EIN KOLLEGENBEITRAG von OLIVER GREYF (investigativer Journalist)
Im Jahre 1998 sickerte das durch, was vorher nur von manchen gemutmaßt wurde:
An der hessischen Odenwaldschule, ein reformpädagogisches Landerziehungsheim, fand über viele Jahre sexueller Missbrauch in, so die Worte eines Opfers, „inflationärem Umfang“ statt. [19]
Erst Ende 1999 brachte ein FAZ-Artikel den Skandal an die Öffentlichkeit ‑und das obwohl die ersten sexuellen Übergriffe von Lehrern auf Schüler schon 1968 aktenkundig wurden. [60]
Der langjährige Leiter der Odenwaldschule, der Theologe Gerold Becker [20], missbrauchte zusammen mit einer Vielzahl weiterer Lehrer über Jahrzehnte hinweg systematisch die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen. [21]
Becker hatte keine Staatsexamen abgelegt oder war anderweitig zum Lehrer qualifiziert (er hätte also gar nicht unterrichten dürfen). [22]
Neben dem Missbrauch und körperlicher Gewalt, welche teilw. in „sadistisches Quälen“, wie dem Verbrühen der Genitalien mit heißem Wasser, überging, gab es auch psychische Folter. [23] [62]
So diagnostizierte Becker als Nicht-Psychologe/Psychiater einem seiner Schüler, dem er zuvor mit einer Rufmord-Kampagne zusetzte, eine „Jugendschizophrenie“ und empfahl eine psychiatrische Behandlung. [24]
Der Vater des Jungen nahm den Ratschlag an, sein Sohn wurde in der Folge mit starken Psychopharmaka behandelt, unter deren Folgen er heute noch leidet.
Die anfangs vermutete Zahl von 8 Tätern wurde später auf mindestens 24 nach oben korrigiert. [25]
Die Liste der Vorwürfe gegen den 2010 verstorbenen Pädo-Pädagogen reichen von unsittlichen Berührungen, Besitz von Kinderpornographie [26] bis zur Vergewaltigung. [21] Manche der Schülerinnen wurden nach einer Vergewaltigung schwanger, und trieben ihr Kind ab. Ein hiesiger Frauenarzt sagte, „ die Abtreibungsrate an der Odenwaldschule liege höher als im ganzen Kreis Heppenheim.“ [27]
Gerold Becker hat die Vorwürfe zugegeben. [28]
Während die Schulleitung der Odenwaldschule, welche beim Bekanntwerden der Vorwürfe das Sagen an der Lehreinrichtung hatte, die Vorwürfe runter spielte und mit Aussagen wie „Das ist ein Stück Vergangenheit“ abtat und die Opfer mit Sätzen wie „[Schließlich haben] alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert“ verhöhnten [29], setzte sich die spätere Leiterin (Amtsantritt 2007) der Odenwaldschule, Margarite Kaufmann, intensiv für eine Aufklärung der Vorfälle ein. [30]
Sie sagte aus, ihr seien 33 Opfer bekannt, zudem mutmaßte sie, dass ein einzelnes Opfer bis zu 400 mal von Gerold Becker sexuell missbraucht wurde. [31]
Laut des Dokumentations Zentrum ansTageslicht, wurde ein aufklärungswilliger Lehrer von dem SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Conradi unter Druck gesetzt, da dieser mit der Presse über den Missbrauchs-Skandal redete, außerdem wirft ihm das Dokumentations Zentrum vor bei der Aufklärung der Taten die nötige Transparenz verhindert zu haben. [23]
Der Tatzeitraum betrug von Mitte der 1960er bis in die 1990er Jahre.
Gerold Becker gilt zusammen mit dem Musiklehrer Wolfgang Held als Haupttäter.
Dieser hatte überdies Schüler zwangsprostituiert [32] und mit ihnen sogar Kinderpornos gedreht. Wie auch Becker hatte er keine Staatsexamen abgelegt oder war anderweitig zum Lehrer qualifiziert (er hätte also ebenfalls nicht unterrichten dürfen). [22]
Sechs weitere Pädagogen werden von ehemaligen Schülern ebenfalls erheblich belastet.
Darunter auch bekannte und gesellschaftlich erfolgreiche Personen wie Dietrich Willier, welcher Mitbegründer der linken Zeitung taz war und an der Produktion der Kindersendung Tigerente beteiligt war. Willier fiel dadurch auf, dass er besonders widerwärtige Kinderpornos besaß, z.B. solche, in denen Kleinstkinder missbraucht wurden. [33] [34]
Aufgrund der Verjährungsfristen ist keiner der Täter jemals strafrechtlich belangt worden. [35]
Die Odenwaldschule ging im Jahre 2015 in Insolvenz und ist damit Geschichte. [36]
Ein Jahr zuvor wurde gegen den Lehrer Frank G. wegen Kindesmissbrauch und Besitz von Kinderpornographie ermittelt. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung, welche sich in der Odenwaldschule befand, wurden Kinderpornos sichergestellt (eine Parallele zu Becker, der stets härteste Kinderpornographie für die Schüler offen zugänglich in einem Schrank aufbewahrte). Später wurde Frank G. zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Das Verfahren wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs wurde indes eingestellt. [37]
In kalten Zahlen und Fakten runtergebrochen:
Zwischen 1966–1998 wurden bis zu 900 Heranwachsende missbraucht. [38]
Das jüngste Opfer war 7, das älteste 17. [39]
Die Anzahl der Täter liegt bei 8 – über 24. [40]
11 ehemalige Schüler haben Selbstmord begangen. * [39]
Entschädigungszahlungen wurden bis jetzt an 46 Opfer gezahlt. [39]
*Nach offizieller Darstellung sollen zumindest nicht alle Suizide mit dem Aufenthalt in der Odenwaldschule in Zusammenhang stehen. Der Leser soll sich hier seine eigene Meinung bilden.
Beckers perfides System funktionierte wie folgt:
Becker suchte sich meist die Schwächsten, die in der Rangordnung unter den Schülern am niedrigsten standen, aus. Ließen sie sich missbrauchen, nahm er sie gegenüber den Mitschülern in Schutz.
Er wählte als Opfer in der Regel Broken Home-Kinder, denen bei der Rückkehr ins Elternhaus weitaus Schlimmeres als der Missbrauch geschehen konnte, und somit an die Odenwaldschule gebunden waren.
Sollten sich doch Eltern mit Beschwerden und Verdächtigungen an die Schulleitung gewandt haben, wurden sie geschickt beschwichtigt, außerdem sah Becker davon ab, diese Kinder weiterhin zu missbrauchen. [41]
Erschreckend auch wie sich eine Mauer des Schweigens und eine Kultur des Verharmlosens und Kleinredens aufbauen und etablieren konnte.
Selbst die Eltern der betroffenen Schüler nahmen ihre Kinder, wenn ihnen bekannt wurde, dass es Opfer von Übergriffen wurde, nur in den seltensten Fällen von der Schule. Teilweise wurden die
Taten der Lehrer durch sie noch gerechtfertigt, und in einem Fall wurden einem Jungen sogar Vorwürfe gemacht, weil er sich gegen den Missbrauch zu Wehr setzte! [42]
Aussage eines Opfers:
Als [ich meinen] Vater [von den sexuellen Übergriffen] erzählte, sagte der nur: „Sei doch nicht so spiessig.“
Ein anderes Opfer, welchen den Übergriff eines Lehrers meldete und seine Eltern darüber informierte, musste erleben, dass sein Vater auf einen Brief des damaligen Schulleiters Walter Schäfer wie folgt antwortete:
„Passieren können solche und andere unangenehme Dinge [sexuelle Übergriffe ] schließlich in jeder Gemeinschaft und (….) vielleicht ist es sogar positiv zu bewerten, daß junge Menschen(…) auch mit unangenehmen Situationen konfrontiert werden (…).“ [42]
Einem weiteren Opfer, das sich seinen Eltern anvertraute, wurde von seinem Vater Homophobie unterstellt, während seine Mutter ihm die Vorwürfe schlichtweg nicht glaubte. [43]
Aber wie kam es dazu, dass diese Mauer des Schweigens und Kultur des Verharmlosens auch die Eltern und andere Verwandte, denen sich Opfer anvertrauten, ergriffen hat?
War es, weil man die Kinder nicht liebte und sie nur (Wortwahl eines Opfers) „entsorgen“ wollte?
War es der Glaube an die Heilslehre der an der Odenwaldschule praktizierten Reformpädagogik, die den, so wörtlich, „Pädagogischen Eros“ (Sic!) einschloss? [44]
Oder der Glaube an die „Sexuelle Befreiung“, die die 68er-Bewegung propagierte?
Im offiziellen Abschlussbericht findet man zu dieser Fragestellung nur diese zwei Sätze:
Das oben schon berichtete Beispiel des Vaters, [der die Berichte seines Sohnes über die erlittenen Missbrauchshandlungen als „unschöne Dinge“ abtat] zeigt den damaligen Zeitgeist, der dem Sohn zumutet, das Erlebte unter unangenehmen Lebenserfahrungen abzuspeichern, an denen man wachsen könne. Weiter wiederum gab es unter den Eltern aufgeklärte Intellektuelle, die den klaren Mitteilungen ihres Sohnes über sexuelle Übergriffe nicht glaubten, sondern ihn sogar der Lüge bezichtigten. [43]
Ich möchte ehrlich sein, auch ich komme hierbei über Versuche, Erklärungsansätze zu finden, nicht hinaus.
Netzwerk, oder nicht?
Dass die Odenwaldschule Teil eines Netzwerkes war, ist mehr als wahrscheinlich, und wurde auch öffentlich so kommuniziert.
Jedoch ist nicht klar, wie groß das Netzwerk war, auch wie es aufgebaut und strukturiert war, ist nicht bekannt.
So berichtete Die Zeit im Januar 2019: Becker habe gegenüber schulinternen Kritikern die Oberhand behalten, weil er Rückendeckung (…) durch ein mächtiges Netzwerk von Unterstützern innerhalb und außerhalb der Schule erhalten habe. [45]
Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München meint, dass diese „mächtigen Netzwerke“ nicht nur im internen Bereich der Odenwaldschule ihre Hand über Becker hielten,
sondern sie den Einfluss hatten ein weitergehendes öffentliches Thematisieren seiner Taten zu unterbinden:
Zu vermuten ist, dass mächtige Netzwerke, die den Schulleiter schützten, eine breitere öffentliche Diskussion verhinderten. [46]
Einer, der dem Haupttäter Gerold Becker zur Seite stand, als Schüler im Hinblick auf das „Ausleben von Sexualität“ nach „einer deutlichen Grenzziehung zwischen Lehrern und Schülern“ verlangten, war niemand anderes als Daniel Cohn-Bendit. [47]
Eine Gefälligkeit eines ehemaligen Schülers an einen Lehrer, den er offensichtlich ins Herz geschlossen hat? Oder gehörte auch Cohn-Bendit, dessen Äußerungen aus den 1970er und 1980er Jahren wir oben schon behandelt haben, mit zum Netzwerk?
Konkret angebbar ist das Protegieren durch den Ettlinger Kreis, zu dem auch der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gehörte. Mitglied des Kreises war auch Gerold Becker selbst. Hellmut Becker, einer der Führungspersonen des Kreises, machte Gerold Becker (zwischen den beiden besteht kein Verwandtschaftsverhältnis) zum Leiter der Odenwaldschule, obwohl er wusste, dass dieser pädophil ist und seinen Patensohn missbraucht hat. Gerold Becker, ein studierter evangelischer Theologe, wurde Zeit seines Lebens von der „protestantischen Elite“ des Evangelischen Kirchentages hofiert. [48]
Dass die Täter auch vor Ort offenkundig Unterstützung bekamen, kann man an diesen beiden Sachverhalten erkennen:
Schülerinnen, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden, erhielten illegalerweise die „Pille Danach“ von Frauenärzten, die mutmaßlich mit Held und Becker zusammen arbeiteten.
Auch hatte Becker wohl Kontakte zur hiesigen Polizei, so konnte er Verfahren, die gegen seine Schüler geführt wurden, anscheinend unter den Tisch fallen lassen. [26] [27]
Dass das Netzwerk international agierte, sehen wir hieran:
Schüler der Odenwaldschule wurden von Wolfgang Held nach Griechenland verbracht und dort zwangsprostituiert. Anderen Pädophilen pries er sie als „seine Jungs“ an. [49]
Da mit den Schülern viele Reisen in verschiedene Länder unternommen wurden, drängt sich der Verdacht auf, dass die Schüler innerhalb eines internationalen Pädophilen-Ringes herum gereicht wurden. Dazu passt die Aussage eines Opfers, dass „er [Becker] in den Sommerferien mit einem VW Bus voller Jungs in den Süden abdüste“. [61]
Fazit: Obwohl die Aufklärung des Pädo-Skandales an der Odenwaldschule nun schon seit 20 Jahren stattfindet, sind viele Punkte nichtmals ansatzweise erhellt.
Die Verwebungen in die Politik, die Tat-Komplexe Herstellung von Kinderpornographie und Prostitution von Minderjährigen sind nur drei Punkte, die nicht geklärt sind.
Im nächsten Teil nehmen wir das „Kentler-Experiment“ unter die Lupe.
Der Artikel erschien zuerst bei guidograndt.de
Verwendete Quellen:
[19] https://www.fr.de/politik/lack-11620273.html
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Gerold_Becker
[21] https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Systematischer_sexueller_Missbrauch
[24] https://www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000–4a53-efcc-0000–000039315ed6/FrankfurtGewaltdef.pdf S.6
[ 26] https://www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000–4a53-efcc-0000–000039315ed6/FrankfurtGewaltdef.pdf S.15
[27] https://www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000–4a53-efcc-0000–000039315ed6/FrankfurtGewaltdef.pdf S.16
[29] https://www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000–4a53-efcc-0000–000039315ed6/FrankfurtGewaltdef.pdf S.8
[32] https://www.abendblatt.de/vermischtes/article107666806/Haben-Lehrer-ihre-Schueler-vermietet.html
[33] https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Ehemalige_Lehrerinnen_und_Lehrer_(Auswahl)
[35] https://www.fr.de/politik/missbrauch-verjaehrt-11694500.html
[36] https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Rettungsversuche_und_Ende_des_Schulbetriebs
[40] https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/odenwaldschule-es-sind-noch-mehr-opfer-16055284.html
[43] https://www.anstageslicht.de/fileadmin/user_upload/Geschichten/Missbrauch_-_eine_unendliche_Geschichte_auch_in_Deutschland/OSO_Abschlussbericht2010.pdf S.20[45] https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Entstehungszusammenhänge
[46] https://www.ipp-muenchen.de/praxisforschung/odenwaldschule
[48] https://www.zeit.de/2019/26/kindesmissbrauch-odenenwaldschule-evangelische-institutionen-kirchentag
[49] https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Aufarbeitung_und_Entschädigung https://de.wikipedia.org/wiki/Odenwaldschule#Lehrerkündigung_wegen_Kinderpornos_und_Entlassung_der_Schulleitung
[60] Tatort Odenwaldschule: Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung S. 39
[61] Buch eines Opfers: Wie laut soll ich denn noch schreien? – Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch
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