Der Wan­der­elefant im Raum: 25% der Viert­klässler können nicht lesen – wer sind sie?

Man muss die IGLU-Studie, mit der die Lese­kom­petenz von Schülern der vierten Klasse in Grund­schulen im Jahr 2021 erhoben wurde, die heute ver­öf­fent­licht wurde, gar nicht lesen, um zu wissen, was darin stehen wird:

  • Die Lese­kom­petenz ist geringer geworden ✔️
  • Soziale Dis­pa­ri­täten bestehen weiter fort: je höher das formale Bil­dungs­niveau der Eltern, desto besser die Lese­kom­petenz [Lesen, Schreiben, Ver­stehen] der Kinder ✔️
  • Die Anzahl der Bücher in einem Haushalt steht in einem posi­tiven Zusam­menhang mit der Lese­kom­petenz der zuge­hö­rigen Kinder ✔️
  • Moti­vation zu lesen wirkt sich positiv auf die Lese­kom­petenz aus ✔️
  • Mädchen haben eine höhere Lese­kom­petenz als Jungen ✔️

Wir haben die gut 260 Seiten des neu­esten IGLU-Berichts für Sie zusam­me­ge­strichen auf das, von dem man schon vorher wusste, dass es darin stehen würde. Und in der Tat, alles, was wir schon vorher wussten, findet sich auf den rund 260 Seiten eines nur mit Mühe, viel Geduld und noch viel mehr gutem Willen les­baren, in Teilen les­baren Berichts. Wenn Sie ihn lesen wollen, sie finden ihn hier.

Indes inter­es­siert uns einmal mehr, was man im Bericht nicht findet und was in dem, was Medien zum Bericht schreiben, nicht zu finden ist. Z.B. die Tages­schau, die unter der Schlag­zeile “Jeder vierte Viert­klässler kann nicht richtig lesen“, eine Schlag­zeile, die belegt, dass min­destens ein Mit­glied der Tages­schau Redaktion in der Lage ist, einen Pro­zentwert in ganze Zahlen umzu­rechnen, jammert: Seit 2001 [seither wird IGLU im Vier­jah­restakt durch­ge­führt] können – im Anteil – immer weniger Schüler lesen, erreichen nicht einmal ein Min­destmaß an Lese­kom­petenz, so dass man sie als Analpha­beten ansehen muss. Ins­gesamt erreichen Schüler in Deutschland 524 Punkte, Gesamt­punktzahl, die erreicht werden kann, bei der ARD unbe­kannt, das sind weniger als 2001, da waren es 539 Punkte und weniger als 2016, da waren es 537 Punkte.

Zunächst zur Auf­lösung der Preis­frage: Wie viele Punkte sind in IGLU erreichbar?
Es sind 800. 524 Punkte sind somit 65,5% vom Erfolg.

Warum sind 25% der Grund­schüler nicht in der Lage, zu lesen und das Gelesene zu verstehen?
Die ARD hat Antworten:

“Die IGLU-Studie führt für das sin­kende Leis­tungs­niveau beim Lesen eben­falls weitere Ursachen an: etwa die hete­ro­gener wer­denden Klassen. Dadurch würde[n] Lehr­kräfte vor größere und viel­fäl­tigere Her­aus­for­de­rungen gestellt.

Eines hat sich in den ver­gan­genen 20 Jahren aber kaum ver­ändert, so ein wei­teres Fazit der Studie: die soge­nannten sozialen Dis­pa­ri­täten in der Lese­kom­petenz. Was bedeutet, dass Kinder aus “sozio­öko­no­misch benach­tei­ligten Familien” häu­figer Schwächen beim Lesen aufweisen.”

Hete­rogene Klassen und Kinder aus Familien von an- bzw. unge­lernten Arbeitern. Das ganze Ausmaß des Pro­blems. Für die ARD.

Auch die Autoren des IGLU-Berichts sehen keinen Anlass, jen­seits von Fest­stel­lungen, dass sich der Ein­flusss sozialer Unter­schiede auf den Bil­dungs­erfolg nicht ver­bessert hat und jen­seits von Rezepten zur Ver­bes­serung der Situation, die so out­landish, so weit jen­seits dessen, was man mit Mach­barkeit benennen kann, ange­siedelt sind, dass man sich fragt, wie der Elfen­beinturm der Autoren über­haupt von Daten aus der Rea­lität pene­triert werden konnte, den Ele­fanten im Raum zu benennen. So emp­fehlen die Autoren eine besondere För­derung für Kinder mit beson­deren Lern­pro­blemen, eine Ein­zel­be­treuung in homo­genen Gruppen, den Ein­bezug des Eltern­hauses, die Wei­ter­bildung des Lehr­per­sonals und, last but not least, im Unter­richt mehr zu lesen. Seit 2001 haben wir jeden IGLU-Bericht gelesen und in jedem IGLU-Bericht haben wir gelesen, was wir gerade wie­der­ge­geben haben.

Ermüdend.

Und so absurd, denn die eigent­lichen Pro­bleme, mit denen deutsche Grund­schulen, Schüler wie Lehrer, kon­fron­tiert sind, sind nicht die Pro­bleme, die hier ange­sprochen werden. Das sind Schein­pro­bleme, hinter denen sich ein Haupt­problem ver­birgt, das mitt­ler­weile selbst die Benach­tei­ligung von Jungen in den femi­ni­sierten Schulen der Mit­tel­schicht über­lagert und das für Ein­ge­weihte seinen Nie­der­schlag in der fol­genden, ver­schämten IGLU-Bericht-For­mu­lierung gefunden hat:

“Schließlich muss mit Blick auf die demo­grafsche Ent­wicklung einer zuneh­menden sprach­lichen Diver­sität in Familien eine sys­te­ma­tische, wirksame Sprach­för­derung ein zen­trales Ziel der Bemü­hungen im deut­schen Bil­dungs­system der nächsten Jahre und Jahr­zehnte sein.”

Arbeiten wir das Problem sys­te­ma­tisch auf, und zwar anhand von fünf Abbil­dungen. Die erste zeigt deutsche Schüler vierter Klassen im Mit­telfeld der natio­nalen Ver­teilung all der Länder, die an IGLU [oder PIRLS] teil­ge­nommen haben. Wir haben die Tabelle gekürzt. Wer sie in voller Länge sehen will, der kann das hier tun.

Was die Plat­zierung deut­scher Schüler, direkt unter dem Durch­schnitt der teil­neh­menden Länder der OECD und dem der teil­neh­menden Länder der EU angeht, so hat sich seit 2016 über­haupt nichts ver­ändert. 524 Punkte [von 800], statt damals 537 Punkte ergeben den­selben Platz.

Nehmen wir das, was die ARD und die Autoren des Berichts als bare Münze ver­kaufen wollen, zum Aus­gangs­punkt: Soziale Ungleichheit und “hete­ro­gener wer­dende Klassen”, die irgendwie mit einer “sprach­lichen Diver­sität in Familien” zusam­men­hängen, sind Ursache des schlechten Abschneidens und davon, dass 25% der Schüler nicht lesen und ver­stehen können.

Wir benö­tigen vier Abbil­dungen, um das Ver­heim­lichte zutage zu befördern.

Beginnen wir mit dem, was als “soziale Dis­pa­rität” bezeichnet wird:


Die mit M über­schriebene Spalte für das Jahr 2021 zeigt, dass die Kinder aus Haus­halten von “un- und ange­lernten Arbeitern”, die einzige Gruppe bilden, die mit 507 Punkten unter dem Durch­schnitt für Deutschland, 524 Punkten, liegt. Diese Gruppe ist auch die einzige Gruppe, für die sich – neben Kindern aus Familien von Rou­ti­ne­dienst­leistern [das sind in der OECD low value adding ser­vices, also Leis­tungen, die keinen Mehrwert erbringen, etwa Ver­wal­tungs­an­ge­stellte, Buch­halter, Steu­er­be­rater oder Rechts­be­rater, sofern sie nicht selb­ständig ange­stellt sind] – eine rele­vante Ver­än­derung, ein rele­vanter Rückgang der erreichten Punk­tezahl zwi­schen 2001 und 2021 ergibt.

Wir inter­es­sieren uns für die “un- und ange­lernten Arbeiter”, deren Kinder, wie die fol­gende Abbildung zeigt, die Gesamt­punk­tezahl am meisten redu­ziern, um 14,5 Punkte, gefolgt vom – da ist der Elefant im Raum: Migra­ti­ons­hin­ter­grund [-9,3 Punkte]. Wir inter­pre­tieren das Modell, das die meiste Varianz erklärt, also Modell 3. Es weist eine weitere Beson­derheit auf: Die erklärte Varianz zwi­schen Klassen ist mit 82,4% deutlich höher als in anderen Modellen und kurz vor voll­stän­diger Erklärung ange­siedelt. Mit anderen Worten: Die Zusam­men­setzung der Schul­klassen ist die wich­tigste Variable, wenn es um die Erklärung von Lese­kom­petenz geht und je mehr Migranten in einer Schul­klasse sind, desto hete­ro­gener, in den Worten der ARD-Tages­schau, die Schü­ler­schaft und desto geringer die Lesekompetenz.

 

Zeit, den selt­samen Satz aus dem Bericht auf­zu­klären, den wir oben zitiert haben:

“Schließlich muss mit Blick auf die demo­grafsche Ent­wicklung einer zuneh­menden sprach­lichen Diver­sität in Familien eine sys­te­ma­tische, wirksame Sprach­för­derung ein zen­trales Ziel der Bemü­hungen im deut­schen Bil­dungs­system der nächsten Jahre und Jahr­zehnte sein.”

Was es damit auf sich hat, zeigt die fol­gende Abbildung:

 

Schüler, die zuhause die Test­sprache, in Deutschland ist das nach wie vor Deutsch, nicht oder nur manchmal sprechen, schneiden in der Lese­kom­petenz deutlich schlechter ab. Sie erreichen 496 Punkte von 800 mög­lichen, während Schüler, die zuhause “immer oder fast immer” die Test­sprache sprechen mit 537 Punkten über dem Gesamtwert für Deutschland von 524 Punkten liegen. Mit anderen Worten, das – wenn man so will – schlechte Gesamt­ergebnis hängt mit der im eigenen Haushalt gespro­chenen Sprache zusammen. Soziale Ungleichheit, im IGLU-Bericht über eine seltsame Variable namens EGP ope­ra­tio­na­li­siert, wird offen­kundig über­lagert, deutlich über­lagert, und zwar von Migra­ti­ons­hin­ter­grund, dem “wan­dernden Ele­fanten” im Raum:

 

 

 

Haben beide Eltern der Viert­klässler einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund, sind sie also beide im Ausland geboren, dann erreichen die Spröß­linge mit ihrer Lese­kom­petenz 493 von 800 Punkten. Hat ein Elternteil einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund, dann erhöht sich die Punk­tezahl, die die zuge­hö­rigen Viert­klässler im Durch­schnitt ereichen, auf 525 Punkte. Sind beide Eltern in Deutschland geboren und in der Mehrzahl nach Lage der Dinge Deutsche, dann beträgt die Punk­tezahl, die die Kinder aus ent­spre­chenden Familien erreichen 545 Punkte. Eine kleine Sprachwelt liegt zwi­schen diesen drei Gruppen. Mit 545 Punkten liegen Kinder aus Familien, die aus in Deutschland gebo­renen Eltern zusam­men­ge­setzt sind, auf Platz 6 im Inter­na­tio­nalen Ranking, direkt hinter Polen und noch vor Taiwan und Schweden.

Das, wenn man so will, schlechte Abschneiden deut­scher Schüler hat somit eine klar benennbare Ursache: den Anteil von Kindern, deren Eltern im Ausland geboren wurden, in einer Schul­klasse. Nicht die deut­schen Schüler schneiden durch­schnittlich im Leis­tungstest schlecht ab, sondern die Kinder im Ausland gebo­rener Eltern, die Kinder zuge­wan­derter Eltern.

Offen­kundig ist die Erwänung der alt­be­kannten Tat­sache, dass Zuwan­derer das Leis­tungs­niveau von – je nach ihrer Anzahl – ganzen Schul­klassen redu­zieren, eine sehr gut belegte Tat­sache der empi­ri­schen Sozi­al­for­schung, in dem, was heute Bil­dungs­for­schung in Deutschland sein will, ein Tabu. Wie man die offen­kun­digen Leis­tungs­pro­bleme und die erheb­lichen Leis­tungs­un­ter­schiede, die zwi­schen Kindern aus­län­di­scher Eltern und Kindern mit min­destens einem deut­schen Elternteil bestehen, beheben will, wenn es ver­boten ist, die Ursache zu benennen, ist uns ein Rätsel, aber wir gehören auch zu den­je­nigen, die Pro­bleme damit haben, wenn aus ideo­lo­gi­schen Gründen rei­hen­weise Kinder mit ver­korksten schu­li­schen Bio­gra­phien und daraus folgend geringen Lebens­chancen pro­du­ziert werden, nach­weislich.


Quelle: sciencefiles.org