Sehr geehrte Interessierte!
Um Ihnen das zeitraubende Lesen meiner langen Überlegungen und Erkenntnisse zu ersparen, setze ich deren Ergebnis an den Anfang. Russland und die Ukraine haben gleichermaßen Völkerrechtsprinzipien auf Ihrer Seite und auch beide haben gegen Völkerrecht verstoßen. Beide haben bestimmte Eskalationsschritte zuerst getan und auch auf die Schritte Ihrer Gegner oft nur reagiert. Ein Urteil über eine Alleinschuld oder Hauptschuld sollte kein Außenstehender sich anmaßen. Der unvermeidbare Streit darüber wäre nur ein Hindernis für einen sofortigen Frieden, der möglich wäre. Doch davon erst zum Schluss.
(von Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof)
Dass diese Erkenntnis für deutsche Leser nicht nachvollziehbar ist, liegt daran, dass unsere deutschen Medien uns seit 2014 ausschließlich ukrainische Nachrichten und Kommentare auf Deutsch servieren, die wir dann für objektive Nachrichten halten. Wichtig für unser eigenes Urteil ist jedoch auch, was die deutschen Medien verschweigen. Selbst Journalisten der deutschen Medienanstalten, die aus Moskau berichten, schauen nur durch die Brillen ihrer Medien. Mich erinnert das an den seinerzeit prominenten Sonderberichterstatter des ZDF Ulrich Tilgner im Irakkrieg. Der verabschiedete sich eines Tages zu meiner damaligen Überraschung mit der Meldung, er arbeite nicht weiter für das ZDF und er wechsele in die Schweiz, weil er nicht mehr hinnehme, dass ihm das Fernsehen vorschreibe, was und wie er aus dem Ausland zu berichten und zu kommentieren habe.
Seit etwa 2012 bis 2014 bekommen wir über die Vorgänge in der Ukraine nur die halbe Wahrheit präsentiert und das mit EU- und USA-gefärbten Kommentaren. Damit laufen wir heute einspurig auf dem Selenskyj-Gleis. Ich habe mir aus eigener Neugier auch schweizer, ungarische, arabische, russische und selbstentlarvende ukrainische Stimmen und Videos angehört und angesehen, die es ja alle auch in deutscher oder englischer Übersetzung gibt. Ich bin damit in einem völlig anderen Narrativ gelandet. Das stelle ich Ihnen jetzt zur eigenen Urteilsbildung vor. Hier weiterzulesen, setzt allerdings etwas Geduld voraus.
Vorgeschichte auf der Krim
Ab etwa 1990 beginnt die Sowjetunion auseinander zu bröckeln. Es beginnt mit den drei kleinen Baltenstaaten und springt auch bald auf die benachbarte Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik über. Letztere ist mit etwa 70 % Ukrainern und knapp 30 % Russen ein ethnisch gemischter Zweivölker-Staat. Die Russischsprachigen leben konzentriert auf der Krim und im Osten der Ukraine. Während der Loslösungsphase der Gesamtukraine vom Juli 1990 bis in den November 1991 versucht auch die zu 77 % russischsprachige Mehrheit der Krimbewohner, sich ihrerseits von der Ukraine zu trennen. Es folgen mehrere Referenden, Abstimmungen und Parlamentsentscheidungen, in denen um den zukünftigen Weg der Krim gerungen wird. Am 20.Januar 1991 z. B. gibt es eine Parlamentsentscheidung, die für die Autonomie der Krim und ihren Verbleib bei Russland stimmt und eine Entscheidung vom Juni 1992, die für den Verbleib der Krim als autonomen Bestandteil der Ukraine steht. Die Lunte für die Abspaltung der Krim von der Ukraine brennt also, seit sich die Ukraine selbständig gemacht hat. Die Frage, die im Raume steht, ist, warum die westliche Welt die Abspaltung der 1,6 Millionen Esten und der 2,7 Millionen Letten von der Sowjetunion 1990 gut geheißen hat und die spätere Loslösung der 2,35 Millionen Krimbewohner von der Ukraine 2014 als Bruch des Völkerrechts verurteilen wird. Ich komme später auf diesen Punkt zurück.
NATO-Osterweiterung
Zeitgleich mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion beginnt auch der Ost-West-Dauerstreit um eine Ausdehnung der NATO nach Osten. Auslöser ist ein amerikanisches mündliches Versprechen des Außenministers Baker gegenüber dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow, als über eine deutsche Wiedervereinigung verhandelt wird.
Nach monatelangem Verhandeln der Siegermächte und beider deutscher Teilstaaten um den zukünftigen Status Deutschlands wird dem vereinten Deutschland von Russland der Verbleib in der NATO zugestanden, was heute unstrittig und vollzogen ist. Und es wird im Gegenzug den Russen zugesichert, dass die NATO ihrerseits auf ihre Ausdehnung nach Osten verzichtet, was heute strittig ist. Am 8. Februar 1990 sagt der amerikanische Außenminister Baker Generalsekretär Gorbatschow zu, dass „die NATO keinen Inch weiter nach Osten vorrückt“. Auf Gorbatschows Rückfrage wiederholt er das noch einmal. Baker bestätigt seine ursprüngliche Aussage einem Journalisten gegenüber später noch einmal, nimmt sie inhaltlich jedoch zurück. Er erklärt: „Ich hatte das weder mit dem Weißen Haus noch mit dem Nationalen Sicherheitsrat abgestimmt. Zwei Tage nach meinen Äußerungen gegenüber Gorbatschow zur NATO-Erweiterung änderten die USA ihre Position. Die Russen wussten das.“
Bakers Zusage wird desungeachtet am 17. Mai 1990 durch den deutschen NATO-Generalsekretär Wörner bestätigt, der – obwohl dazu offensichtlich nicht autorisiert – ebenfalls den Verzicht der NATO auf eine Osterweiterung ausspricht.
Der britische Außenminister Hurd sagt Gorbatschow am 11. April 1990 bei seinem Staatsbesuch in Moskau zu, dass Großbritannien nichts tun werde, was sowjetische Interessen und die sowjetische Würde beeinträchtigt.
Bei einem Besuch Außenminister Genschers bei seinem Amtskollegen Baker gibt Genscher einem Journalisten des 1. Deutschen TV-Programms ein Interview. Er sagt, neben Baker stehend, ins Mikrophon: „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. … Das bezieht sich nicht nur auf die DDR, sondern das gilt ganz generell.“ ( wörtliches Zitat ) Das Interview ist heute noch bei Youtube einzusehen. ( Internet: „Genscher & Baker keine Osterweiterung der NATO“ )
Am 6.März 1991 sagt der damalige Leiter des Genscher-Ministerbüros Jürgen Chrobog gegenüber den politischen Direktoren der Außenämter Englands, Frankreichs und der USA bei Überlegungen zur zukünftigen Sicherheit der osteuropäischen Staaten: „ Wir haben in den 2‑plus-4-Verhandlungen deutlich ( clear ) gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen werden. Wir können deshalb Polen und den Anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.“ Es gibt also zahlreiche mündliche Wiederholungen des westlichen Versprechens, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Dass der damalige Kanzlerberater Teltschik heute behauptet, dass es diese Zusagen nie gegeben hat, will da nichts heißen. Er war bei den hier zitierten mündlichen Versicherungen nie zugegen.
Noch drei Jahre später, im Frühjahr 1993 bestätigt US-Präsident Clinton in einer Rede, dass der Verzicht auf eine Osterweiterung der NATO auch seiner Ansicht entspricht. Im Herbst 1997 kommt dann die Wende. Die in Tschechien geborene US-Außenministerin Madeleine Albright regt damals an und setzt es durch, dass Tschechien, Polen und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen werden.
Heute wird die ursprüngliche Erklärung des US-Außenministers Baker gegenüber dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow nicht als bindend anerkannt, weil sie nicht schriftlich und vertraglich fixiert worden ist und weil Gorbatschow im Verlauf der folgenden Verhandlungen nicht auf die Aufnahme dieser Bedingung in die Verträge bestanden hat. „Nicht-Widerspruch“ gilt diplomatisch und staatsrechtlich als schweigende Zustimmung. Unter Historikern und Staatsrechtlern gibt es aber auch davon abweichende Beurteilungen der Bindekraft von mündlichen Absprachen.
Man sollte trotzdem nicht übersehen, dass es auch zwischen Völkern und Regierungen so etwas wie Vertrauen und Vertrauensschutz gibt. Eine mehrfach mündlich abgegebene Zusicherung durch amerikanische, deutsche und NATO-Politiker, dass die NATO nicht nach Osten erweitert wird und dass man keine einseitigen Vorteile aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen will, haben eine russische Erwartungshaltung erzeugt.
Es folgte am 27. Mai 1997 in Paris die Gründung des NATO-Russland-Rats. In dessen Gründungsakte stehen neben vielen Schwüren zu Frieden und Gemeinsamkeit wieder Grundsätze, die beide Seiten heute für sich auslegen können. Da werden der Schutz der Minderheiten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker beschworen, worauf sich Russland heute in Bezug auf die Krim, Lugansk und Donezk zur eigenen Rechtfertigung beruft. Da werden auch der Gewaltverzicht und die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Staaten als gemeinsame Ziele angeführt, worauf sich heute die Ukraine und die NATO berufen. Entscheidend für die NATO-Osterweiterung ist das in der Gründungsakte festgeschriebene „natürliche ( inherente ) Recht der Staaten, den Weg ( means ) zur eigenen Sicherheit selbst zu wählen.“ Die NATO und die ehemaligen, nicht russischen Warschauer-Pakt-Staaten haben in dieser Formulierung das Zugeständnis des russischen Staatspräsidenten Jelzin zur Osterweiterung der NATO gesehen, obwohl Jelzin in seinem Schlusswort zur Unterzeichnungskonferenz nachgeschoben hat, dass er eine Osterweiterung der NATO ablehnen würde. Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei.
Es ist nachvollziehbar, dass sich russische Spitzenpolitiker – zuerst Jelzin und dann Putin – hereingelegt und über den Tisch gezogen fühlen. Ganz abgesehen davon hat die ehemalige Sowjetunion ihre Truppen aus Mitteleuropa abgezogen während die USA ihre Truppen weiter nach Osten vorgeschoben haben. Russland hat die Beitritte von zehn Staaten in die NATO mit Missfallen akzeptiert, aber dann hat Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 14.2.2007 erklärt, wo für Russland „Schluss“ sein muss. Er hat erklärt, dass mit der Erweiterung der NATO bis an Russlands Westgrenze eine Rote Linie überschritten ist. Als die Linie 2022 überschritten werden sollte, hat er gehandelt.
Putins Anfang
Ende 1999 wird Wladimir Putin Staatspräsident der Russischen Föderation.
Zunächst versucht er eine Annäherung an den „Westen“ und bemüht sich, die Russische Föderation mit der EU und der NATO zu vernetzen. Er bringt im Jahr 2000 beim Abschiedsbesuch von Bill Clinton in Moskau eine Angliederung Russlands an die NATO ins Gespräch. Keine positive Resonanz. Er schlägt in drei in Deutschland gehaltenen Reden 2001, 2007 und 2010 eine Freihandelszone der EU mit Russland vor und scheitert damit. Er versucht 2002, als die USA den ABM Vertrag mit Russland einseitig kündigen, mit den Amerikanern ein einvernehmliches Vorgehen dabei zu verhandeln. Er kassiert eine Abfuhr. Das Ende der Annäherungsversuche kommt 2008 mit dem Kaukasuskrieg in Georgien, als die kleinen Völker der Südosseten und der Abchasen sich nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker vom benachbarten Staat der Georgier abspalten. Die USA unterstützen hierbei die Georgier und Russland die Südosseten und die Abchasen.
Ukraine und EU
Die Ukraine schließt im November 2011 ein Freihandelsabkommen mit Russland und verhandelt 2012 und 13 mit der EU über ein Assoziierungsabkommen. Sie versucht, sich den einen Markt zu erschließen, ohne den anderen zu verlieren. Die ukrainische Regierung unter Ministerpräsident Asarow hat dabei die Absicht, die EU-Annäherung mit der Mitgliedschaft in Russlands Freihandelszone zu verbinden, was die Russen nach anfänglichem Widerstand bereit sind zu verhandeln, was die EU-Kommission unter Kommissionspräsident Barroso aber rundheraus ablehnt. Die EU versucht de facto, einen „Alleinvertretungsanspruch für den zukünftigen Außenhandel der Ukraine“ durchzusetzen. Damit war Janukowytschs ursprüngliche Absicht gescheitert, die Ukraine wirtschaftlich und politisch als Brücke zwischen Ost und West zu etablierten.
Als die Verhandlungen mit der EU in ihre „heiße Phase“ treten, befürchtet Ukraine´s Staatspräsident Janukowytsch realistisch, dass die Wirtschaft der Ukraine bei der Anpassung an die EU deren Konkurrenzdruck wirtschaftlich und technisch nicht gewachsen sein würde, wie zuvor die DDR der BRD. Er fordert eine 160 Milliarden Euro umfassende Anpassungs-Beihilfe von der EU und die EU lehnt ab, was verständlich ist.
Ein zweites Hindernis ist, dass sich die Ukraine selbst den Westimporten öffnen soll, ihr selbst aber nur minimale Ausfuhrquoten zugestanden werden. Die Ukraine bekommt bei Verlust des Russland-Marktes für Ihre jährlich 30 Millionen Tonnen Export-Weizen nur eine 200.00 Tonnen Ausfuhrquote in die EU zugestanden. Das sind 0,7 % des Weizens, auf dessen Ausfuhr und die Einnahmen die Ukraine angewiesen ist. Bei Fleischwaren sind es 2% und bei Stahlexporten ähnlich wenig. Daraufhin legt Janukowytsch den Assoziierungsvertrag erst einmal für ein Jahr auf Eis, um Zeit für Neuverhandlungen zu haben. EU Kommissionspräsident Barroso droht Janukowytsch unverhohlen, „Wenn Sie nicht unterschreiben, tut es der nächste Präsident“ ( als wüsste er, dass ein Machtwechsel bereits in Vorbereitung ist. ) Barrosos Anmaßung ist nach der früher unglücklichen Staatszuordnung der Krim das zweite Samenkorn, das später als Ukraine-Krieg aufgeht. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat den Versuch der EU-Kommission, „die Ukraine vor die scheinbare Wahl zu stellen, sich zwischen West und Ost zu entscheiden“ damals scharf verurteilt und als größenwahnsinnig bezeichnet. Er hat dabei 2014 schon gewarnt, dass solch´ Verhalten zu einem Kriege führen kann.
Der Meinungsdruck in der Ukraine für einen wirtschaftlichen Westanschluss und eine spätere EU-Mitgliedschaft ist aber inzwischen in der ukrainischen Bevölkerung so stark, dass Janukowytsch diese Entscheidung nicht übersteht. Er wird gestürzt, und es kommt zum sogenannten Maidan-Aufstand.
Teil 2–3 finden Sie auf der Seite von Maria Schneider “bei Schneider”: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4.
Sämtliche Bilder wurden von Maria Schneider eingefügt.
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