Mas­sen­ma­ni­pu­lation, psy­cho­lo­gische „Wis­sen­schaft“ und „Nar­zissmus”

Die Mäch­tigen dieser Welt pro­du­zieren per­manent Gewalt und Unter­drü­ckung. Dies wie­derum macht viele Men­schen see­lisch und kör­perlich krank. Es nützt den Herr­schenden, wenn psy­cho­lo­gische „Theorien“ solche Effekte leugnen, statt­dessen den ent­spre­chenden Opfern beschei­nigen, dass sie „selbst schuld“ seien. In diesem Dienst steht zum Bei­spiel die Lehre Sigmund Freuds. Zur Popu­la­rität ver­holfen hat ihr wohl nicht zuletzt die Loge B’nai B’rith, in der Freud ab 1897 Mit­glied war.

(von Klaus Schlagmann)

Seit über 25 Jahren weise ich in diesem Zusam­menhang auf die Pro­ble­matik des Begriffes „Nar­zissmus“ hin. Für die­je­nigen, denen der Begriff nicht geläufig ist: Er soll so etwas wie Selbst­ge­fäl­ligkeit, Rück­sichts­lo­sigkeit, ego­zen­trische und bezie­hungs­un­fähige Eigen­liebe bedeuten und leitet sich ab von einem alten grie­chi­schen Mythos. Die antike Sage erzählt von dem schönen 16-jäh­rigen Jüngling Narziss, der eines Tages in einer Quelle sein Spie­gelbild ent­deckt. Bei dem ver­zwei­felten Versuch, sein Bild im Wasser fest­zu­halten, stirbt er am Ende. Dieses Ver­halten begründet also, dass jener Narziss heute zum Inbe­griff ego­zen­tri­schen, rück­sichts­losen Ver­haltens geworden ist.

Alte Mythen beinhalten in der Regel große Weisheit. Wo aber steckt diese in der skiz­zierten Geschichte? Nun – diese Weisheit erschließt sich erst, wenn man die Details dieser Erzählung betrachtet. Ein deut­scher Alt­phi­lologe, Friedrich Wie­seler, hat dies im Jahr 1856 getan. Er stellt dabei sieben antike Vari­anten der Sage zum Leben und Sterben des Jüng­lings vor. Der Mythos erzählt einer­seits, dass Narziss geliebte Fami­li­en­an­ge­hörige ver­misst: seine über alles geliebte, kurz zuvor ver­storbene Zwil­lings­schwester wie auch seinen Vater, den Flussgott Kephisos, und seine Mutter, die Quell­nymphe Liriope. Er ver­sucht also, in seinem Spie­gelbild im Wasser diese ihm ähnlich sehenden Ange­hö­rigen fest­zu­halten. Das lässt sich unschwer als ein Ver­zweifeln an ihrer Ver­gäng­lichkeit deuten. Sein Versuch, sich selbst in diesem Spie­gelbild zu ergreifen, zeugt – auf diesem Hin­ter­grund – also nicht von ego­zen­tri­scher Selbst­liebe, sondern ist vielmehr als ver­ständ­liche Trauer über die eigene End­lichkeit erkennbar.

Ande­rer­seits wird erzählt, dass sich Men­schen in Narziss „ver­liebt” haben, deren sexu­elles Begehren er jedoch nicht erwidern mag: Das betrifft die stumpf­sinnige Nymphe Echo und zwei Männer, Ameinias und Ellops. Allen Drei erteilt Narziss eine – völlig berech­tigte – Abfuhr. Echo siecht danach vor sich hin und zergeht. Ameinias nimmt sich vor dem Haus des Narziss das Leben. Eine Göttin „rächt” dar­aufhin das Schicksal von Echo und Ameinias, indem sie Narziss mit töd­licher „Selbst­liebe” verhext. Ellops nimmt die Bestrafung selbst in die Hand und ermordet den Narziss.

Der weise Mythos erzählt uns also, wie man an sozialen Bezie­hungen leiden kann: Man kann ent­weder am Verlust geliebter Ange­hö­riger leiden, oder man kann an der Auf­dring­lichkeit anderer leiden, die eine Bezie­hungs­abfuhr mit psy­chi­scher oder phy­si­scher Gewalt ver­gelten. Das Ver­halten des Narziss ist also das genaue Gegenteil von ego­zen­trisch und rücksichtslos.

Es ist erwiesen, dass die­je­nigen, die den Begriff „Nar­zissmus“ maß­geblich geprägt haben – Sigmund Freud und seine Gefolg­schaft – das Buch von Wie­seler gekannt haben. Sie haben offenbar ganz bewusst den Inhalt des klugen Mythos völlig per­ver­tiert: Narziss, das Opfer von Schicksal und Gewalt, wird zum ego­zen­tri­schen Täter erklärt. Echo, Ameinias und Ellops, die Narziss selbst­ge­fällig und rück­sichtslos bedrängen, seien angeblich die Opfer seiner Quä­lerei. Das Konzept „Nar­zissmus“, das die Wirk­lichkeit des Mythos völlig ver­dreht, hat nun seit über ein­hundert Jahren Bestand. Mit Vehemenz wurde es in die Welt gesetzt. B’nai B’rith macht’s möglich. Und niemand in der psy­cho­lo­gi­schen Wis­sen­schaft vermag noch, dieses wider­sinnige Konzept ernsthaft zu hinterfragen.

Im Gegenteil: In „Die Nar­zissmus-Lüge. Über den Miss­brauch eines eman­zi­pa­to­ri­schen Mythos“ (2021) habe ich fünfzehn populäre Psycho-Rat­geber der letzten zehn Jahre unter­sucht, die nun den Mythos von Narziss erneut aus­giebig erzählen, dass Narziss bei­spiels­weise die Lie­bes­wünsche zweier Männer zurück­ge­wiesen habe. Dies wird zu einem Beleg für das Freudsche Konzept erklärt, dass Narziss bezie­hungs­un­fähig sei! Er sei – darüber hinaus – schuld daran, dass Echo und Ameinias nach seiner Abfuhr so sehr gelitten hatten. Das Stalking-Opfer ist also für das Elend der Stalker ver­ant­wortlich. Narziss müsse sich „unter­lassene Hil­fe­leistung“ – und etliche andere Absur­di­täten mehr – vor­werfen lassen. Das ist massive Mani­pu­lation. Das ist Opfer-Täter-Umkehr. Wer diesen Unsinn „schluckt” – und, wie gesagt, die ent­spre­chenden Rat­geber sind populär –, der oder die lässt sich auf eine völlige Ver­drehung der Wirk­lichkeit ein.

Eine weitere Form der Mani­pu­lation besteht darin, dass einer­seits die größten Böse­wichter der Welt – Hitler, Stalin, Pol Pot, … – zu „Nar­zissten“ erklärt werden, ande­rer­seits behauptet wird, dass wir alle irgendwie „nar­ziss­tisch” seien. Psy­cho­pathen und normale Men­schen werden mit der gleichen „Dia­gnose“ bedacht. Damit werden die Grenzen zwi­schen beiden Zuständen kräftig verwischt.

Diese ver­wir­rende Opfer­be­schul­digung wird skru­pellos in die Praxis umgesetzt:

  • Ein Opfer von „Mobbing“ bekommt von seinem The­ra­peuten mittels des Nar­zissmus-Vor­wurfs vor­ge­halten, an den Schi­kanen an seinem Arbeits­platz selbst schuld zu sein.
  • Eine Gut­ach­terin ver­passt einer gesunden Mutter die Narzissmus-„Diagnose“. Das 8‑jährige Kind wird ihr per Gerichts­be­schluss weg­ge­nommen und in ein Heim gesteckt.
  • Eine in der The­rapie von ihrem (ver­hei­ra­teten) The­ra­peuten ver­führte und kurz darauf fal­len­ge­lassene Frau, die sich dar­aufhin das Leben genommen hat, wird über das Etikett einer „nar­ziss­ti­schen Patho­logie“ ver­höhnt und der Lächer­lichkeit preisgegeben.
  • Julian Assange wird im Januar 2020 von einem Lon­doner Richter mit der Bemerkung: „Sie sind ein Nar­zisst, der nur an seine eigenen Inter­essen denkt!“ in den Kerker geschickt. Mit „Nar­zisst“ wird ein Held der Menschheit will­kürlich zu einem Ver­brecher erklärt.
  • Jüngst war es eine Schlag­zeile wert, dass der Kin­der­psych­iater Michael Win­terhoff seine Schutz­be­foh­lenen mit schwersten Medi­ka­menten behan­delte, obwohl sie z.T. noch nicht einmal irgend­welche Sym­ptome zeigten. Eine Art „Stan­dard­dia­gnose“ zur Recht­fer­tigung seiner „Behandlung“: „Ent­wick­lungs­ver­zö­gerung mit Fixierung auf der nar­ziss­ti­schen Phase“.

So wird also die Weisheit eines alten Mythos per­ver­tiert und zur Mani­pu­lation der Men­schen miss­braucht. Das alte Kul­turgut wird in ekel­hafter Weise geschändet. Und die „Wis­sen­schaft” ist so denkfaul und/oder korrupt, dass sie will­fährig mit­macht. Nicht erst seit „Corona” – sondern bereits seit über ein­hundert Jahren. Das Neu­sprech ist ein­geübt: Ent­scheidung gegen Homo­se­xua­lität ist Bezie­hungs­un­fä­higkeit. Selbst­be­hauptung ist Schuld. Masken bedeuten Freiheit. Kri­tiklose Unter­werfung ist Soli­da­rität. Gegenwehr gegen Unter­drü­ckung ist Selbst­ge­fäl­ligkeit. … Wie lange noch?