Beim Namen Erich Kästner lächeln die Leute und nicken. Jaja, „Das doppelte Lottchen“, „das fliegende Klassenzimmer“, „Pünktchen und Anton“ und „Emil und die Detektive“, sagen sie dann und sehen die alten, schönen Filme vor sich. Es waren großartige Filme und ein wundervolles Geschenk Erich Kästners an die Kinder dieser Welt. Sie sind ja in mehrere Sprachen übersetzt worden. Die Kinder finden sich in seinen Büchern wieder und sie nehmen dabei ganz leicht die feine Sprache auf, die menschliche Wärme, das unaufdringlich sichere Gefühl für Wahres, Gutes und Schönes, was ehrlich, ungekünstelt und bar jeden Pomps aus Kästners Texten spricht.
Marcel Reich-Ranicki sah in diesen Büchern „vertauschten Rollen“, die Kästner seinen Protagonisten zuteilte. Im „Das doppelten Lottchen“ treffen sich die Zwillingsmädchen, die durch die Scheidung der Eltern getrennt voneinander aufwachsen und nichts voneinander wissen, zufällig. Sie beschließen, ihre Plätze zu tauschen und erweisen sich dabei als kluge Agenten für eine Versöhnung der Eltern und einen Neuanfang. Hier erziehen die Kinder die Eltern. Auch sonst sind die Kinder die, die noch einen unverdorbenen Verstand haben. In Emil und die Detektive sind es die Kinder, die den Verbrecher finden und fassen, und die Ordnung wiederherstellen, die die Erwachsenen zerstört haben.
In seinem Leben zeigte Erich Kästner auch eine Vorliebe dafür, „aus der Rolle zu fallen“. Und so erfassen die Klischee-Rollen, in die Literaten oder Unterhaltungskünstler eingestuft werden, auch nicht das Wesen Erich Kästners, der einerseits lustige Gedichte schrieb, ein talentierter Vorlese rund ein wunderbarer Kinderbuchautor war, andererseits auch ein sehr politischer Mensch, der zwei Weltkriege miterlebte, was ihn zum überzeugten Antimilitaristen machte. Er schrieb ironische und satirische Gedichte, aber er war nicht nur ein Witziger und bissiger Satiriker. Er verfasste auch zutiefst depressive, düstere Zeilen. Manches davon wirkt, wie dunkle Prophetie.
Empfindsamen Menschen ist diese Traurigkeit und das Vorausahnen schmerzhafter Zeitenwenden nicht fremd. Aber aus der Fähigkeit, die Dinge klar zu sehen und der Bereitschaft, auch für die eigenen Überzeugungen einzustehen und – wenn es sein muss – zu leiden, erwachsen auch die Aufrechten. Erich Kästner wird als „pointierter Gesellschaftskritiker“ bezeichnet, was er sicher auch war. Sein Scharfblick für die Brüche in der Wirklichkeit rührt aber nicht aus Spottlust oder Bitterkeit her, sondern aus der Liebe und dem Mitleid mit denen, die in ihrem Leben diese Brüche ertragen und ausbaden müssen.
Diese unprätentiöse Liebe, die aus seinen Kinderbüchern und aus seinen gesellschaftskritischen Stücken und Gedichten spricht, zeigt sich auch in der Zeit des Dritten Reiches. Er mag die Nazis überhaupt nicht. Er muss aus nächster Nähe der Verbrennung seiner Bücher und Schriften zusehen. Und dennoch emigriert er nicht, wie fast alle seine regimekritischen Schriftstellerkollegen. Er schrieb dazu einen Vierzeiler, der in so schlichter Sprache, ohne jeden patriotischen Theaterdonner und doch so unglaublich tief und stark seine Liebe zu seinem Land ausdrückt, dass es einem die Tränen in die Augen treibt:
„Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.
Mich lässt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –
wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.“
(Erich Kästner, aus „Notwendige Antwort auf überflüssige Fragen“)
Dass er außerdem seine Mutter, an der er sehr hing, nicht allein lassen wollte, nimmt der linke Tagesspiegel zum Anlass, Kästners Ausharren in Deutschland nur seiner Mamakind-Bequemlichkeit zuzuschreiben: „Sein Tagebuch offeriert nun, mit etwas Sarkasmus gelesen, eine profanere, dritte Variante: Wer im Ausland hätte ihm seine Wäsche so zuverlässig wie die Mutter gewaschen und gebügelt?“
Liebe zum Heimatland passt irgendwie nicht zur Antinazi-Ikone Kästner. Man gesteht ihm als ehrenhaftes Motiv für das Dableiben noch zu, dass er als Zeuge und Chronist die Ereignisse beobachten und für die Nachwelt festhalten und niederschreiben wollte.
Vieles an Kästners Leben im Dritten Reich passt nicht in die Vorstellungen, die man sich heute von Widerstandskämpfern macht. Und ein solcher im Sinne des direkten Agitierens war er auch nicht. Er war sogar relativ erfolgreich während der Herrschaft des Nationalsozialismus’. Seine Aufzeichnungen, auch das „blaue Buch“ genannt, in die er seine täglichen Notizen niederschrieb und das er während der Bombenangriffe auch mit in den Luftschutzkeller nahm, lassen die Beobachtungen und Gedanken Kästners wieder lebendig werden, die er in seiner ganz eigenen, klaren, feinen und doch bisweilen fetzigen Sprache in Worte fasste.
Damals wie heute durchlebte und durchlebt man Umbruchszeiten mit schreienden Ungerechtigkeiten, Brutalitäten, Unfassbarem und kleinen Wundern. Wie alltägliche Grausamkeiten durch ihre ständige Präsenz zum Banalen werden. So beobachtete Kästner, dass jüdische Mitbürger drangsaliert wurden, aber auch Deutsche, die sich der verordneten Meinung nicht anpassten „bishin zu Telefonstillegung“ (Ähnlichkeiten mit Martin Sellner sind rein zufällig). Wie Linke und als Oppositionelle folgenlos von selbsternannten, damals politisch korrekten Schlägertrupps zusammengeprügelt werden durften, ohne dass sie zur Rechenschaft gezogen wurden (hat nichts mit Antifa versus AfD-Mitgliedern gemeinsam). Wie Menschen, die es wagten, eine nicht angepasste Meinung zu äußern, ihren Arbeitsplatz verloren. Die Verhaltensweisen der Menschen sind damals, wie heute dieselben, wie Kästner schreibt: „Denunziantentum, Niedertracht, Brutalität, Größenwahn, Kriecherei, Opportunismus, Gesinnungswechsel auf Kommando“. Alles das sehen wir heute wieder.
Und genau wie diffamierte und verfolgte Patrioten heute, muss Kästner aber auch dafür sorgen, dass er von etwas leben kann. Er wurde mehrfach von der Gestapo vernommen aber wieder freigelassen und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Er stellte einen Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer, was wegen seiner kulturbolschewistischen Haltung abgelehnt wurde. Das war im Prinzip ein Publikationsverbot. Er musste sich die Bezeichnung „Asphaltliterat“ gefallen lassen.
Doch Kästner blieb noch recht gut vernetzt in der künstlerischen Szene. Das Berufsverbot der Nazis bewirkt nur, dass Kästner etwas erfindungsreicher im Verborgenen und unter Pseudonym arbeitet. Sein Verleger und Freund Kurt Leo Maschler veröffentlichte Kästners Bücher in seinem „Atrium-Verlag“ in der Schweiz. Aber auch in Deutschland ist Kästner sehr erfolgreich. Unter verschiedenen Pseudonymen schreibt er Theatertexte und diverse Drehbücher für Filme, wie zum Beispiel „Drei Männer im Schnee“. Unter dem Namen „Berthold Bürger“ gelang es ihm sogar, das Drehbuch zum Film „Münchhausen“ zu schreiben. Der Film wurde zu einem der bekanntesten Filme der Ufa und gefiel Reichspropagandaminister Goebbels ganz außerordentlich.
https://www.youtube.com/watch?v=B6rKq4fNUDM
Kästner schrieb auch an dem Drehbuch des Heinz-Rühmann-Films „Ich vertraue Dir meine Frau an“ mit.
https://www.youtube.com/watch?v=onesI3ebIyw
Und er schaffte es auch noch, den Gräueln der letzten Kriegszeiten im Untergang der Nazizeit zu entkommen: Einem Ufa-Team gelang es Anfang 1945, nach Tirol auszureisen – unter dem Vorwand, es werde dort einen der Heimatfilme drehen, die nach dem „Endsieg“ dringend gebraucht würden. Erich Kästner wurde als vorgeblicher Drehbuchautor in das Team integriert. Im Tiroler Mayrhofen im Zillertal erlebte er in Sicherheit und recht gemütlich das Ende der Nazi-Herrschaft.
Linksintellektuelle erwähnen diese Seite an Erich Kästner nicht so gerne. In ihrem Schwarzweißdenken hat man das als Antifaschist gefälligst nicht zu tun.
Dazu war Kästners ganzes Wesen aber nicht einschichtig genug. Heute würde er damit wieder anecken. In der Tabu-Welt von heute darf man sich auch nicht ungestraft auf eigenen Wegen bewegen. Es gibt nur selten Zeiträume in der Geschichte, in denen der menschliche Geist frei atmen kann und man aus seinen ganz eigenen Überzeugungen handeln darf. Das erfahren wir heute wieder schmerzhaft. Die Gesinnungspolizei ist heute wieder gnadenlos, fast wie damals. Fast. KZs haben wir noch nicht wieder, oder „auf der Flucht erschossen“.
Nach dem Krieg scherte Kästner auch wieder aus dem allgemein verordneten, politisch korrekten, deutschen Schuldkult aus:
„Die Sieger, die uns auf die Anklagebank verweisen, müssten sich neben uns setzen. Es ist noch Platz. Wer hat denn, als längst der Henker bei uns öffentlich umging, mit Hitler paktiert? Das waren nicht wir. Wer hat denn Konkordate abgeschlossen? Handelsverträge unterzeichnet? Diplomaten zur Gratulationscour und Athleten zur Olympiade nach Berlin geschickt? Wer hat denn den Verbrechern die Hand gedrückt statt den Opfern?“
(Erich Käster, „Notabene 1945. Ein Tagebuch“)