibt es also nicht einfach, ist nicht direkt fest­stell- oder benennbar, sondern muss aus einer vorher fest­zu­le­genden Menge von Men­schen aus­ge­wählt werden. Aber diesem Aus­wahl­prozess geht schon ein anderer Aus­wahl­prozess voraus, denn es muss ein Kri­terium aus­ge­wählt werden, nach dem jemand prin­zi­piell Anwär­ter­status auf Eliten-Mit­glied­schaft haben kann.

Das latei­nische Wort „eligere“, von dem sowohl das Wort „Elite“ als auch das eng­lische Wort „election“ für „Wahl“ abge­leitet ist, bedeutet „aus­wählen“, womit schon das Wort „Elite“ selbst nicht auf Gege­benes, sondern auf durch einen Aus­wahl­prozess zu Schaf­fendes, ver­weist; „Elite“ bedeutet ety­mo­lo­gisch betrachtet nicht so etwas wie „über­legene Per­sonen“ oder “die Besten”, sondern „(von anderen Per­sonen) aus­ge­wählte Per­sonen“. (Wenn im Fol­genden “Elite” ohne Anfüh­rungs­zeichen steht, erfolgt das der Ein­fachheit halber; dass es sich um ein Kon­strukt ohne reale Existenz handelt, sollte klar sein.)

Wenn die Mehrheit der Men­schen ein Kri­terium nicht aner­kennt oder seine Taug­lichkeit zunehmend in Zweifel zieht, oder wenn sie nicht erkennen kann, dass jemand, der zur Elite zählen will oder soll, diesem Kri­terium genügt, ist die Existenz einer Elite nicht mehr als die Eigen­zu­schreibung einer ihre Dünkel pfle­genden Clique. Sozio­lo­gisch betrachtet kommt daher ein (impli­ziter) Mehr­heits­ent­scheid immer vor der „Elite“. Eine Elite exis­tiert nur so lange, wie die Mehrheit der Men­schen sie als solche aner­kennt bzw. sich nicht an ihr stört, die Elite also nicht (zu) über­griffig wird.

Was bedeutet das für die Frage nach poli­ti­schen Eliten bzw. Eliten als Sach­walter der Demo­kratie? Es bedeutet u.a., aber vor allem, dass wir erstens über klare – und geteilte, mög­lichst von allen aner­kannte! – Kri­terien ver­fügen müssten, die angeben, welche Merkmale genau jemanden zum Sach­walter der Demo­kratie qua­li­fi­zieren, und zweitens über effi­ziente Aus­wahl­pro­zesse ver­fügen müssten, um Per­sonen mit diesen Eigen­schaften aus­zu­wählen und in Regie­rungs­ver­ant­wortung zu bringen.

Beides ist – zumindest derzeit – nicht der Fall (was nicht bedeutet, dass eine solche Situation prin­zi­piell nicht her­stellbar wäre).

Gemäß des oben Argu­men­tierten könnte man auch fragen, ob nicht bereits das Ziel, die Besten – im Plural – als Sach­walter der Demo­kratie ein­zu­setzen, ein logi­sches Unding ist, oder warum man nicht den Besten – im Sin­gular – als Herr­scher ein­setzen sollte. Wenn der Beste der Beste ist, dann würden seine Ent­schei­dungen logisch betrachtet durch den Zweit‑, Dritt‑, Viert- etc. ‑Besten ohnehin nur ver­schlechtert werden können. Auch prak­tische Gründe würden dafür sprechen, es bei dem Beste sein Bewendung haben zu lassen, u.a. deshalb, weil das für den Steu­er­zahler die deutlich güns­tigere Alter­native wäre gegenüber der Aus­haltung eines brei­teren rechten Randes von Leuten, die alle irgendwie noch zur Elite zählen sollen/wollen. Warum also nicht den Besten oder genauer: den von der Mehrheit der Bevöl­kerung für den Besten Gehal­tenen in der Gesell­schaft zum (Allein-/)Herrscher erklären, also sozu­sagen den Som­mer­könig wählen?!

Weil damit Demo­kratie als solche ad absurdum geführt wäre. Wenn eine Bevöl­kerung abge­sehen von der Wahl des Herr­schers kei­nerlei Mit­sprache hätte und sie keine Mittel hätte, den Herr­scher (bis zur nächsten Wahl, die der Herr­scher im übrigen aus­setzen könnte,) zur Respon­si­vität zu zwingen, könnte man schwerlich davon sprechen, dass die Bevöl­kerung der Sou­ve­ränsei, denn es gäbe – außer, wenn es dem Herr­scher gefallen sollte, seine Unter­tanen über irgend­etwas zu befragen, – kei­nerlei Ein­fluss der Bürger auf die For­mu­lierung und die Art der Durch­setzung des poli­ti­schen Willens.

Aus den genannten Gründen ist die Dis­kussion über Eliten als Sach­walter der Demo­kratie für mich per­sönlich an diesem Punkt beendet: Erstens haben wir derzeit keine klaren Kri­terien, die angeben, welche Vor­aus­set­zungen genau jemand erfüllen muss, um sich prin­zi­piell zum Sach­walter der Demo­kratie zu qua­li­fi­zieren, zweitens ver­fügen wir derzeit über keine effi­zi­enten Aus­wahl­pro­zesse, um Per­sonen mit diesen Eigen­schaften aus­zu­wählen und in Regie­rungs­ver­ant­wortung zu bringen. Drittens ist Demo­kratie von der Existenz oder Nicht-Existenz einer Elite – defi­niert als Per­so­nen­gruppe mit beson­deren Fähig­keiten oder zumindest einer beson­deren Fähigkeit – unab­hängig insofern Demo­kratie ohne sys­te­ma­ti­schen, insti­tu­tionell garan­tierten bzw. ein­klag­baren Ein­fluss der Bürger (sei es durch Peti­tionen, durch Demons­tra­tionen, Bür­gerräte, direkte Wahl von Abge­ord­neten statt Par­tei­listen u.ä.m. bis hin zu Volks­ab­stim­mungen in wich­tigen Fragen, die alle Bürger betreffen,) und ohne Respon­si­vität der­je­nigen in poli­ti­scher Ver­ant­wortung gegenüber ihrem Sou­verän, nämlich der Bevöl­kerung, keine Demo­kratie ist. Bzw. trägt sie die Bezeichnung, „Demo­kratie“ dann zu Unrecht:

“The plain fact is that the ‘ideals’ of demo­cracy – popular sove­reignty, equality and self-government – have remained very much what they were in the fourth century BC. And if the ideals of demo­cracy are still, in the main, its Greek ideals, this means that they refer to a direct, not a repre­sen­tative demo­cracy” (Bachrach 1967: 59–60),

d.h.

Die einfach Tat­sache ist die, dass die ‘Ideale’ der Demo­kratie – Sou­ve­rä­nität der Bevöl­kerung, Gleichheit und Selbst­ver­waltung – im Wesent­lichen das geblieben sind, was sie im vierten Jahr­hundert vor Christus waren. Und wenn die Ideale der Demo­kratie im Wesent­lichen immer noch ihre [alt-]griechischen Ideale sind, bedeutet dies, dass sie sich auf eine direkte und nicht auf eine reprä­sen­tative Demo­kratie beziehen” (Bachrach 1967: 59–60).

Dennoch erfreut sich die Vor­stellung, dass eine Demo­kratie eine Eli­ten­de­mo­kratie sein könne, sein solle oder sogar sein müsse, dass man Demo­kratie jeden­falls nicht unein­ge­schränkt dem ver­meint­lichen Sou­verän in der Demo­kratie, nämlich den Bürgern, über­lassen könne, nach wie vor – oder viel­leicht tref­fender: wieder – einiger Beliebtheit.

Bedau­er­li­cher­weise haben deutsch­spra­chige Autoren – weit über die Grenzen Deutsch­lands hinaus – dabei eine sehr unglück­liche Rolle gespielt, allen voran Jürgen Habermas und Joseph Schumpeter.

Habermas‘ „deli­be­rative Demo­kratie“: Die schwät­zende Klasse als Machtelite

Jürgen Habermas hat der Vor­stellung von Demo­kratie, die die meisten Bürger nach wie vor haben dürften, nämlich der Vor­stellung von Demo­kratie nach klas­si­schem Vorbild, bei der die Bürger durch Gremien und vor allem durch ihre Wahl­stimme ihren Inter­essen, Bedürf­nissen und Wün­schen Aus­druck ver­leihen – in der Lite­ratur auch „Aggre­gat­de­mo­kratie“ genannt – eine Absage erteilt und an ihre Stelle die Vor­stellung von Demo­kratie als „deli­be­ra­tiver Demo­kratie“ gesetzt. In der Zusam­men­fassung durch Albrecht (2010: 36–37; 38) wird dies so beschrieben:

„Die Theorie der deli­be­ra­tiven Demo­kratie ist … als Gegen­modell zum libe­ralen und repu­bli­ka­ni­schen Modell der Demo­kratie zu sehen. Dem libe­ralen Ver­ständnis stellt sich die Gesell­schaft als eine Aggre­gation von indi­vi­du­ellen Akteuren dar, die ihre Inter­essen ver­folgen, … Der Staat tritt der Gesell­schaft in dieser Per­spektive ent­gegen als etwas Äußeres, er muss sich für alle Ein­griffe in die Gesell­schaft recht­fer­tigen und kann dies nur insoweit[…] als er dafür die Zustimmung der Bürger erhält.

Im repu­bli­ka­ni­schen Modell ist die Kon­sti­tution des Poli­ti­schen dagegen eine unmit­telbare Leistung der Gesell­schaft, der Staat ist nur Aus­druck des all­ge­meinen Willens [gemeint dürfte sein: des Mehr­heits­willens] des Volkes und geht in diesem auf. Auch in diesem Modell ist der Staat insofern eng an die gesell­schaft­liche Sphäre gekoppelt[…] als er nur legitime Macht bean­spruchen kann, wenn er sich als Aus­druck des all­ge­meinen Willens [s.o.] offenbart [?!] und diesem in seinen Ent­schei­dungen zur Durch­setzung verhilft … […]

Quelle: Bun­des­archiv Eine Form der deli­be­ra­tiven Demo­kratie: Call and Response

[D]ie deli­be­rative Theorie [stellt] den Staat als poli­ti­sches System vor, das in seinem Kern einer eigenen Logik folgt und relativ autonom von der Gesell­schaft ist, was sich etwa im Modus der Ent­scheidung zeigt, die im poli­ti­schen System getroffen wird, aber weit darüber hinaus Geltung erlangt. Zugleich ist der Staat, sind poli­tische Ent­schei­dungen aber inhaltlich bzw. pro­gram­ma­tisch insofern an die Gesell­schaft rück­ge­bunden[…] als sie nur die Insti­tu­tio­na­li­sierung von Formen der poli­ti­schen Mei­nungs- und Wil­lens­bildung dar­stellen, die grund­legend in der Gesell­schaft ver­ankert sind [wie z.B. Gewerk­schaften, Par­teien u.ä.] … Die Rolle des Staates ist die Umwandlung der kom­mu­ni­kativ erzeugten Macht der Öffent­lichkeit in admi­nis­trative Macht“.

Albrecht zieht es auf diese Dar­stellung hin vor, „… an dieser Stelle …“ „[d]ie Impli­ka­tionen des deli­be­ra­tiven Modells im Ein­zelnen … nicht weiter [zu] verfolg[en] …“ (Albrecht 2010: 39). Das ist aber auch nicht not­wendig, denn es dürfte nicht schwierig sein, zu erkennen, was diese „Impli­ka­tionen“ sind: Es sind die Mei­nungen und Willen des insti­tu­tionell orga­ni­sierten, „ver­an­kerten“, Teils der Gesell­schaft, die „kom­mu­ni­kativ“ „Macht“ erzeugen, denen der Staat Aus­druck ver­leihen soll. D.h. das orga­ni­sierte „estab­lishment“ bzw. solche Gruppen, die seine Unter­stützung erhalten, hat/haben eine Chance, seine/ihre Inter­essen – ver­meintlich legi­ti­miert durch Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hoheit (und erreicht durch sys­te­ma­tische Setzung von Themen als relevant, den Einsatz von Per­sua­si­ons­tech­niken, die Setzung von Sprach­regeln und neu­er­dings offene Zensur) – durch die staat­liche Ver­waltung durch­ge­setzt zu sehen, während die Mehrheit der nicht-orga­ni­sierten Bevöl­kerung in der „deli­be­ra­tiven Demo­kratie“ im eigent­lichen Sinn keine (hörbare) Stimme hat. Oder anders aus­ge­drückt: es ist die schwät­zende Klasse, die Zeit und Muße hat, sich in Schwätz­runden zusam­men­zutun, die sich sozuagen den Staat bzw. die staat­liche Ver­waltung zu ihren Zwecken aneignen kann.

Die – nicht klar als solche benannte – Elite in Habermas‘ deli­be­ra­tivem Modell ist eine „Elite“ im Schwätzen und insofern eine Macht-Elite als sie ihren Orga­ni­sa­ti­onsgrad, ihre insti­tu­tio­nelle Ver­an­kerung in der Gesell­schaft und ihre Mög­lich­keiten, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hoheit zu erlangen – sei es von Uni­ver­si­täten, von Gewerk­schaften oder von Zei­tungen und Fern­sehen aus – , dazu benutzt, um ihre Inter­essen und Anliegen durch staat­liche Ver­waltung ver­treten und durch­ge­setzt zu sehen. „Deli­be­rative Demo­kratie“ kann daher als Variante von Pro­zessen ange­sehen werden, durch die der Staat zur Beute par­ti­ku­larer Inter­essen wird (vgl. Arnim 1993). (Und Gramsci hätte dies­be­züglich unter Verweis auf kul­tu­relle Hege­monie sicherlich einiges zu kri­ti­sieren; offen­sichtlich war Habermas trotz (oder wegen?) poli­ti­scher Links­ori­en­tierung kein Freund von Gramsci.)

Beim besten Willen kann von deli­be­ra­tiver Demo­kratie daher nicht behauptet werden, dass in ihr „das Volk“, die Gesamtheit der Bürger der Sou­verän sei. Und wenn „Demo­kratie“ bedeutet, dass die Bürger der Sou­verän sind, dann ist die Bezeichnung „deli­be­rative Demo­kratie“ eine Täu­schung, denn dann stellt die „deli­be­rative Demo­kratie“ keine Demo­kratie dar.

Die Men­schen­ver­achtung, die dem Entwurf der „deli­be­ra­tiven Demo­kratie“ durch Habermas zugrunde liegt, wird in vie­lerlei Hin­sicht deutlich, und oft genug lässt sie sich im von Habermas Geschrie­benen direkt beob­achten, z.B. wenn Habermas meint, dass trotz der kom­mu­ni­ka­tiven Hoheit, die Mas­sen­medien bean­spruchen und sys­te­ma­tisch aus­bauen, trotz der sozialen Kon­trolle, der sie Sprache und Rede zu unter­werfen versuchen,

„… in die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­turen selber das Gegen­ge­wicht eines eman­zi­pa­to­ri­schen Poten­tials ein­gebaut ist … [denn] auch die [durch die Mas­sen­medien] abs­tra­hierten und gebün­delten Kom­mu­ni­ka­tionen können nicht zuver­lässig gegen die Wider­spruchs­mög­lich­keiten zurech­nungs­fä­higer Aktoren abge­schirmt werden“ (Habermas 1981: 573).

Dabei sind „zurech­nungs­fähige“ Akteure nicht als han­delnde Men­schen auf­zu­fassen, sondern als „mei­nungs­bil­dende Asso­zia­tionen“ (Habermas 1992: 366).

Auch die Qua­lität der durch „mei­nungs­bil­dende Asso­zia­tionen“ und Mas­sen­medien insze­nierten öffent­lichen Dis­kussion bereitet Habermas keine Sorgen, obwohl ein insze­nierter öffent­licher Diskurs lediglich eine „kon­tra­hierte Öffent­lichkeit ohne dis­kur­sives Potenzial zurück[läßt]“ (Klingen 2008: 160; Her­vor­hebung i.O.)

Fest­ge­halten werden kann also, dass der Entwurf einer „deli­be­ra­tiven Demo­kratie“ der Ver­achtung des indi­vi­du­ellen Men­schen geschuldet ist, dem Wert und Bedeutung (an sich?, aber jeden­falls) für die Gesell­schaft schlichtweg abge­sprochen wird. Gesell­schaft besteht für Habermas nämlich nicht aus Men­schen, sondern aus „… sys­te­ma­tisch sta­bi­li­sierte[n] Handlungszusammenhänge[n] sozial inte­grierter Gruppen …“  (Habermas 1981: 228; Her­vor­hebung im Original).

Der Entwurf einer „deli­be­ra­tiven Demo­kratie“ ist ein durch und durch kol­lek­ti­vis­ti­scher bzw. anti-indi­vi­dua­lis­ti­scher Entwurf, in dem die Inter­essen und Anliegen bes­ten­falls dann einen Platz haben, wenn sie in „mei­nungs­bil­denden Asso­zia­tionen“ auf­gehen und eben deshalb eine qua­li­tative Ver­än­derung erfahren.

Schum­peters minimal-demo­kra­ti­sches Regime: urteilsunfähige Bürger wählen zwi­schen urteils­fä­higen kon­kur­rie­renden Eliten?!

Als der deutsch­spra­chige Theo­re­tiker der Eli­ten­de­mo­kratie gilt der m.E. als Ökonom (!) schät­zens­werte Joseph Schum­peter. Er hat in seinem Versuch über „Kapi­ta­lismus, Sozia­lismus und Demo­kratie“ aus dem Jahr 1942 für ein „minimal-demo­kra­ti­sches Regime“ bzw. eine „elec­toral demo­cracy“ (Bei­chelt 2001: 34), argu­men­tiert, bei der dem/der „[d]ie Demo­kratie … die Herr­schaft des Poli­tikers …“ (Schum­peter 2020[1942]: 376) ist und sein muss, weil nach Schum­peters Auf­fassung Bürger unmündig sind bzw. zu unge­bildet, irra­tional, beein­flussbar und eigen­in­ter­es­siert sind, (Schum­peter 2020[1942]: 344–345), um – im Anschluss an die klas­sische Demo­kra­tie­theorie – Demo­kratie als eine Form der Lebens­führung prak­ti­zieren zu könne

Schum­peter hat ein nega­tives Men­schenbild insofern er der Masse der Bürger nicht das Potential zum aktiven, infor­mierten Ent­scheiden und Handeln zuge­steht, den gesamten Entwurf des mün­digen Bürgers ver­wirft, und er dem­entspre­chend meint, es gebe keinen „Volks- [Mehrheits-?]willen“, der das Ergebnis infor­mierter Ent­schei­dungen von Bürgern sei, sondern nur einen von „von außen“ durch Beein­flussung oder Über­redung oder Appell an eigen­nützige Instinkte geschaf­fenen (s. hierzu Held 1987: 180).

Schum­peters Demo­kratie ist eine minimale Demo­kratie insofern als sie sich im Wahlgang der Bürger erschöpft, die unter kon­kur­rie­renden Eliten (zu über­setzen mit: Par­teien?) das poli­tische Füh­rungs­per­sonal aus­wählen, das dann – bis zur nächsten Wahl – von Bür­ger­ein­mi­schung unbe­helligt regiert; andere Formen der Bür­ger­be­tei­ligung sind bei Schum­peter nicht vorgesehen.

Davon abge­sehen, dass ein solcher Entwurf vor­aus­setzt, dass es Kon­kurrenz zwi­schen poli­ti­schen Eliten gibt – und Schum­peter selbst war sich bewusst, dass sich Par­tei­en­systeme schnell in Olig­ar­chien ent­wi­ckeln können, was seinen Entwurf um so merk­wür­diger macht, – ist der Entwurf in sich wider­sprüchlich: Wenn es der Masse der Bürger an Bildung, Ratio­na­lität und all­gemein: Urteils­ver­mögen in poli­ti­schen Fragen mangelt, wie kann man dann von ihr erwarten, dass eine Mehrheit der Bürger die besten Bewerber unter den – hof­fentlich – kon­kur­rie­renden Eliten iden­ti­fi­zieren und ihnen die Wahl­stimme geben kann?! (Vgl. hierzu Miller 1983; Santoro 1993)

Miller gibt pro­be­weise die fol­gende Antwort bzw. rekon­struiert Schum­peters implizit blei­bende Antwort wie folgt:

„Schumpeter’s solution, reduced to its essen­tials, is that a lesser degree of ratio­nality is required to choose a team of leaders than is required to decide directly on policy” (Miller 1983: 141),

d.h.

„Schum­peters Lösung, auf das Wesent­liche redu­ziert, besteht darin, dass für die Auswahl eines Teams von Füh­rungs­kräften ein gerin­geres Maß an Ratio­na­lität erfor­derlich ist als für die direkte Ent­scheidung über Politik(-/en)“.

Miller findet diese Lösung aller­dings selbst nicht über­zeugend, denn wenn man die Masse der Bürger für nicht oder wenig urteils­kräftig in Fragen der Poli­tiken hält, dann stellt sich die Frage auch in Bezug auf die Summe der Poli­tiken, die ver­schiedene poi­li­tische Par­teien ver­treten oder versprechen:

„How can the people at large make an ade­quate assessment of the com­peting parties at election time?” (Miller 1983: 141),

d.h.

“Wie können die Bürger die kon­kur­rie­renden Par­teien ange­messen beur­teilen, wenn der Zeit­punkt der Wahl da ist?

Das ist eine rhe­to­rische Frage, denn die Antwort ist offen­sichtlich: Wenn Schum­peter mit seinem nega­tiven Men­schenbild Recht hätte, könnten Bürger die kon­kur­rie­renden Par­teien über­haupt nicht ange­messen beur­teilen, denn die Poli­tiken oder Leis­tungen ein­zelner Par­teien als Ganze zu beur­teilen und das Ergebnis der jewei­ligen Beur­teilung gegen die Ergeb­nisse aller anderen Beur­tei­lungen der Poli­tiken oder Leis­tungen der anderen Par­teien abzu­wägen, ist ein kognitiv anspruchs­vol­lerer Prozess als „bloß“ die Beur­teilung ein­zelner Poli­tiken, zu der Schum­peter die Bürger ja unfähig erklärt.

Weder Habermas noch Schum­peter geben an, was Eliten zu Eliten macht, d.h. wodurch genau sich Eliten positiv gegenüber der Masse der Bürger aus­zeichnen sollen. Oder anders gesagt: sie können oder wollen beide keine positive Defi­nition von „Elite“ geben. Und damit sind sie nicht allein; fast die gesamte demo­kra­tie­theo­re­tische Lite­ratur, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts erschienen ist, drückt sich sys­te­ma­tisch um die Frage, was eine poli­tische Elite zu der­selben machen soll oder wodurch sie sich aus­zeichnen soll, herum, unab­hängig davon, welche Rolle sie einer Elite jeweils zuweist. Was wir in dieser Lite­ratur statt dessen finden, ist die Behauptung bestimmter nega­tiver Eigen­schaften oder Mängel auf Seiten der Nicht-Elite(n).

Im bald fol­genden Teil 4 der Serie wird die Frage behandelt, warum das so ist, und was es vor diesem Hin­ter­grund bedeutet, wenn „Popu­lismus“ stan­dard­mäßig haupt­sächlich (oder zum­n­indest: auch) dadurch defi­niert wird, dass er anti-eli­tis­tisch sei.


Lite­ratur

Albrecht, Steffen, 2010: Refle­xi­ons­spiele: Deli­be­rative Demo­kratie und die Wirk­lichkeit poli­ti­scher Dis­kurse im Internet. Bie­lefeld: Transcript.

Arnim, Hans Herbert von, 1993: Der Staat als Beute: Wie Poli­tiker in eigener Sache Gesetze machen. München: Knaur.

Bachrach, Peter, 1967: The Theory of Demo­cratic Eltitism: A Cri­tique. Boston: Little, Brown & Co.

Bei­chelt, Timm, 2001: Demo­kra­tische Kon­so­li­dierung im post­so­zia­lis­ti­schen Europa: Die Rolle der poli­ti­schen Insti­tu­tionen. Wies­baden: Springer.

Habermas, Jürgen, 1992: Fak­ti­zität und Geltung: Bei­träge zur Dis­kurs­theorie des Rechts und des demo­kra­ti­schen Rechts­staats. Frankfurt: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kom­mu­ni­ka­tiven Han­delns. Band 2: Zur Kritik der funk­tio­na­lis­ti­schen Ver­nunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Held, David, 1987: Models of Demo­cracy. Stanford: Stanford Uni­versity Press.

Klingen, Henning, 2008: “Gefährdete Öffent­lichkeit”: zu einer Leer­stelle poli­tisch-theo­lo­gi­scher Gesell­schafts­kritik, S. 156–181 in: Manemann, Jürgen, & Wacker, Bernd (Hrsg.): Poli­tische Theo­logie – gegen­ge­lesen. (Jahrbuch Poli­tische Theo­logie, Band 5.) Münster: LIT.

Miller, David, 1983: The Com­pe­titive Model of Demo­cracy, pp. 133–155 in: Duncan, Graeme Campbell, (Hrsg.): Demo­cratic Theory and Practice. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­versity Press.

Santoro, Emilio, 1993: Demo­cratic Theory and Indi­vidual Autonomy: An Inter­pre­tation of Schumpeter’s Doc­trine of Demo­cracy. European Journal of Poli­tical Research 23(2): 121–143.

Sartori, Gio­vanni, 1978: Anti-Elitism Revi­sited. Government and Oppo­sition 13(1): 58–80.

Schum­peter, Joseph A., 2020[1942]: Kapi­ta­lismus, Sozia­lismus, Demo­kratie. (utb 172). Tübingen: Narr Francke Attempto.

Die bis­he­rigen Teile der Serie zu Popu­lismu sund Elitismus:


Quelle: sciencefiles.org