LibeÂraÂlismus basiert auf Rechten, die jedem MenÂschen allein kraft dessen zukommen, dass er denkt und handelt. Diese Rechte sind Grund- oder MenÂschenÂrechte, weil sie an keine weitere Bedingung gebunden sind. DemÂentspreÂchend sind es lediglich Rechte der Abwehr gegen ungeÂwollte EinÂgriffe in die eigene LebensÂfĂźhrung, und zwar Rechte der Abwehr gegen ĂberÂgriffe seitens anderer MenÂschen. Wenn es um Rechte der Abwehr gegenĂźber StaatsÂorÂganen geht, dann nur, um die Gefahr abzuÂwenden, dass der Staat vom Wege des RechtsÂstaates abweicht. Denn insofern es eine Aufgabe fĂźr den Staat gibt, besteht diese darin, die Rechte von jedem MenÂschen auf seinem Gebiet durchÂzuÂsetzen. Deshalb ist der liberale Staat ein âNachtÂwächÂterÂstaatâ: ein MiniÂmalÂstaat, der sich auf die Sicherung von GrundÂrechten beschränkt.
Um zwei gänÂgigen MissÂverÂständÂnissen vorÂzuÂbeugen: (1) Der LibeÂraÂlismus bezieht sich nicht auf isoÂlierte IndiÂviduen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. VĂśllig auĂerhalb sozialer BezieÂhungen ist weder Denken noch Handeln mĂśglich. Die Frage ist, ob der Mensch, der essenÂtiell ein soziales Wesen ist, notÂwenÂdiÂgerÂweise auch ein poliÂtiÂsches, Staaten bilÂdendes Wesen ist oder sein soll. (2) Die sozialen BezieÂhungen sind immer so, dass sie sowohl komÂpeÂtitive EleÂmente umfassen â den WettÂbewerb im freien Markt von Angebot und NachÂfrage â als auch genosÂsenÂschaftÂliche EleÂmente: die wechÂselÂseitige UnterÂstĂźtzung ohne VerÂpflichtung zum AusÂgleich von Leistung und GegenÂleistung in GemeinÂschaften wie Familien, Freunden, VerÂeinen, VerÂbänden (z.B. GewerkÂschaften), reliÂgiĂśsen GemeinÂschaften usw. FĂźr diese UnterÂstĂźtzung ist kein Staat erforÂderlich. Im Gegenteil: AnsprĂźche zu erheben und mit staatÂlicher Gewalt durchÂzuÂsetzen fĂźhrt lediglich dazu, dass die freiÂwilÂligen sozialen GemeinÂschaften zurĂźckÂgeÂdrängt werden und einige MenÂschen ihre AnsprĂźche mit Hilfe staatÂlichen Zwangs auf Kosten anderer durchÂsetzen. Denn es gibt kein Wissen Ăźber eine moraÂlisch gute, allÂgeÂmeine VerÂteilung von GĂźtern und wie diese durch den Einsatz von Zwang erreicht werden kĂśnnte.
KennÂzeichen des Staates ist das GewaltÂmoÂnopol auf einem bestimmten Gebiet: Seine Organe entÂscheiden darĂźber, unter welchen Umständen der Einsatz von Zwang zugeÂlassen ist, und setzen die entÂspreÂchenden EntÂscheiÂdungen durch. Bei der StaatsÂbeÂgrĂźndung geht es um die RechtÂferÂtigung von Zwang, der ohne Konsens ausÂgeĂźbt wird. Ob der Zwang durch MehrÂheitsÂbeÂschlĂźsse bewilligt ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Eine Mehrheit hat ebenso wenig das Recht, ihre BeschlĂźsse einer MinÂderheit aufÂzuÂzwingen, wie eine einÂzelne Person dieses Recht in Bezug auf andere PerÂsonen hat.
Die Freiheit des einen hat ihre Grenze dort, wo sie in die Freiheit des anderen ĂźberÂgreift. Immanuel Kant sagt:
Daraus folgt die klasÂsisch liberale BegrĂźndung des repuÂbliÂkaÂniÂschen RechtsÂstaates: Der Staat setzt Recht durch, welches sich darauf beschränkt, die Freiheit eines jeden mit der Freiheit jedes anderen zusamÂmenÂzuÂfĂźhren durch Gesetze, die fĂźr alle in gleicher Weise gelten. RepuÂbliÂkaÂnisch ist der RechtsÂstaat dann, wenn die BĂźrger an der FestÂlegung der diesÂbeÂzĂźgÂlichen Gesetze teilÂhaben, zum BeiÂspiel durch Wahlen und AbstimÂmungen. Recht beschränkt sich darauf, die GrundÂrechte jeder Person durchÂzuÂsetzen. Es hat nichts mit AnsprĂźchen zur BefĂśrÂderung von WohlÂfahrt zu tun.
LiberÂtaÂriaÂnismus mit Staat: vom ultÂraÂmiÂniÂmalen zum miniÂmalen Staat
Der LiberÂtaÂriaÂnismus unterÂscheidet sich dadurch vom klasÂsiÂschen LibeÂraÂlismus, dass er die norÂmative StaatsÂbeÂgrĂźndung durch eine zweckÂraÂtionale ersetzt. Robert Nozick arguÂmenÂtiert in seinem Buch Anarchie, Staat, Utopia (1974) â dem phiÂloÂsoÂphiÂschen StanÂdardwerk zum LiberÂtaÂriaÂnismus â so: Jeder Mensch hat ein Interesse an Schutz von Leib, Leben und Eigentum. Damit gibt es einen Markt fĂźr SicherÂheitsÂagenÂturen, die entÂspreÂchende DienstÂleisÂtungen anbieten. KonÂkurrenz verÂschieÂdener solcher AgenÂturen auf demÂselben Gebiet wäre konÂtraÂproÂduktiv, ebenso wie es zum BeiÂspiel KonÂkurrenz verÂschieÂdener SchieÂnenÂnetzÂwerke mit unterÂschiedÂlichen SpurÂweiten auf demÂselben Gebiet wäre. Deshalb wird sich jeweils eine Agentur etaÂblieren, die dann de facto eine MonoÂpolÂstellung fĂźr das Angebot von SicherÂheitsÂdienstÂleisÂtungen auf einem Gebiet innehat.
Gemäà Nozick erfolgt dadurch der Ăbergang zum ultÂraÂmiÂniÂmalen Staat: Eine Agentur gewährÂleistet Sicherheit auf einem Gebiet fĂźr alle, die einen Vertrag mit ihr abgeÂschlossen haben. Um ihre Aufgabe effektiv zu erfĂźllen, kann die Agentur nicht zulassen, dass PerÂsonen auf ihrem Gebiet, die keinen Vertrag mit ihr abgeÂschlossen haben, SelbstÂjustiz zur DurchÂsetzung ihrer Rechte ausĂźben. Damit hat die Agentur de facto ein GewaltÂmoÂnopol auf einem Gebiet: Sie hindert gegeÂbeÂnenÂfalls eine jede Person daran, durch Anwendung von Gewalt ihre Rechte durchÂzuÂsetzen. Das hat zur KonÂseÂquenz, dass die Agentur die GewährÂleistung von Sicherheit dann auch auf alle erstreckt, die sich in dem Gebiet aufÂhalten. Damit ist aus dem ultÂraÂmiÂniÂmalen ein MiniÂmalÂstaat geworden, der sich in seinen BefugÂnissen nicht von dem RechtsÂstaat des klasÂsiÂschen LibeÂraÂlismus unterscheidet.
LiberÂtaÂriaÂnismus ohne Staat: WettÂbewerb von Sicherheitsdienstleistern
Ist dem aber wirklich so? SchieÂnenÂnetzÂwerke verÂschieÂdener SpurÂweite, die auf dem gleichen TerÂriÂtorium in KonÂkurrenz zueinÂander treten, ergeben keinen Sinn. Aber WettÂbewerb zwiÂschen Betreibern eines Schienen- und eines StraÂĂenÂnetzÂwerkes (und gegeÂbeÂnenÂfalls eines Luft- und eines SeeÂweÂgeÂnetzÂwerkes), um von A nach B zu gelangen, ergibt Sinn. Das heiĂt: Man kann den Schritt zum Monopol einer SicherÂheitsÂagentur bestreiten. ZweckÂraÂtional in Bezug auf den Schutz vor ĂberÂgriffen gegen Leib, Leben und Eigentum kĂśnnte auch die KonÂkurrenz mehÂrerer AgenÂturen sein, die diesÂbeÂzĂźglich verÂschieÂdenÂartige DienstÂleisÂtungen anbieten â sofern man plauÂsibel machen kann, dass das Resultat nicht die rechtslose Anwendung von Gewalt unter diesen AgenÂturen wäre.
Dann findet der Schritt zum Staat nicht statt, weil es kein GewaltÂmoÂnopol gibt. Das ist der anarÂchische LiberÂtaÂriaÂnismus, der auch als Anarcho-KapiÂtaÂlismus bekannt ist. Diese Bezeichnung ist allerÂdings missÂverÂständlich: Es geht nicht um komÂpeÂtitive vs. genosÂsenÂschaftÂliche soziale BezieÂhungen, sondern darum, ob der Schritt zum GewaltÂmoÂnopol, das einen Staat kennÂzeichnet, zweckÂraÂtional ist.
In jedem Fall kann man im LibeÂraÂlismus welcher Prägung auch immer nur einen MiniÂmalÂstaat begrĂźnden, der GrundÂrechte durchsetzt.
Ob der LiberÂtaÂriaÂnismus staatsÂbeÂgrĂźndend ist oder nicht, ist also eine rein zweckÂraÂtionale Frage wirkÂsamen Schutzes: Aus VerÂträgen zu SicherÂheitsÂdienstÂleisÂtungen kann de facto, ohne dass dieses als solches beabÂsichtigt ist, der Ăbergang zu einem GewaltÂmoÂnopol erfolgen. DemÂgeÂgenĂźber steht im klasÂsiÂschen LibeÂraÂlismus norÂmativ der RechtsÂstaat als Wert an sich selbst, weil er dasÂjenige ist, was die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen verÂeinbar macht. In jedem Fall kann man im LibeÂraÂlismus welcher Prägung auch immer nur einen MiniÂmalÂstaat begrĂźnden, der GrundÂrechte durchsetzt.
Keine rein akaÂdeÂmische Diskussion
Die Staaten, die wir kennen, sind meiÂlenweit von einem MiniÂmalÂstaat entÂfernt. Insofern mag die UnterÂscheidung zwiÂschen verÂschieÂdenen libeÂralen StaatsÂbeÂgrĂźnÂdungen als eine rein akaÂdeÂmische AngeÂleÂgenheit erscheinen. In der Tat geht es hier um eine konÂtraÂfakÂtische StaatsÂbeÂgrĂźndung, die folÂgende Frage zu beantÂworten verÂsucht: Ist es ausÂgehend von den GrundÂrechten der MenÂschen mĂśglich, einen Staat zu begrĂźnden, der diese Rechte nicht verÂletzt, obwohl die bestehenden Staaten dieses â allerÂdings in sehr unterÂschiedÂlichem AusmaĂe â tun? Die Antwort auf diese Frage kann dann als LeitÂfaden fĂźr VorÂschläge zur VerÂbesÂserung bestehender Staaten dienen.[2]
Wir erleben in Europa und Amerika zur Zeit den Ăbergang von der Moderne, die sich am repuÂbliÂkaÂniÂschen RechtsÂstaat der AufÂklärung zumindest oriÂenÂtierte, zur real exisÂtieÂrenden PostÂmoÂderne.[3] Seit 1971, als PräÂsident Nixon die DefiÂnition des US-Dollar durch eine bestimmte Menge Gold (damals 1/35 einer Feinunze) ausÂsetzte, kĂśnnen unsere Staaten die BefrieÂdigung immer weiter ausÂufernder AnsprĂźche, die sie selbst zur AusÂweitung ihrer Macht herÂvorÂrufen, nur durch unbeÂgrenztes Drucken von fiat Geld aufÂrecht erhalten. Dessen freiÂwillige Akzeptanz hängt an der Illusion, dass die KaufÂkraft dieses Geldes durch irgendÂetwas anderes als die Waffen des Staates gedeckt wäre. Je mehr jedoch ein Staat dieses Instrument einÂsetzt, desto grĂśĂer wird die WahrÂscheinÂlichkeit, dass die Illusion des fiat Geldes aufÂfliegt und infolÂgeÂdessen der Staat seine WohlÂfahrtsÂverÂsprechen nicht mehr erfĂźllen kann. Dann wären wir auf den WohlÂstand angeÂwiesen, der im freien Markt durch WettÂbewerb geschaffen wird, und auf das soziale Netz, das genosÂsenÂschaftlich ausÂgeÂrichtete GemeinÂschaften gewähren.
Man muss postÂfakÂtiÂschen, kolÂlekÂtiÂvisÂtiÂschen NarÂraÂtiven folgen, um das vom Staat gewährt zu bekommen, was einst GrundÂrechte waren âŚ
Mit dem Corona-Regime wird die real exisÂtieÂrende PostÂmoÂderne zunehmend totaÂlitär: Sie erfasst nunmehr alle Bereiche des ZusamÂmenÂlebens. Man muss postÂfakÂtiÂschen, kolÂlekÂtiÂvisÂtiÂschen NarÂraÂtiven folgen, um das vom Staat gewährt zu bekommen, was einst GrundÂrechte waren, die der Staat schĂźtzen sollte. Damit handelt es sich allerÂdings nicht mehr um GrundÂrechte, sondern um BelohÂnungen fĂźr KonÂforÂmität. Wie inzwiÂschen deutlich wird, muss man nahtlos von einem NarÂrativ zum nächsten ĂźberÂgehen â von Corona zu Klima zu Krieg und was sonst noch kommen mag â, um den fĂźr alles FĂźrÂsorge traÂgenden Staat aufÂrecht zu erhalten. Je mehr solcher NarÂrative man aber aufÂfährt und je spĂźrÂbarer ihre zerÂstĂśÂreÂriÂschen KonÂseÂquenzen werden, desto grĂśĂer wird die WahrÂscheinÂlichkeit, dass mehr MenÂschen dieses Blendwerk durchÂschauen und sehen, dass der Kaiser nackt ist: Diese NarÂrative sind lediglich ein Bestreben, die MenÂschen zu entÂmĂźnÂdigen und ihre LebensÂformen zu zerÂstĂśren, um Macht Ăźber sie ausĂźben zu kĂśnnen.
Damit wird aus der akaÂdeÂmiÂschen eine poliÂtische Frage: KĂśnnen wir den Weg der Moderne mit dem repuÂbliÂkaÂniÂschen RechtsÂstaat wieder aufÂnehmen? Oder ist dieser Weg durch die real exisÂtieÂrende PostÂmoÂderne, die wir seit dem fiat Geld und dem Corona-KolÂlekÂtiÂvismus erleben, defiÂnitiv beendet worden? Wäre dann eine libertäre Utopie (Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 3. Teil) eine reelle AlterÂnative zu der DysÂtopie eines weltÂumÂspanÂnenden Sozialkreditsystems?
[1] VorÂlesung NaturÂrecht, NachÂschrift FeyerÂabend (1784), in Kants gesamÂmelte Schriften, Hg. KĂśniglich PreuÂĂische AkaÂdemie der WisÂsenÂschaften, Band 27.2, S. 1320â21, OrthoÂgrafie angepasst.
[2] Siehe dazu R. M. Bader, âCounÂterÂfactual jusÂtiÂfiÂcaÂtions of the stateâ, Oxford Studies in PoliÂtical PhiÂloÂsophy 3 (2017), S. 101â131.
[3] Siehe dazu M. Esfeld, âCorona-Politik: Die real exisÂtieÂrende PostÂmoÂderneâ, in K. Beck, A. Kley, P. Rohner und P. VerÂnazza (Hgg.), Der Corona-Elefant, ZĂźrich: Versus 2022, S. 245â262, preÂprint https://www.philosophie.ch/artikel/2021/esfeld-2020â11-24
âââââââââââââ
Michael Esfeld, geboren 1966 in Berlin (West), ist seit 2002 ProÂfessor fĂźr WisÂsenÂschaftsÂphiÂloÂsophie an der UniÂverÂsität LauÂsanne. Seit 2010 ist er MitÂglied der LeoÂpoldina, Deutsche Nationale AkaÂdemie der WisÂsenÂschaften; 2013 ForÂschungsÂpreis der AlexÂander-von-HumÂboldt-Stiftung; seit 2021 MitÂglied im AkaÂdeÂmiÂschen Beirat des LibeÂralen Instituts der Schweiz. Letzte BuchÂverÂĂśfÂfentÂliÂchungen: âWisÂsenÂschaft und Freiheit. Das naturÂwisÂsenÂschaftÂliche Weltbild und der Status von PerÂsonenâ (Suhrkamp 2019); âUnd die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der MissÂbrauch der WisÂsenÂschaft unsere offene GesellÂschaft bedrohenâ (mit Christoph LĂźtge, riva 2021).
Quelle: misesde.org