Die Konfrontation der beiden Machtsphären in Eurasien wird an den Balkanländern nicht vorbeigehen. Diese Vielvölker-Länder waren schon immer in die kriegerischen Auseinandersetzungen der links und rechts von ihnen liegenden Großmächte hineingezogen worden. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine rumort es auch in Bosnien-Herzegowina, dem Kosovo und Serbien. Moldawien würde vielleicht mitbetroffen. Das bosnische Außenministerium preschte mit der Absicht vor, einen NATO-Beitritt anzustreben. Ebenso äußerte die Präsidentin des Kosovo, Vjosa Osmani, bereits Ende 2020 den Wunsch, der NATO beizutreten. Ein brisantes Geheimdokument, das existiert, aber von allen Seiten abgestritten wird, kündigt eine Neuaufteilung des Balkan an. Was wiederum wichtige, geopolitische Interessen der Machtblöcke tangieren würde.
Was geht da vor sich?
Der bosnische Außenminister, Frau Bisera Turkovic sucht am 2. März 2022, offenbar als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine, direkte Tuchfühlung mit Jens Stoltenberg, um einen NATO-Beitritt zu sondieren. Sie traf sich mit NATO-Offiziellen, um die „Fortschritte in den Beziehungen des Landes zum Bündnis sowie die laufenden politischen Entwicklungen zu erörtern“. Selbstverständlich drückten die NATO-Gesprächspartner ihre „starke Unterstützung“ für die territoriale Integrität“ aus. Beide Seiten betonten, dass Bosnien und Herzegowina sowie der gesamte westliche Balkan eine Schlüsselposition für die Stabilität Europas seien und daher eine kontinuierliche NATO-Präsenz nötig. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erahnen, welchen Effekt das in Moskau hatte.
Da die Grundhaltungen der Menschen in diesem Teil Europas zutiefst geteilt sind, birgt die jetzige, hoch angespannte Situation ungeheuren Sprengstoff. So stehen die bosnischen Serben unter Milorad Dodi, der als Vorsitzender seiner Partei in der Regierung Bosnien-Herzegowinas vertreten ist, klar auf Seiten Russlands. In dem Falle eines NATO-Beitritts, so drohte er, werde es eine Abspaltung des bosnischen Teils geben – was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem neuen Balkankrieg führen würde, in dessen Verlauf sich die beiden Machtblöcke jeweils die ihnen zugetane Seite unter den Nagel reißen würde.
Die Vorstellungen der Frau Außenminister Bisera Turkovic und des Präsidenten des Kosovo, Frau Vjosa Osmani, dass ein NATO-Beitritt einen dauerhaften Frieden in dieser Region bewirken werde, ist schwer nachvollziehbar.
Milorad Dodik, ist ein stark pro-russisch ausgerichteter, einflussreicher Politiker, Chef der bosnisch-serbischen Partei SNSD wird seit langem vom Kreml unterstützt. Er fordert eine neutrale Haltung im Ukraine-Krieg. Er erkennt auch dezidiert die beiden neuen Donbass-Volksrepubliken an. Dagegen unterstützen die beiden anderen Parteien im Parlament Bosnien-Herzegowinas die westliche Position und deren Sanktionen gegen Russland. Diese Konflikte droht die Föderation aus Bosnien-Herzegowina zu zersprengen. Herr Dodik soll schon seit Oktober konkrete Schritte unternommen haben, den prorussischen Landesteil der Republika Srpska abzuspalten, berichtet der österreichische Standard.
Genauso, wie die NATO natürlich jeden mit offenen Armen empfängt, der in dieser Region ihrem Bündnis beitreten möchte, würde Russland eine russlandfreundliche Republik Srpska sofort als neuen Staat anerkennen. Nur um einmal aufzuzeigen, welche Grabenkriege hier schon seit Längerem ausgefochten werden:
„Dodik steht schon seit Jahren unter US-Sanktionen, die im Jänner noch einmal verschärft wurden. Die EU hat jedoch bisher keine Sanktionen gegen ihn erlassen – unter anderem weil Dodik von Ungarn und teilweise von Kroatien unterstützt wird. Angesichts der instabilen Situation wegen des Krieges gegen die Ukraine wird aber nun in Diplomatenkreisen erwogen, schnell gezielte Sanktionen – etwa auch das Sperren von Swift-Daten – durchzuführen. Der Hohe Repräsentant Christian Schmidt könnte zudem Dodik, aber auch Institutionen der Republika Srpska suspendieren, um zu verhindern, dass Schritte zur Ausrufung einer Unabhängigkeit unternommen werden.“
Man fürchtet, dass der Ukraine-Krieg dazu führen könnte, eine Umstrukturierung des westlichen Balkans herbeizuführen, bei der die schon lange existierenden Pläne, ein pro-russisches Großserbien zu errichten, durchaus durchführbar werden. Daher will man nun in Brüssel einen EU-Beitritt von Bosnien-Herzegowina „unverzüglich“ durchziehen. Das ist zwar kein NATO-Beitritt, bindet aber das Land in den Westen ein und würde durch eine großzügige Unterstützung Vorteile genießen dürfen, die das Land von einer Spaltung und Anbindung an Russland abhält. Zwei (mittlerweile) ehemalige „hohe Repräsentanten“ der UN (die als solche mit „weitreichenden administrativen Vollmachten ausgestattet sind) Christian Schwarz-Schilling und Valentin Inzko. Sie haben sich an den EU-Kommissionspräsidenten, Frau von der Leyen gewandt. Sie wollen im Prinzip die NATO und die EU in einen möglichen neuen Balkankonflikt hineinziehen.
Mit dem Friedensabkommen von Dayton und dem Berlin-Plus-Abkommen, die „NATO Vereinbarung zum gemeinsamen militärischen Handeln“, habe die NATO auch etwas in der Hand, mit dem sie im Zweifelsfall einen Einmarsch im Bosnien-Herzegowina durchziehen könne, obwohl Bosnien-Herzegowina weder in der NATO noch (bis jetzt) in der EU ist. Die Herren Inzko und Schwarz-Schilling fordern in einem Brief an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg „den Menschen in Bosnien und Herzegowina nachdrücklich zu versichern, dass sie nicht wie vor 30 Jahren im Stich gelassen werden.”
Die beiden ehemaligen hohen UN-Repräsentanten fordern laut Deutsche Welle noch mehr:
„Aus diesem Grund fordern die beiden ehemaligen Hohen Repräsentanten die Entsendung von NATO-Truppen in den Brcko-Korridor und an die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und Serbien. Dabei berufen sie sich auf Stoltenbergs jüngste Erklärung: “Der Kreml versucht, die NATO und die EU dazu zu zwingen, ihre Partner weniger zu unterstützen. Daher muss unsere gemeinsame Antwort darin bestehen, Länder wie Bosnien und Herzegowina, Moldawien und Georgien noch stärker zu unterstützen, damit sie bei ihren demokratischen Reformen und dem von ihnen gewählten Weg erfolgreich sind.“
Das Fass „Balkan“ ist also aufgemacht worden. Das ist eigentlich keine Vermutung mehr, sondern sehr wahrscheinlich. Schon im November 2021, also deutlich bevor Präsident Putin in die Ukraine einmarschierte, berichteten die Deutschen Wirtschaftsnachrichten, dass eine „Neue Landkarte für den Westbalkan durchgesickert“ sei. Die slowenische Zeitung „Necenzurisano“ hatte diese Karte veröffentlicht, sie ist hier zu sehen.
Das Dokument sei unter der Überschrift „Western Balkans – the Way forward“ (der Westliche Balkan – der Weg nach vorn“) dem Büro von Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates, im Februar zugestellt worden.
Die Einleitung des Dokuments erwähnt ausführlich die “ungelösten nationalen Fragen der Serben, Albaner und Kroaten”, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind. Der/die Autor(en) des Dokuments weisen darauf hin, dass auch nach der Friedensschaffung nach dem Ende der Kriege europäische Perspektiven und die Fortschritte Nordmazedoniens und Montenegros in dieser Richtung in der Region “Schlüsselfragen ungelöst bleiben”. Ein wichtiger Abschnitt des “Non-Papers” sind die vorgeschlagenen “Lösungen” für die zuvor beschriebenen Probleme, die eben zu einer Umgestaltung der Landkarte des Balkans führen.
„Die neue Balkan-Karte soll angeblich vom Büro des slowenischen Premier Janes Janza bereits im Februar 2021 nach Brüssel geschickt worden sein. Das Papier enthüllt Ideen für die Teilung von Bosnien Herzegowina, den Anschluss der Republika Srpska an Serbien und die Vereinigung des Kosovo mit Albanien. ‚Im Kosovo wollen 95 Prozent der Bevölkerung sich mit der ursprünglichen albanischen Nation vereinen. In Albanien ist die Situation ähnlich. Die Grenze zwischen Albanien (einem NATO-Mitglied) und dem Kosovo existiert praktisch nicht‘, heißt es in dem Dokument. (…) Dem serbischen Teil des Kosovo soll nach dem Vorbild Südtirols ein Sonderstatus zuerkannt werden. ‚Die serbische nationale Frage kann weitgehend gelöst werden, indem ein Teil der Republika Srpska an Serbien annektiert wird. In diesem Fall ist Serbien bereit, der Vereinigung des Kosovo und Albaniens zuzustimmen‘, heißt es weiter. Andere Vorschläge, die in dem Dokument präsentiert werden, umfassen die Lösung der Kroatenfrage, der Bosniakenfrage und was die Europäische Union tun muss.“
Geheime Beratungen mit den „Entscheidungsträgern der Region“ seien bereits im Gange, stehe in den Dokumenten, schreibt die DWN. Die Fotos der Dokumente sind auf der Seite ebenfalls zu sehen. Des Weiteren werde im stillen Verfahren die „Unterstützung des Plans mit Entscheidungsträgern in der internationalen Gemeinschaft verifiziert“. Nach Abschluss dieses Verfahrens müsse dann ein „umfassendes Kommunikationsprogramm“ erstellt werden, das der Öffentlichkeit dann präsentiert wird. Erhält man die Zustimmung der internationalen Partner, solle die EU das formalisieren und die Schritte zur Umsetzung des Plans unternehmen.
Außer den Deutschen Wirtschaftsnachrichten wurde in Deutschland nirgends davon berichtet. Die ganze Sache ist auch mysteriös: Der slowenische Außenminister, Herr Anze Logar, erklärte, bei dem Papier handle es sich um „eine Manipulation und den Versuch, den Präsidenten Sloweniens zu kompromittieren“. Das klingt nicht überzeugend, sondern eher nach einem Versuch zu vertuschen, was publik geworden ist.
Die Europäische Kommission leugnete zuerst die Existenz dieser Dokumente, sagte aber dann, diese seien nicht an die Kommission, sondern an den Europäischen Rat gesendet worden. Alle EU-Gremien und Organisationen weigerten sich, den Vorgang zu kommentieren:
„Die führenden europäischen Institutionen, der Rat der EU, die Europäische Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) weigerten sich, die Existenz des Papiers zu kommentieren oder zu bestätigen, meldete die Nachrichtenagentur ‚Beta‘“.
Der Sprecher des Präsidenten des Europäischen Rates antwortete auf die Frage des Brüsseler Portals ‚EURACTIV‘, ob ein solches Dokument auf offiziellem oder inoffiziellem Weg in Michels Büro gelangt sei, mit den Worten: ‚Ich kann dazu keinen Kommentar abgeben.‘“
Die Europäische Kommission und der Gemeinsame Dienst für Außen- und Sicherheitspolitik des EAD unter der Leitung von Josep Borrell sagten, sie wüssten nichts von dem angeblichen Dokument über die Neuziehung der Balkangrenzen.
Während einige regionale Medien behaupten, der slowenische Premierminister selbst habe die Medienvorwürfe zurückgewiesen, berichten andere, dass Jansa das Dokument mehrfach kommentiert, aber auch nie genau bestätigt oder bestritten hat, dass es existiert.“
Später bezeichnete Premierminister Jansa das Papier als „Fake“ und er werde sich nicht mehr dazu äußern.
„Die Präsidentschaftsmitglieder von Bosnien Herzegowina, Željko Komšić und Šefik Džaferović, gaben bekannt, dass der slowenische Präsident Borut Pahor sie am 5. März 2021 inoffiziell gefragt habe, ob eine friedliche Auflösung von Bosnien Herzegowina möglich sei, berichtet ‚N1‘.“
Berichten zufolge soll das Dokument möglicherweise „in Budapest geschrieben“ worden sein. Eine Unterschrift trägt es nicht.
Dass das sogenannte Non-Paper, das angeblich nicht aber irgendwie doch existiert, geht ernsthaft die bekannten Probleme der Region an und bietet Lösungen, die durchaus diskutiert werden könnten. So stellt das Dokument fest:
Zur Vereinigung des Kosovo und Albaniens. „Im Kosovo wollen sich 95 Prozent der Bevölkerung mit der albanischen Nation vereinigen. Ähnlich sieht es in Albanien aus. Die Grenze zwischen Albanien (Albanien ist NATO-Mitglied) und dem Kosovo ist de facto nicht existent. Der serbische Teil des Kosovo würde einen Sonderstatus erhalten — nach dem Vorbild Südtirols.“
Zur Vereinigung eines größeren Teils des Territoriums der„ Republika Srpska“ mit Serbien: „Die serbische nationale Frage kann weitgehend gelöst werden, indem ein Teil der Republika Srpska an Serbien angeschlossen wird. In diesem Fall ist Serbien bereit, der Vereinigung des Kosovo und Albaniens zuzustimmen“.
Zur kroatische nationalen Frage: „Diese könnte gelöst werden, indem die meisten kroatischen Kantone in Bosnien mit Kroatien zusammengelegt werden oder indem dem kroatischen Teil Bosniens (nach dem Vorbild Südtirols) der Sonderstatus eingeräumt wird. (…) Dies würde den Bosniern einen unabhängig funktionierenden Staat geben und die volle Verantwortung dafür zu übernehmen. In einem Referendum würden die Menschen entscheiden, ob sie der EU beitreten oder eine Zukunft außerhalb der EU wollen (nach dem Vorbild der Türkei). Im Moment unterstützt die überwiegende Mehrheit der Bosnier die EU, aber mit diesem türkischen Einfluss und dem radikalen Islam könnte sich die Situation im nächsten Jahrzehnt drastisch verschlechtern.“
(Siehe das abgelichtete Dokument der Reihe nach hier und hier und hier oder auf der DWN-Seite hier.)
Die Seite Balkan Insight zieht bereits im April 2021 aus dem Ganzen das Fazit:
„In einer Situation, in der weder lokale noch internationale Akteure mehr eine Ahnung haben, was sie mit den Balkan-Krankheiten anfangen sollen, ist das umstrittene ‚Non-Paper‘ anscheinend nur der neueste Versuch zu sein, die Bereitschaft der regionaler Führer zu testen, Alternativen wie territoriale Umbildungen in Betracht zu ziehen.
Wie erwartet, löste das Dokument eine Welle von Auf-die-Brust-trommeln, Säbelrasseln und Kriegstrommeln auf dem Balkan aus, als Politiker, Akademiker und Medien leidenschaftlich darüber debattierten, ob eine solche Neuordnung zu neuen ethnischen Konflikten in der Region führen würde oder nicht.
Doch die eine Sache, in der sich die meisten über das angebliche Non-Paper einig sind, ist die Behauptung darin, dass die EU-Erweiterung praktisch tot ist – zumindest für den Balkan – und dass das Verschwinden dieser Perspektive Raum für neue, gefährliche Szenarien eröffnet.“
Heute stehen wir in einer Situation, die in dieser Frage eine hochgefährliche, schwelende Zündschnur an das Pulverfass Balkan gelegt hat: Der Ukraine-Krieg. Dafür, dass die Politiker und Machthaber diesen riesigen Sprengsatz entschärfen werden, spricht nichts.
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