Beate Wiemers im Gespräch mit Dr. Hans Hein
Linie 41 lautet der Titel eines Dokumentarfilms von Tanja Cummings. Die Linie 41 war eine Straßenbahnlinie, die mitten durch das Ghetto von Łódź führte. Sie ist heute noch in Betrieb. Dort, wo inzwischen Plakatwände für Elektronikprodukte werben und in Videotheken amerikanische Blockbuster ausgeliehen werden können, wurden zu Beginn der 1940er Jahre deutsche und polnische Fahrgäste täglich Zeugen unfassbaren menschlichen Leidens.
Die Berliner Regisseurin begab sich mit ihrem Film auf eine Spurensuche, bei der es um Täter, Opfer und um Verdrängung geht, und um menschliche Begegnungen viele Jahrzehnte nach dem Grauen, das sich in Łódź und auch anderswo während des 2. Weltkrieges zugetragen hat.
Tanja Cummings begleitet mit der Kamera zwei Männer auf ihrer Reise in die Vergangenheit: Der 1927 geborene Natan Grossmann ist einer von ihnen. Seine Eltern starben im Ghetto und sein Bruder verschwand damals spurlos. Der andere der beiden Männer ist Jens-Jürgen Ventzki. Sein Vater war glühender Nationalsozialist und Oberbürgermeister von Łódź.
Anosognosie – Abspaltung – Verdrängung?
Das Ghetto Łódź, das unter der deutschen Besatzung nach dem NSDAP-Mitglied und General Karl Litzmann in Litzmannstadt umbenannt wurde, war das am längsten existierende und zweitgrößte Ghetto im NS-Regime. Bevor die Wehrmacht Łódź annektierte, lebten die „Łódźermenschen“ friedlich miteinander, doch dann erlebten sie hautnah, wie Nachbarn und Freunde eingesperrt wurden, litten und starben, ohne dass sich ein kollektiver Widerstand regte – weder seitens der Opfer noch seitens jener, die nun – teilnahmslos – zusahen, wie Menschen aus ihren Reihen unter unmenschlichen Bedingungen als Arbeitssklaven gehalten wurden. Zwischen den beiden Männern, die sich zuvor nicht kannten, findet während der Dreharbeiten eine Annäherung statt. Heute sind sie befreundet.
Der Film Linie 41 veranschaulicht, welche Erinnerungen und Emotionen die heute noch lebenden Menschen mit jener Zeit in Verbindung bringen. Doch der Dokumentarfilm wirft auch Fragen auf, zum Beispiel diese: Wie ist es möglich, dass Menschen das direkt vor ihren Augen stattfindende Elend derart verdrängen oder abspalten können?
Vielleicht weiß Dr. Hans Hein Antworten darauf? Schon in dem Interview „Souveränität: Von Karpfen und Delfinen“ zeigte sich der Arzt, Psychotherapeut und Gründer des Forums Synergie schließlich inspirierend und geduldig als Gesprächspartner…?
FRIEDA im Gespräch mit Dr. Hans Hein
FRIEDA: Unter Anosognosie wird das Phänomen der Leugnung und des Nichtwahrnehmens einer Halbseitenlähmung verstanden. Anosognosien können nach Infarkten, Schlaganfällen, aber auch nach traumatischen Erlebnissen auftreten. „Die Anosognosie hat ihre Ursache in jenen Hirnregionen, die mit dem Bewusstsein zu tun haben, und führt zu einer Unfähigkeit, die Schwere des Defizits zu erkennen oder anzunehmen“, ist in einem Beitrag dazu auf dem Portal Gedankenwelt zu lesen. Könnte es sein, dass ein „Defekt“ in diesen Hirnregionen, womöglich aufgrund traumatischer Erfahrungen, auch bei anderen Menschen die Ursache dafür ist, wenn offensichtliches Leiden anderer nicht wahrgenommen wird? Hat das Nicht-Wahrnehmen des Offensichtlichen etwas mit Anosognosie zu tun oder eher mit Abwehr, Abspaltung oder mit Verdrängung als Überlebensstrategie innerhalb eines Systems, das es nicht erlaubt, empathisch mit den Leidtragenden zu sein?
Dr. Hans Hein: Bei dem Umfang des Fragenkataloges habe ich mein Denken beobachtet, um zu sehen, wie es das alles umsetzt. Es geht los mit dem Bild der Linie 41, die einen Ort oder Raum, wenn man so will, in zwei Teile teilt, die elektrische Straßenbahn, die auf metallenen Schienen mitten durch das Ghetto fährt als Ausdruck Materie gewordenen Geistes, oder eines Mems, wie ich es nenne. Mir fiel dazu der Satz ein: „Die Rechte weiß nicht, was die Linke tut“. In der hirnphysiologischen Forschung gab es eine Zeit, in der epileptische Anfälle dadurch behandelt wurden, indem das Corpus Callosum, das ist der Teil, der die beiden Hirnhälften verbindet, getrennt wurde. Das nannte man bei diesen Patienten später Split Brain. Dadurch hat man seinerzeit viele Einsichten in die Funktionen der beiden Hirnhälften bekommen. Diese Linie 41 ist wirklich ein Bild für ein durchtrenntes Gehirn, das die rechte, sprich holografische, von der linken, analytischen logischen Hirnseite, trennt. Und beide Teile können sich nicht verstehen, weil sie nicht miteinander kommunizieren können. Dieses Bild könnte auch die Ungereimtheiten dieses Verhaltens und unsere heutige Verwunderung darüber erklären, warum Menschen überhaupt so etwas tun. Aus meiner Sicht gibt es in einem solchen Fall keine Kommunikation zwischen, ganz abstrakt gesprochen, Rationalität und mitfühlender Emotionalität.
Als Erklärung für das Verhalten der Menschen in dem beschriebenen Fall reicht das gewiss nicht aus; zumindest könnte der Ansatz mangelnder Kommunikation zwischen den Gehirnhälften ein Erklärungskonzept von mehreren sein und meiner Ansicht nach kein zu weit hergeholtes.
FRIEDA: Vor dem Einmarsch der Wehrmacht lebten die Łódźermenschen, wie eingangs erwähnt, friedlich miteinander. Die Ideologie spaltete die Gesellschaft. Ideologien und fundamentalistisch geprägte Religionen spalten heute noch Menschen. Wie alle diktatorischen Systeme bedienten sich die Machthabenden „des Systems“ damals der Propaganda, was aber auch eine gewisse Bereitschaft zum Gehorsam und willfährige „Marionetten“ voraussetzte, um ein solches System zu etablieren oder, anders ausgedrückt, das Feld eines solchen Systems „energetisch zu füttern“. Damals war es der Nationalsozialismus, später der Sozialismus in der DDR – Diktaturen kommen in der Geschichte in unterschiedlich gefärbtem Gewand daher. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, und zwar zu jener, die gerade die Macht für sich beansprucht, kann für Menschen als überlebenswichtig wahrgenommen werden und Empathie scheinbar spontan erstarren lassen. Noch heute sehen wir, werfen wir einmal einen Blick auf Nordkorea, wie es Machthabenden gelingt, ganze Heerscharen dazu zu bewegen, in Uniform und im Gleichschritt Befehle auszuführen. Emotional aufgeladene Propaganda mit entsprechenden Bildern oder Symbolen sowie ritualisierte Gruppenveranstaltungen scheinen Menschen dazu zu bringen, ihren Verstand und ihr Herz komplett auszuschalten. Worauf ist diese augenscheinliche „innere Bereitschaft“ zum Gehorsam beim Menschen Ihrer Ansicht nach zurückzuführen?
H.H.: Auch da spielen sicherlich mehrere Faktoren eine Rolle. Ich greife den Gedanken der Anosognosie nochmal auf. Anosognosie und das zugehörige Wort Neglect ist ja ein psychopathologischer oder neurophysiologischer Fakt, der sich auf Ausfälle im Hirnbereich bezieht. Als Neglect (lat. neglegere = nicht wissen, vernachlässigen) bezeichnet man in der Neurologie eine Störung der Aufmerksamkeit, die auf eine Schädigung oder Beeinträchtigung des Gehirns zurückzuführen ist. Gekennzeichnet ist solch ein Neglect durch mehrere Symptome, darunter auch, dass Betroffene die Hirnhälfte, die der Hirnläsion gegenüberliegt, nicht mehr richtig oder gar nicht wahrnehmen können. Das kann zu einem fehlenden Bewusstsein über die Krankheit führen. Diese wird negiert, als nicht existent wahrgenommen. Übertragen auf das Subsystem Medizin würde man gar nicht mitkriegen, dass dieses Phänomen der Anosognosie eigentlich ein Alltagsphänomen ist. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Und wir wissen auch nicht, sofern ein Trauma vorliegt, was wir mal gewusst haben. Das ginge dann in Richtung Neglect. Auf jeden Fall sind wir ja schon mal hoch eingeschränkt in der sehr reduzierten Art, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Wir haben ja nur Wahrnehmungsschlitze, sprich bestimmte Frequenzen, die wir sehen oder hören, und kriegen zum Beispiel nicht mit, was Hunde, Vögel, Bienen oder Fledermäuse wahrnehmen, obwohl alles da ist. Das ist eine Tatsache.
Ansonsten ist es ganz spannend, wie unser Nervensystem quasi durch Sozialisierung, Konditionierung und Versklavung durch Meme in Realitäten gefangen gehalten wird, die zum Teil ritualhaft entstehen, zum Teil auch beabsichtigt sind. Für ganz wichtig halte ich in diesem Zusammenhang, sich die Wirkmechanismen der Meme bewusst zu machen. Zum Verständnis: Meme sind so etwas wie „Viren des Geistes“. Dazu hat auch Vera Birkenbihl viel gesagt. Aus meiner Sicht ist ein Mem ein intelligentes Feld, das seinen Auftrag oder seine Absicht unter höchstintelligenter Nutzung sichtbarer und nicht sichtbarer Ressourcen umsetzt und letztlich dreidimensionale Realitäten gestaltet. Unter diesem Gesichtspunkt sind alle existierenden Systeme aus dem Nichts gestartet mit einer Absicht oder einer Idee, die dann umgesetzt wird. Und je länger diese Ideen bestehen, desto stabiler sind diese Systeme. Das Ergebnis all dieser Absichten und Ideen haben wir jeden Tag vor Augen, besonders dann, wenn wir den Fernseher anstellen.
Das typische Beispiel für „lange bestehende Ideen, die einer bestimmten Absicht folgen“, sind Religionen, die sich ja auch auf nicht beweisbare Annahmen von Menschen stützen, die behaupten, dass Gott mit ihnen geredet oder ihnen irgendetwas diktiert hat. Wie viel dafür getan wurde, um diese Systeme zu errichten und das alles zu beweisen, beispielsweise mit Schriften, ist bekannt. Doch zumeist haben Religionen zur Spaltung geführt und das tun sie heute noch. Mit den religiösen Dogmen einhergehend werden zudem mit allen möglichen Übersetzungen bis zu einzelnen Vorschriften dann Spiele und Rituale erfunden, die ganz klar vorgeben, welche Menschen dazugehören oder nicht dazugehören, wie die Grenzen sind usw.. Ideologien haben da eine vergleichbare Wirkung. Die Rituale, Parolen und Requisiten sind zwar anders, doch wieder sind es bestimmte Meme, die einer Absicht folgen und für die sich „Viren des Geistes“ generieren lassen, beispielsweise durch Propaganda. Der große Trick bei der ganzen Geschichte ist: Lenke den Menschen in eine gewollte Richtung oder bringe ihn ab von dem Gedanken, so etwas wie die eigene Souveränität zu entdecken und zu beanspruchen und die eigenen geistigen Potenziale oder Bewusstseinspotenziale zu entwickeln!
FRIEDA: „Familienväter, Kriminalbeamte, die sich ein Leben lang an „Recht und Gesetz“ gehalten hatten, wurden in den Einsatzgruppen der Nazi-Mordmaschine zu Schlächtern. Kann man sich das erklären?“, lautet eine Frage, die die NZZ* Prof. Jörg Barberowski in einem Interview stellte. Der Historiker, Autor und Gewaltforscher antwortete darauf, dass Männer dazu aufgefordert wurden, Frauen und Kinder zu erschießen. Diese Männer hätten die Möglichkeit gehabt, diese Befehle nicht auszuführen und einige von ihnen nutzten diese Option auch, doch die meisten führten die Befehle aus. Interessant dabei sei, so Prof. Jörg Barberowski, dass die Männer, die die Befehle ausführten, in den ersten Wochen noch an Magenschmerzen, Depressionen, Alpträumen und anderen Symptomen litten, sich aber nach zwei bis drei Wochen schon an das blutige Handwerk gewöhnten und es wie jede andere Tätigkeit verrichteten. Gründe für solch ein Verhalten sieht Prof. Barberowski unter anderem darin, dass ein hierarchisch organisiertes System, in dem es Leute mit Uniformen und Diensträngen gibt, Bedingungen schafft, in dem andere gehorchen müssen, da der „Ehrbegriff“ am Gehorsam hänge. Die Tatsache, unehrenhaft entlassen und nach Hause geschickt zu werden, sich also nonkonform innerhalb des Systems zu verhalten, sei für viele schlimmer gewesen als das Verrichten des „Dienstes“. Diese Taten zu begehen wäre den Männern somit auch deshalb leichter gefallen, weil sie der Ansicht waren, ihr Verhalten sei erlaubt gewesen. Das Töten sei also ge- und nicht verboten gewesen. Man ging zudem davon aus, dass das eigene Handeln straffrei bleiben würde. Vor allem aber war, so Prof. Barberowski, die Tatsache, dass niemand aus ihren eigenen Familien sehen konnte, was sie taten, ein Grund dafür, dass sich diese Männer den Befehlen nicht widersetzten. „Diese Männer waren in einem Kontext, in dem sie ohne Strafandrohung tun und lassen konnten, was sie wollten“, sagt der Gewaltforscher in dem Interview wörtlich. Dennoch gab es eben auch einzelne Menschen, die sich weigerten, Gewalt auszuüben. Wie interpretieren Sie es, dass die Mehrheit der Männer Gewalt ausübte, eine Minderheit eben nicht? Oder anders gefragt: Was braucht es für Voraussetzungen, um als Mensch selbst innerhalb eines solchen Systems den Mut zu haben, sich nicht an der Ausübung von Gewalt zu beteiligen?
H.H.: Es braucht innere Souveränität, um sich Befehlen zu widersetzen, also eine stabile innere Haltung, um nicht in irgendeine Falle zu geraten. Um zu veranschaulichen, warum wir in alltäglichen Situationen nicht mitkriegen, was wir nicht mitkriegen, eignet sich sehr gut das Synergiemodell der Tetraedrischen Intelligenzen. Dabei kann man die vier Fallen betrachten, die ja auch einen hirnphysiologischen Hintergrund haben. Diesen Hintergrund näher auszuführen, würde nun den Rahmen sprengen, doch die „Fallen“ veranschaulichen, was gemeint ist. Bei der ersten Falle, der so genannten Sehnsuchtsfalle, wird ausgeblendet und der Mensch vergisst einfach, dass er handlungsfähig ist und etwas tun, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Bei der zweiten Falle, der Ideologiefalle, kommt die ganze Thematik der Abspaltung von Gefühlen, der Dissoziation, der Verdrängung ins Spiel. Die üblichen testosterongesteuerten Systeme im Patriarchat benutzen genau dieses Muster über Ideologien, wo Gefühle knallhart ausgespart werden, um zu herrschen. Ein Beispiel: Wenn man so einen Ideologen hat, dann ist die beste „Waffe“ gegenüber so einem Typen eine hysterische, wilde, unberechenbare Frau, weil sein „Spiel“ dann versagt. Das Einzige, was er dann natürlich machen kann ist, die Frau zu töten, wie das ja auch oft genug geschehen ist und noch geschieht. Das erklärt auch die oft auf bestimmte Klischees reduzierte Rolle der Frau. Gerade sehr religiös und ideologisch geprägte Systeme unterdrücken auf dieses Weise das Potenzial der wilden Frau mit Konsequenzen, die seit Jahrtausenden lange Schatten werfen, und die auch vielerorts am ökologischen Zustand der Erde sichtbar werden.
Die nächste Falle, das ist im Tetraeder-Modell die Nr. 3, ist die Konfrontationsfalle. Wer in dieser Falle steckt, weiß nicht mehr, dass er souverän ist. Ein politisches Beispiel dafür ist natürlich die Bundesrepublik Deutschland, wo die Menschen das gar nicht wissen, weil das Volk die Spielregeln nicht kapiert. Dabei geht es darum, die Spiele, die Gesetze, die Regeln zu verstehen, um Einblick zu haben und Klarheit zu gewinnen. Dann ist auch Souveränität möglich. Es gibt ja genügend Beispiele dafür, wie Propaganda das Aufwachen und das wirkliche (Be-)Merken der eigenen Qualitäten verhindert. Bei der vierten Falle, der Alltagsfalle, geht es darum, dass man so eingebunden und abgelenkt ist, dass man einfach nicht merkt, dass andere Glaubensmuster, Ideen, Konzepte und Vorstellungen möglich sind, um etwas zu ändern. Das mag auch etwas mit Kognitiver Dissonanz zu tun haben. Wir sind nicht darauf trainiert worden, flexibel im Denken zu sein. Das fängt schon bei der Erziehung und Bildung an, wo immer noch Belohnung und Strafe eingesetzt werden, wo Hierarchien bestehen und somit auch Herrscher-Sklaven-Mechanismen wirken. So etwas führt in der Konsequenz zu Ohnmacht, womöglich auch zu Wut, Trauer und dazu, nicht mehr authentisch zu sein. Zu Souveränität führt diese Struktur somit nicht. Souveräne Menschen sind, wie schon in unserem anderen Interview beschrieben, die Delfine, die mit den Grenzen spielen und auf diese Weise zu Veränderung beitragen, indem beispielsweise neue Rituale kreiert werden, Rituale, die heilsam sind zum Wohle des Ganzen.
Dass totalitäre, ideologisch gefärbte Systeme gehorsame Individuen generieren, die dann eben auch Befehle befolgen bis hin zum Morden, weil das innerhalb des Systems als konform gilt, erklärt sich somit von selbst. Wir werden also nicht darauf trainiert, konzeptflexibel zu sein. Konzeptflexibilität wird in religiösen und ideologisch-totalitären Systemen ausgespart. Dort geht es ums Rechthaben und um Selbsterhaltung bzw. um Erhaltung des eigenen Weltbildes oder Konzeptes der Welt. Es können dann einfach keine anderen Gedanken gedacht werden als die, die vorgegeben sind. Und vorgegeben werden diese Gedanken in ideologisch und religiös beeinflussten Systemen durch Propaganda und „Brot und Spiele“. Wir gingen ja schon im letzten Interview darauf ein. Das ist eben auch die Strategie von totalitären Systemen, das mentale Training und die mentale Konditionierung so perfekt durchzuführen, dass gar keine anderen Gedanken mehr gedacht werden können und dürfen. Hier liegt übrigens auch der Nährboden für Faschismus. Ich selbst habe ja diese Konditionierung in der katholischen Kirche mitgekriegt. Natürlich verkauft die katholische Kirche, und das ist wahrscheinlich auch wirklich eine gute Absicht, das, was sie da anbietet an Konditionierungen, einfach als Hilfe, den Menschen aus seinem merkwürdigen Spiel zu erlösen und ein geschickter Schachzug dabei ist eben die Schweinerei mit der Belastung durch die Erbsünde. Das ist ein ganz freches Ding, weil man damit nicht einmal eine Chance hat, wieder unschuldig zu werden.
Also diese vier Muster, wo man vergisst etwas zu tun, wo Gefühle abgespalten sind, wo man seine Souveränität vergisst, wo man keine Chance hat, anders zu denken, das ist (System-)Alltag. Wir haben da jede Menge parallel laufender Realitätstunnel, die uns die Chance zum wohligen Gestalten erwünschter Wirklichkeiten nehmen.
FRIEDA: Nun wissen wir ja aus Familienaufstellungen zur Genüge, dass Gräueltaten sich nicht in Luft auflösen, sondern im Sippengedächtnis erhalten bleiben können. Welche Erfahrungen haben Sie im Rahmen Ihrer Synergie-Aufstellungen mit dem Thema Krieg gemacht?
H.H.: Vorweg noch: Das Hauptproblem bei all diesen realitätserzeugenden Anosognosien, wo wir nicht wissen, dass wir was nicht wissen, ist die Bildung stabiler Rituale der Wahrnehmung, also Evidenz- und Wahrnehmungsfallen, in denen wir automatisch drin sind. Das ist sehr einfach zu sehen beim Tetraeder. Es gibt diese vier Dreiecke, die stabile Ritualmuster bilden unter Ausschluss des Punktes, der nicht wahrgenommen wird. Auch aus dem NLP-Bereich gibt es so ein paar Übungen, die einfach wunderbar zeigen, wie eine Problematik sich verändert, wenn man den Aspekt einbezieht, der bislang nicht gesehen wurde. Und schon verändert sich die Wahrnehmung. Das ist üblicherweise so etwas Selbstverständliches, wie wir uns in den üblichen Fallenmustern verstricken, dass wir da noch gar kein so großes Bewusstsein haben, wie Muster zu verändern sind.
Beim Tetraeder geht es ja auch um Fallenaufstellung und den Wandlungspunkt, das ist der ausgeklammerte Punkt (Tun, Fühlen, Klären, neue Ideen…). Insbesondere bei den Synergie-Aufstellungen geht es ja um die Frage, was von allen möglichen Ebenen wirkt wie zusammen, und nicht nur um die Frage, die bei den Familienaufstellungen nach Hellinger gestellt wird, die sich daran orientiert, wie ein Familiensystem zusammenwirkt, denn es gibt sehr viel mehr Ebenen, sichtbare und nicht sichtbare, die zusammenwirken. Bei den Synergie-Aufstellungen hat sich gezeigt, dass die Muster, die noch im kollektiven Unbewussten Aktivitäten haben und einfach nicht bewusst sind, jetzt durch diese Aufstellungen auf den Tisch kommen und diese Muster sind somit, und das ist die große Chance zum Glück, veränderbar. Das Ausmaß der kollektiven Traumata, der ganzen Verstrickungen, der Geheimnisse, der abgespaltenen Teile ist gigantisch. Als ich anfing, wurden bei den typischen Familienaufstellungen Themen wie unbewältigte Kriegszeiten, Nazivergangenheiten bei den Ahnen etc. zum Teil ausufernd lange aufgestellt und sie wurden mit quälender Detailhaftigkeit angegangen, was letzten Endes nützlich war, weil dadurch von dem kollektiven Brocken einiges abgewetzt werden konnte. Jetzt gehen diese Thematiken sehr viel schneller und leichter. Nach wie vor bin ich immer wieder erstaunt, erschüttert und doch noch überrascht, selbst bei Leuten, die schon viel aufgestellt haben, in welchen Tiefen und Realitätsspalten diese Themen noch mithängen und mitbestimmen. Insofern ist dieses Werkzeug der Aufstellungsarbeit genial, um diese ganzen Verstrickungen, die ganzen Tunnelungen, Verhaftungen, Fallen und Muster zu verändern. Der große Punkt, um den es jetzt geht, unter dem nun auch eine Chance besteht, dieses Konglomerat der existierenden Meme zu verändern, lässt also Zuversicht gedeihen.
FRIEDA: Ein Psychologe sagte mal zu mir, auf den Kriegerdenkmälern stünden immer nur die Namen der Opfer, nie die der Täter. Das sei ein Symptom für ein kollektiv vorhandenes Täterintrojekt in den Köpfen der Menschen, denn eigentlich gehörten die Namen der Täter an die Öffentlichkeit. Welche Gedanken haben Sie dazu? Und worauf führen Sie die Gewaltbereitschaft, gerade bei Männern, zurück?
H.H.: Dazu fällt mir ein Buch ein mit dem Titel „Die Söhne des Mars – Eine Geschichte des Krieges vom Ende der Steinzeit bis zur Antike“ von Armin Eich. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Zwang, Kriege zu „spielen“, nicht genetisch eingebaut oder unausweichlich ist, sondern eine Angewohnheit. Dazu kommt noch ein ganz interessanter Gedanke des Historikers Lloyd de Mause. Er ist der Ansicht, dass wir nicht nur in unserer Embryologie die körperliche Entwicklungsgeschichte mit den verschiedenen Stadien der Evolution wiederholen, sondern die gesamte emotionale Weltgeschichte. Seine Thesen zum Krieg als Metapher für die Geburt, also bildhaftem Ausdruck, lassen plausible Schlussfolgerungen zu. Von ihm stammt das Buch „Hört ihr die Kinder weinen“. De Mause, so wie ich ihn verstanden habe, vertrat die Ansicht, dass sich Kriege am besten verhindern lassen durch eine Generation aus Erwachsenen, Erwachsene, die sich empathisch und getragen von persönlicher Reife auf die Entwicklung der eigenen Kinder einlassen können, weil sie sich durch die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Bedingungen der eigenen Kindheit, also ihrer eigenen seelischen Verletzungen, auseinandergesetzt haben. Kriege sind somit eine Metapher von erlebten Geburtstraumen oder, anders gesagt, wir reinszenieren unsere oft als traumatisch erlebten Geburten später in Form von Kriegen. Die Gebärmutter spielt dabei natürlich nicht nur symbolisch eine Rolle, sondern auch konkret als Raum der Obhut, der womöglich auf schmerzhafte Weise verlassen wurde…
Einschub FRIEDA: Das deckt sich übrigens sehr mit dem, was meine Interviewpartnerin Iris Hammermeister in dem Beitrag „Die Heilung der Mutterwunde durch die eigene Stimme“ sagte und erklärt auch, warum es in Kriegen so oft zu Vergewaltigungen kommt. Vor dem Hintergrund der Metapher „Krieg als Reinszenierung des Geburtstraumas“ ließe sich ja schlussfolgern, dass durch die gewaltsame „Aneignung“ der Frau bei einer Vergewaltigung wenigstens wieder für Momente versucht wird, die ursprüngliche Einheit mit der Mutter herzustellen. Und da es Männer nicht auf andere Weise schaffen, beispielsweise durch die Integration ihrer eigenen weiblichen Anteile, der rechten Hirnhälfte, der empathischen Seite in sich, versuchen sie es gewaltsam, damit sie die Oberhand behalten entsprechend den Herrschaftsstrukturen im System, das die gewaltsame Aneignung der Frau als Objekt nicht nur toleriert, sondern sogar auf Straffreiheit hoffen lässt. Dass das immer noch zu gelten scheint, sehen wir ja auch heute noch im Umgang mit Sexualstraftätern, die sich an Frauen oder Kindern vergangen haben. Sie werden ja häufig mild oder gar nicht bestraft, denn in den Gerichten sitzen ja überwiegend Männer oder aber Frauen, die vielleicht selbst einen Konflikt mit ihrer Weiblichkeit haben.
Zu dem Thema empfehle ich bei dieser Gelegenheit noch das Interview mit Carsten Pötter „Emanzipation mal anders betrachtet“. Da fragt man sich natürlich, wie die Exekutive, die Judikative und die Legislative (souveräne) Individuen vertreten sollen, ohne womöglich selbst souverän zu sein, weil wir ALLE mehr oder weniger unter traumatischen prä‑, peri- und postnatalen Erlebnissen leiden? In nahezu allen Religionen wird ja die Kraft der Frau mehr oder weniger „verteufelt“. Das Perfide an Kriegen ist ja zudem, dass sie meist zu neuen Ideologien führen, also immer wieder spalten. Was der „Männliche Gebärneid“ mit all dem zu tun haben könnte, erläutert Dr. Hilde Schmölzer ausführlich in einem Interview, das hier zu finden ist. Auch Peter Sloterdijk sagte ja: „In Wirklichkeit sind wir lebende Resultate unserer Geburtsdramen und tragen im Körpergedächtnis und in unseren Lebensstilen die Spuren dieses Urereignisses“. Übrigens hat sich auch der Psychoanalytiker Dr. Ludwig Janus sehr mit den prä- und perinatalen Grundlagen sozio-politischer Ereignisse beschäftigt. Er ist einer der Experten des von Julia und Chris Schmiedel veranstalteten Eltern-Kind-Bindungskongresses.
H.H.: Ein typisches Beispiel ist, dass Jungs einfach zu bestimmten Zeiten ihrer Entwicklung „kämpfen müssen“, Bandenkriege veranstalten etc., so als würden sie die Urgeschichte, das Mittelalter oder sonstwas nochmal abfackeln. Die Achillesferse des Mannes, und somit auch des Kampfes zwischen den Geschlechtern, sehe ich in der sehr großen Schwierigkeit, mit intensiven Gefühlen, sprich Liebe, umzugehen, weil all das bei ihm zur Auflösung seiner zugespitzten Konturen führen kann und das verursacht bei Männern eine Grundangst. Und die übliche Abwehrform ist natürlich: Vernichte den Auslöser! Doch statt sich auf die innere Reise zu begeben und dieser Urangst zu begegnen, das Unerlöste in sich selbst zu heilen, wird gemordet und vergewaltigt. Wie sehr dieses Verhalten systemisch und gesellschaftlich gebilligt wird, sieht man dann eben auch an den von Ihnen erwähnten oft milden Strafen für Verbrechen dieser Art, wohingegen systemkritische Menschen, Pioniere und Vordenker oftmals wegen Nichtigkeiten diffamiert und eingesperrt werden. Das Tragische an der Sache ist, dass diese Dynamiken den meisten Menschen nicht bewusst sind und da sie es nicht sind, können die „Viren des Geistes“, die im Unterbewusstsein ihr Unwesen treiben, dann immer wieder in der Materie zum Ausdruck kommen – eine unendliche Geschichte somit, es sei denn, wir erkennen das Muster dahinter und erlösen und selbst. Dafür gibt es heute ja viele Hilfsmittel…
FRIEDA: In dem Film Linie 41 geht es auch um ein Foto seiner Mutter, das Nathan suchte. Es wurde nicht gefunden. Dass nach diesem Foto gesucht wurde und es nicht gefunden wurde, könnte auch als Symbolik gedeutet werden, denn trotz der Annäherung der Männer ist die Frage, warum es Kriege gibt, nicht beantwortet. Diese Frage war auch nicht Thema des Filmes; m.E. schwingt sie aber mit, wenn wir verstehen wollen, warum es immer wieder Kriege gibt und erkennen möchten, wie wir sie künftig vermeiden. Die Suche nach der Mutter (symbolisiert durch das Foto) kennzeichnet m.E. eine Sehnsucht. Auch ohne das Foto gefunden zu haben, versöhnten sich die Männer, fanden also zurück zur Empathie – und so betrachtet war das Finden des Fotos dann vielleicht auch nicht mehr so wichtig, weil durch die Versöhnung in den Herzen der Männer Raum für „das Mütterliche“ und „das Väterliche“ entstehen konnte…
In Interviews, die ich mit Matriarchatsforscherinnen führte, wurde deutlich, dass es in matriarchal organisierten Ethnien, die sich an der Mutterlinie orientieren, Gewaltphänomene wie in Kriegen nicht gibt, wohl auch deshalb nicht, weil matriarchale Ethnien nicht hierarchisch strukturiert sind. Dr. Hilde Schmölzer thematisiert das u.a. in ihrem Buch „Die abgeschaffte Mutter – Der männliche Gebärneid und seine Folgen“. Die Religionen sind stark patriarchal organisiert. Die Auswirkungen bekommen insbesondere Frauen und Kinder weltweit zu spüren und das auch heute noch. Sie haben sich intensiv mit systemischen Wirkmechanismen beschäftigt. Fehlt es „dem System“ an der „Großen Mutter?“
H.H.: Darunter verstehe ich im Moment als beste Metapher die der Mutter Erde, also Gaia, als diejenige, die sich jetzt räkelt und putzt und neu sortiert, um das Bewusstsein der Menschheit, also die Menschheit als Gehirn der Erde, neu auszurichten und sich von diesen unglaublichen, mehrere Jahrtausende alten Marotten wie Gewalt, Kriminalität, Geheimniskrämerei, Heimtücke, Mord und Vergewaltigung zu reinigen und zu heilen. Allmählich wird immer mehr bewusst, wie diese alten Muster in den Händen der Mächtigen und der Strippenzieher so etwas wie die Ladenhüter der Geschichte werden, und es beginnen sich neue Möglichkeiten zu entwickeln. Auf der anderen Seite wird natürlich auch sehr schön deutlich, wie die bestehenden Systeme alle Intelligenz nutzen, um sich zu behaupten und ihre Spiele zu bewahren. Das kann man gerade wieder gut beobachten. Und ein Indiz dafür sind die unklaren Verstrickungen von Geheimdiensten in die aktuellen Terrorgeschichten. Das ist ganz besonders interessant und es ist sinnvoll zu hinterfragen, inwiefern auch Fanatismus instrumentalisiert wird, um die alten Spiele in eine Richtung zu bringen, die die Bevölkerung und die einzelnen Völker im Grunde nicht mögen. Also, die bestehenden Systeme verteidigen sich hochintelligent mit allen Möglichkeiten, um die politischen Ränkespiele weiter aufrechtzuerhalten. Und dennoch scheint es so zu sein, dass Gaia, stellvertretend für die „Große Mutter“, sich nun dagegen wehrt und Impulse für die Heilung immer offensichtlicher werden und wirken.
FRIEDA: Es mangelt uns also am Wandlungspunkt, wenn man vom Tetraedermodell ausgeht, sofern ich Sie richtig verstanden habe oder anders gesagt: Es mangelt uns am Fühlen, am Handeln, an Klarheit und an neuen Ideen, an neuen Perspektiven. So ähnlich sieht das ja auch der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther, der ja sagt, dass die Gesellschaft Rebellen braucht oder vielleicht einfach nur einen kindlicheren Zugang zu den Problemen unserer Zeit, einen spielerischeren, kreativeren und vor allem einen, der eben das Fühlen erlaubt! Anlässlich der (inzwischen zurückliegenden) Militärmesse in Bremen schrieb ich einen Beitrag, in dem ich anregte, die „Protagonisten“ auf der Messe doch mal mit Kindern, Samba-Tänzerinnen und Körpertherapeuten zusammenzubringen. Was ist von so einer Maßnahme zu halten angesichts Ihrer Kenntnisse des Tetraeder-Modells?
H.H.: Der Gedanke, auf so einer Messe quasi Ideologie zu „bekämpfen“ mit Buntheit, mit Lebendigkeit und Farbigkeit sowie mit Überraschungen, da etwas zu bewirken, das ist eine wunderbare Idee und die maximale Steigerung für diesen Wandel, weil jeder kontrolliert Depressive auf Dauer keiner bunten Hysterie standhalten kann. Das gipfelt in der Idee, die kollektiven Meme zu verändern über Großveranstaltungen mit Synergie-Aufstellungen, um da das Feld anders zu gestalten, weil das Feld gewinnt. Eine Webseite über den Umgang und den Wandel von Memen ist in Vorbereitung: www.mem-hacking.de
FRIEDA: Herzlichen Dank für dieses weitere Interview!
* https://www.youtube.com/watch?v=LypjYmhzG7U
Näheres zu Synergie-Aufstellungen mit Dr. Hans Hein ist u.a. hier zu finden.
Titelfoto: pixabay.com/en/users/geralt
Quelle: Beate Wiemers, Journalistin und Betreiberin von https://frieda-online.de/