Pckenviren, Bildquelle: Quelle: Hans R. Gelderblom/RKI

Rekon­stru­ierte Pocken­viren – Die Zau­ber­lehr­linge spielen mit dem Feuer

In einem alten, über­lie­ferten Gebet von den bri­ti­schen Inseln, heißt es am Ende auf Alt­eng­lisch (Angel­säch­sisch): „geskyldað me with de laðan Poccas and with eal­leyfeln. Amen“. Zu Deutsch: „Beschilded (beschützt) mich gegen die gräss­lichen Pocken und allem Übel“.
Die erste, his­to­risch bekannte Pocken-Epi­demie Europas begann im 6. Jahr­hundert. Bis ins 15. Jahr­hundert gab es mehrfach Aus­brüche in England und auf dem Festland. Die Spanier brachten den Erreger, gegen den sie selber immun geworden waren, nach Mittel- und Süd­amerika. Dort ver­starben Mil­lionen an auto­chthonen Ame­ri­kanern daran. Die Pocken trugen sehr viel zum Untergang der india­ni­schen Kul­turen der Inka und Azteken bei.
Pocken­viren sind die größten bekannten Viren und mit 400 Nano­metern geradezu dicke Brocken. Sie haben eine unge­wöhn­liche Ver­meh­rungs­taktik. Die Inku­ba­ti­onszeit, also die Zeit von der Anste­ckung bis zum Aus­bruch, beträgt 12 bis 14 Tage. Der Infi­zierte fühlt sich sehr krank und schwach, leidet unter Kopf- und Rücken­schmerzen, einer schweren Hals­ent­zündung und hohem Fieber mit Schüt­tel­frost, Delirien und Wahn­vor­stel­lungen. In diesem Stadium ist die Krankheit hoch­in­fektiös, die typi­schen Pocken oder Blattern treten aber erst einige Tage nach Beginn der Erkrankung auf. Wer diese schwere Erkrankung über­steht, behält die Pocken­narben ein Leben lang. Nicht selten bleiben schwere Folgen, wie Erblindung, Taubheit oder Läh­mungen. Auch Gehirn­schäden oder eine anschlie­ßende Lun­gen­ent­zündung können dadurch dau­erhaft zurückbleiben.

 
Über­tragen werden die Pocken meistens durch Tröpf­chen­in­fektion, also Niesen, Husten, Anhauchen, Sprechen in nächster Nähe. In den win­zigen Was­ser­tröpfchen werden die Viren trans­por­tiert. Aber auch durch Berührung (Schmier­in­fektion) kann man sich infi­zieren. Strenge Qua­rantäne ist der einzige Weg, eine Ver­breitung auszuschließen.
Ein Drittel der Erkrankten stirbt an den Pocken oder Blattern, und es gibt bis heute kein Gegen­mittel. Unter ungüns­tigen Umständen können es auch zwei Drittel sein. Die Blattern oder Pocken gelten als einer der töd­lichsten Infek­ti­ons­krank­heiten. Im 20sten Jahr­hundert sollen ins­gesamt eine halbe Mil­liarde Men­schen daran gestorben sein. Es gibt zwei ver­schiedene Ver­laufs­formen der Pocken:
Die schwarzen Blattern (Variola hae­mor­rhogica) sind ein besonders schwerer Krank­heits­verlauf. Innerhalb von Tagen setzen schwere Blu­tungen der Haut und der Schleim­häute ein, sogar die inneren Organe können betroffen sein. In diesen Fällen sterben die Pati­enten häufig schon während der ersten 48 Stunden. Eine mildere Infektion, weiße Pocken (Variola minor) genannt, ver­läuft weit weniger heftig und „nur“ in einem bis fünf Prozent tödlich. Über­steht man diese Krankheit, ist man jedoch leider nicht gegen eine Anste­ckung mit den “schwarzen” Pocken immun. „Epi­de­mio­logen gehen davon aus, dass durch das erst­malige Auf­treten von Pocken in einer Bevöl­kerungsgruppe diese Gruppe auf rund ein Drittel ihrer Aus­gangs­größe redu­ziert wird.“ 
Seit 1977 gelten die Pocken als aus­ge­storben. Aber das sind sie nicht wirklich. Das For­schungs­zentrum der US-Seu­chen­be­hörde CDC (Centers for Disease Control and Pre­vention) und die rus­sische Seu­chen­be­hörde VECTOR halten diese Viren in ihren Laboren künstlich am Leben.
Nachdem der Mensch es geschafft hat, Genome zu ent­schlüsseln und auch ziel­ge­richtet zu ver­ändern, bieten sich bei dem bri­santen Grund­ma­terial ganz neue Mög­lich­keiten. Was diese beiden Groß­mächte mit potenten Bio­waffen wie den Blattern – oder noch gefähr­li­chere, künst­liche Vari­anten des Kil­ler­virus – betrifft, gilt das alte Gesetz: Wenn der Mensch die Mög­lichkeit hat, eine wirksame Waffe ein­zu­setzen, dann macht er das auch.
Es gibt auch Grund, so eine Absicht zu befürchten: Kana­dische Viro­logen haben an der Uni­versity of Alberta (Kanada) aus den DNA-Frag­menten das aus­ge­storbene, aller­dings für den Men­schen unge­fähr­liche Pfer­de­po­cken­virus rekon­struiert, und dieses Ver­fahren in einem wis­sen­schaft­lichen Online-Journal ver­öf­fent­licht.
Solche Rekon­struk­tionen werden durch­ge­führt, indem die noch vor­han­denen Gen­ab­schnitte sozu­sagen „wieder zusam­men­ge­klebt“ werden. Mit dem Pfer­de­po­cken­virus stellten die kana­di­schen Wis­sen­schaftler das bisher größte künst­liche Virus her.
Zweck der Sache sei – so die Wis­sen­schaftler – Grund­la­gen­for­schung für sichere Viren-Impf­stoffe der Zukunft zu betreiben. Fach­leute haben aber Bedenken geäußert: Mit dieser Methode könne man töd­liche Erreger quasi mit bestellten Eigen­schaften künstlich erschaffen, indem man sie aus vor­han­denen Sequenzen mit den erwünschten Eigen­schaften zusam­menfügt – also maß­ge­schnei­derte Bio­waffen her­stellt. Auch solche, die es in der Natur noch niemals gegeben hat, und wogegen das in Hun­derten an Jahr­mil­lionen ent­standene Leben auf diesem Pla­neten auch keine Ver­tei­di­gungs­stra­tegie ent­wi­ckeln konnte. Oder anders aus­ge­drückt: Der Mensch ist dabei, ein tücki­sches, brand­ge­fähr­liches, win­zig­kleines, sich explosiv ver­meh­rendes „Alien“ zu ent­wi­ckeln, das mit nichts zu bekämpfen und zu stoppen ist und von dem man nicht weiß, was es an Schaden aus­richten kann.
HELIX - Sie werden uns ersetzen: Roman von [Elsberg, Marc]Was das Pocken­virus betrifft, haben die kana­di­schen Gen-Inge­nieure mit ihrer Ver­öf­fent­li­chung nun einen Bauplan her­aus­ge­geben, nach dem man auch das töd­liche Blat­tern­virus neu zusam­men­bauen kann. Wer diesen Killer als Waffe ein­setzen will, der hat jetzt die Anleitung dazu.
Die Kanadier geben sich indes unbe­ein­druckt. Sie wollen diese Tech­no­logie auch bei anderen Pocken­stämmen ein­setzen. Das Ver­fahren dürfte schnell Inter­es­senten und Nach­ahmer finden. Laut „Science“ ist das ange­wendete Ver­fahren weder teuer noch schwierig.
Selbst, wenn die Staaten und Wis­sen­schaftler sich im Umgang mit diesen Tech­niken zu hohen ethi­schen Werten ver­pflich­teten, und dies auch wider Erwarten ein­hielten, besteht die schon tau­sendfach wahr gewordene Gefahr, dass das Wissen in die Hände weit weniger mora­lisch geson­nener Inter­es­sen­ten­kreise gelangt, die damit ihre Ziele wirksam durch­setzen könnten.