Ukraine – anti­rus­si­scher Kurs des Westens erweist dem Land einen Bärendienst

Ein wei­terer Beitrag aus der Reihe Ex-Sowjet­union heute

Seit 2014 ver­sucht der Westen das ost­eu­ro­päische Land (45 Mill. Ein­wohner) in seine Ein­fluss­sphäre zu bringen. Wenn­gleich poli­tisch “die meiste Arbeit” getan zu sein scheint, zögert die schwä­chelnde EU mit schneller wirt­schaft­licher Inte­gration, welche ein Sub­ven­ti­onsfass ohne Boden auf­machen würde. Der Autor Dr. Viktor Heese schildert in diesem Beitrag aus der Reihe “Ex-Sowjet­union heute” die öko­no­mische Lage des Landes und die Ein­drücke, die er auf seiner Reise in die West­ukraine ein­ge­fangen hat.

West­ukraine – eine Reise nicht nur in die pol­nische Vergangenheit

Die 1.000 Km lange Strecke von Tscher­novitz an der rumä­ni­schen Grenze bis Przemysl liefert vielen Polen eine gewaltige Portion Geschichte, die mit den Orten Chocim, Kami­eniec Podolski, Zbaraz, Krze­mi­eniec, Poc­zajow, Tar­nopol, Lwow/Lemberg ver­bunden ist. Gehörte doch dieser Lan­desteil bis 1772 gut zwei­hun­dert­fünfzig Jahre zum mäch­tigen Polen-Litauen. Bis zum 1. Welt­krieg kam dann das damalige Galizien zu Öster­reich-Ungarn und in der Vor­kriegszeit (1920 ‑1939) mit gut 1/5 der Fläche der heu­tigen Ukraine wieder zu Polen. Die durch das Wolyn-Mas­saker (1943) belas­teten Bezie­hungen zwi­schen beiden Nationen spürt man heute nicht mehr.

Die Ukrainer, von denen eine Million in Polen als Gast­ar­beiter arbeitet, akzep­tieren die wirt­schaftlich-zivi­li­sa­to­risch Höher­stellung der west­lichen Nachbarn – so wie lange Zeit die Polen die Deut­schen. Die Ost­gäste sind genügsam, defi­nieren sich durch Arbeits­fleiß, wollen im Lande nicht bleiben und stellen keine For­de­rungen, wie die Migranten in West­europa. Die West­ukraine wird durch pol­nische Tou­risten stark fre­quen­tiert, der pol­nische Zloty gilt als “harte Währung”, der kleine Grenz­handel und Schmuggel flo­rieren. Für viele Polen sind die Aus­flüge in den Osten Nost­al­gier­eisen, wurden doch 1,5 bis 2 Mil­lionen aus Ost­polen (kresy) nach 1945 ver­trieben, auch wenn es auch damals offi­ziell “umge­siedelt” hieß. Die Wirt­schafts­in­ter­essen bestimmen die Bezie­hungen auf Schritt und Tritt – viele Ukrainer ver­si­chern selbst ihre PkWs in Polen, weil dort die Asse­ku­ranz­leis­tungen besser sind – und das Thema Ver­gan­genheit ist eher Tabu. Denn auch ohne eine geschicht­liche Auf­ar­beitung in den Schul­bü­chern lässt sich friedlich mit­ein­ander leben.

Das tou­ris­tische Potential wird noch zu wenig genutzt

Vor diesem Hin­ter­grund ver­wundert die geringe Präsenz (anderer) west­licher Tou­risten, wo doch die Fülle an Sehens­wür­dig­keiten in der West­ukraine, die Gast­freund­lichkeit der Ein­wohner und last but noch least, das extrem niedrige Preis­niveau förmlich zu einer Pri­vat­visite ein­laden. Auch große Rei­se­ver­an­stalter haben wenige Exkur­sionen in diese Region auf der Agenda. Die Zurück­haltung liegt primär an der anti­rus­si­schen Pro­pa­ganda des Westens und – erst sekundär – an der noch unter­ent­wi­ckelten tou­ris­ti­schen Infra­struktur. Wer möchte schon in einem Land Urlaub machen, in dem “Krieg tobt und der böse Putin vor der Tür steht”? Dieser Slogan ist ein Märchen der poli­tisch kor­rekten West­medien, denn von den angeb­lichen Kriegs­wirren spürt der West­rei­sende weit und breit nichts. Keine Mili­tär­präsenz, keine auf­fällige Pro­pa­ganda auf über­großen Pla­katen. Der durch­schnitt­liche Ukrainer hat andere Sorgen. Er mag sicherlich die Russen ebenso wenig, wie seine hei­mi­schen kor­rupten Eliten, hasst sie aber auch nicht. Wer Rus­sisch ver­steht, wird diese Ein­stellung schnell merken.

Die Bezie­hungen zu Russland und der EU

Auch in Russland ver­dienen drei Mil­lionen Ukrainer ihren Obolus. Der orthodoxe Glaube und enge ver­wandt­schaft­liche Bezie­hungen halten darüber hinaus die Völker zusammen. Wie viele Russen das Land als Tou­risten, wie heute das Bal­tikum und Mit­tel­asien, besuchen, ist schwer fest­zu­stellen, da sie von “ein­hei­mi­schen” Russen nicht zu unter­scheiden sind.

Die Kapi­tal­ver­flech­tungen, die bekanntlich keine Grenzen kennen, sind dem­ge­genüber wohl schon viel enger. Prä­sident und Scho­ko­la­den­magnat Poro­schenko (Roshen) und die Olig­archen aus Kiew und Moskau treiben mit­ein­ander ren­tables Business – das weiß jeder im Thema etwas Fort­ge­schrit­tener. Nach außen und für die braven EU-Steu­er­zahler und NATO-Bürger wird dagegen die Spannung auf­recht­erhalten, denn nur so lassen sich Hilfen und Ver­güns­ti­gungen (Visa­freiheit) begründen. Den großen Wurf mit der Auf­nahme in die Gemein­schaft kann die kri­sen­ge­plagte EU heute (noch?) nicht wagen.

Summa sum­marum erweisen der Westen, ins­be­sondere die EU durch ihre anti­rus­sische Pro­pa­ganda und die “wer­te­ori­en­tierten” Sank­tionen dem Land einen Bären­dienst. Der Handel ist ein­ge­brochen, das Pipeline-Geschäft mit rus­si­schem Gas und Öl durch die Ukraine tot. Das Letzte nicht zuletzt auf Betreiben der USA, die an einer eigener lukra­tiven Ener­gie­ver­sorgung Ost- und West­eu­ropas inter­es­siert sind. Das rus­sisch­feind­liche Polen macht mit den Lie­fe­rungen von Flüs­siggas da den Anfang. Auch die Europäer wollen keine Lie­fer­stö­rungen, wie sie vor der Krim-Krise häufig vor­kamen. Neue Trans­portwege für das rus­sische Gas über die Ostsee (Nord Stream) oder die Türkei (Turk­stream) wurden ins Leben gerufen.

Letzt­endlich wird wohl auch die von China initi­ierte Neue Sei­den­straße zum Zwecke des Ausbaus der Han­dels­be­zie­hungen mit West­europa um das Land einen großen Bogen machen. Viel­leicht endet die Route im rus­si­schen Kertsch auf der Halb­insel Krim?

Haus­ge­machte Krise durch Oligarchien-Selbstherrlichkeit

Die Schuld dafür, daß das roh­stoff­reiche und fruchtbare Agrarland am Dniepr heute noch zu den letzten Armen­häusern Europas zählt, dem “bösen Russland” in die Schuhe schieben zu wollen, wäre eine typisch pseu­do­öko­no­mische These.

Die untere Graphik der Weltbank, die die Ent­wicklung des BIP-Ein­kommens (BIP =Brut­to­in­lands­produkt) pro Kopf zeigt, illus­triert wie die Ukraine spä­testens ab 2006 den Anschluss an die Ver­gleichs­länder Russland und Polen ver­loren hat. Kurz vor dem Fall der Sowjet­union hatten 1990 alle drei Staaten noch ein in etwa ver­gleich­bares Pro-Kopf-Ein­kommen von 6.000 – 8.000 USD. Während Polen durch seine kon­se­quenten markt­wirt­schaft­lichen Reformen und weniger durch den EU-Bei­tritt, der 2005 erfolgte, kome­tenhaft abhob und Russland unter Putin nach dem Zer­falls­er­schei­nungen unter Jelzin ab 2000 diesem Wachs­tumspfad folgte, sta­gniert die von ihren Olig­archen okku­pierte Ukraine auch nach der Krim-Krise in 2014. (Der durch den Ölpreis­verfall und West-Sank­tionen 2014 ein­ge­tretene BIP-Knick wird von Russland nach Exper­ten­schät­zungen spä­testens 2019 aus­ge­glichen). Putin ist unschuldig.

Exkurs: Die Graphik macht ebenso deutlich, dass beim vor­lie­genden Wachs­tums­vor­sprung Polen in einer Gene­ration von etwa 25 Jahren Deutschland BIP-mäßig ein­holen kann. Dieses werden sich die selbst­si­cheren Teu­tonen heute kaum vor­stellen wollen, regiert doch die unbe­liebte PIS das Land an der Weichsel. Die Wirt­schafts­ge­schichte kennt dennoch so manche Fälle, wo das Unvor­stellbare Rea­lität wurde.

Kon­so­li­dierung auf nied­rigem Niveau?

Auch am Dniepr werden langsam wirt­schaft­liche Reformen und eine Kon­so­li­dierung auf nied­rigem Niveau sichtbar. Die Regierung bekam die Inflation und den Wech­selkurs der Lan­des­währung Hrywna eini­ger­maßen in den Griff. Der Wirt­schafts­klima-Indi­kator Doing Business ver­bes­serte sich in den letzten Jahren rasant. Lag doch das Land 2016 “schon” auf Platz 80 (Russland 40, Polen 24, Deutschland 17) nach 147 in 2010. Es wird bald die Ent­wick­lungs­land­stufe (BIP-Pro-Kopf-Ein­kommen von 10.000 USD) über­springen. Ob durch die ver­bes­serte Rechts­si­cherheit infolge der auf­ge­zwun­genen EU-/IWF-Stan­dards aus­län­dische Inves­toren, wie die west­lichen Banken, die die Ukraine zuvor flucht­artig ver­lassen hatten (vgl. alte gtai-Berichte und http://www.tectum-verlag.de/die-un-moglichkeit-russischer-imperialpolitik.html), zurück­kehren, bleibt offen. Dem Land fehlt Kapital und Ver­trauen in einen “Kapi­ta­lismus von unten”, der durch die Bör­sen­lethargie (Graphik links) nicht gerade unter­mauert wird.

Auch mein nicht ganz seriöser aber dennoch bewährter H24-Indi­kator (Bestand­teile: Wech­sel­stuben statt Banken, rund um die Uhr geöffnete Läden, Hähn­chen­buden an jeder Ecke), den ich bei früh­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lungen auf meinen Reisen durch vor­malige kom­mu­nis­ti­schen Länder anwende, zeigt bei der Ukraine langsam nach oben. Geht es in diesem Tempo weiter und werden Reformen bei­be­halten, kann in 10 bis 15 Jahren die Trans­for­mation in eine Markt­wirt­schaft ver­kündet werden.

Das Land besitzt anscheinend auch spe­zielle Hoch­tech­no­logie. Schließlich ent­wi­ckelt es die von der Ex-Sowjet­union geerbte Raketen‑, Rüs­tungs- und Flug­zeug­technik (Antonow-Trans­porter). In den Fach­medien wird neben den (angeb­lichen) Lie­fe­rungen von Rake­ten­tech­no­logie an Nord­korea, ebenso von groß­for­ma­tigen Ver­pach­tungen des frucht­baren Acker­landes berichtet. Weitere Atute und Devi­sen­bringer werden sich nach und nach finden.

Wahr­scheinlich ist zudem, dass es bald wieder eine Wie­der­an­nä­herung an Russland geben wird, weil die EU-Geld­geber selbst daran Interesse haben. Die Brüs­seler-Geld­geber werden wohl dem Kiewer-Regime wegen letzter Trump – Irri­ta­tionen “erlauben” diesen Schritt zu tun.

Dr. Viktor Heese – Fach­buch­autor und Dozent; börsenwissen-für-anfänger.de