Vom Nutzen der Vorurteile

Vor­ur­teile genießen gewöhnlich einen schlechten Ruf. Wer das Wort ‚Vor­urteil‘ jedoch nicht neutral, sondern pejo­rativ gebraucht, der fällt offen­sichtlich dem Vor­urteil anheim, dass Vor­ur­teile a priori und per se etwas Schlechtes seien, womöglich sogar immer falsch wären.

Rechts oder links?

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in der Abend­däm­merung alleine im Wald spa­zieren, befinden sich auf dem Weg zurück zum Auto, sind aber noch ein Stück ent­fernt. Weit und breit keine Hütte, keine Men­schen, nichts. Totale Ein­samkeit und Ruhe. Nun kommen Sie an eine Weg­ga­belung. Der rechte Weg ist ein klein wenig länger als der linke. Auf dem linken sehen Sie in einigen hundert Metern Ent­fernung fünf junge Männer ent­ge­gen­kommen, die sehr laut und aggressiv klingend reden. Sie erkennen, dass diese ara­bisch sprechen. Auf dem rechten Weg kommen fünf junge Frauen ent­gegen, die dauernd kichern. Es scheint sich um Japa­ne­rinnen zu handeln. Welchen Weg werden Sie nehmen, den linken oder den rechten?

Nun stellen Sie sich bitte vor, wir haben a) tausend Men­schen, die in jeweils tausend solcher oder ähn­lichen Situa­tionen, ins­gesamt also eine Million Fälle immer den linken Weg nehmen, weil er etwas kürzer ist und weil sie kei­nerlei Vor­ur­teile haben, und b) tausend Men­schen, die in jeweils tausend Situa­tionen immer den rechten Weg nehmen, weil sie Vor­ur­teile haben. Welche Gruppe wird im Durch­schnitt wohl eine höhere Lebens­er­wartung haben und wird sel­tener Opfer von Gewalt­ver­brechen: a oder b?

Nütz­liche Vorurteile

Was viele nicht ver­stehen: Es gib gute, nütz­liche Vor­ur­teile, z.B. „die fünf ara­bi­schen jungen Männer auf dem linken Weg sind bestimmt gefähr­licher als die fünf Japa­ne­rinnen auf dem rechten“, die im Ein­zelfall auch mal falsch sein können, ins­gesamt aber hilf­reich sind. Und es gibt schlechte, falsche, schäd­liche Vor­ur­teile. In vielen Vor­ur­teilen steckt kol­lek­tives, tra­diertes Wissen, das sich auch in der Intuition nie­der­schlägt (im Gehirn abge­spei­chertes Erfah­rungs­wissen unterhalb der Bewusst­seins­ebene aus per­sön­licher oder ver­erbter Erfahrung).

Ein phi­lo­so­phi­scher, d.h. reflek­tierter Geist wird ver­suchen, sich seine Vor­ur­teile 1. bewusst zu machen, sie 2. über­prüfen und dann 3. ent­scheiden (urteilen), welche er weiter pflegen und welche er ver­werfen will. Das heißt, er wird dif­fe­ren­zieren (dis­kri­mi­nieren) und Vor­ur­teile nicht pau­schal verurteilen.

Ent­scheidend ist immer, ob man bereit ist, seine Vor­ur­teile zu ändern, wenn man eigentlich merken müsste, dass sie nicht tragen. Es geht also um geistige Fle­xi­bi­lität und Beweg­lichkeit statt Erstarrung. Das Problem sind also nicht die Vor­ur­teile an sich, deren Vor­han­densein, sondern die Nicht­an­passung bei Inad­äquatheit. Genau so kommt geistige Ent­wicklung zustande. Und solche Men­schen, die ihre Vor­ur­teile immer wieder wei­ter­ent­wi­ckeln – das Urteil von heute ist das Vor­urteil von morgen -, sind auf­regend und spannend. Sich mit solchen aus­zu­tau­schen, macht Spaß und bringt im Ide­alfall beide weiter.

Reha­bi­li­tierung des Vor­ur­teils durch Hans-Georg Gadamer

Hans-Georg Gadamer (1900–2002), einer der bedeu­tendsten Denker des 20. Jahr­hun­derts, der erste Phi­losoph in der Mensch­heits­ge­schichte, der über hundert Jahre alt wurde, den nicht wenige für den gebil­detsten Men­schen seiner Zeit hielten und den ich das große Glück hatte, noch kurz per­sönlich ken­nen­lernen zu dürfen, hat in seiner Uni­versal-Her­me­neutik her­aus­ge­ar­beitet, dass wir bei jedem Ver­ste­hens­vorgang des Vor­ur­teils sogar bedürfen. Ohne Vor­urteil können wir gar nicht ver­stehen, weil das zu Ver­ste­hende immer auf etwas fällt, was schon da ist, mit dem es abge­glichen werden muss.

Das Ent­schei­dende ist also nicht, ob man Vor­ur­teile hat oder nicht, die hat man immer, sondern ob man diese immer wieder über­prüft. Beim Ver­ste­hens­prozess kommt es zu einem stän­digen Hin und Her zwi­schen dem Vor­urteil und dem zu Ver­ste­henden. Es findet ein stän­diger Abgleich statt, d.h. das Ich geht von sich weg hin zu dem zu Ver­ste­henden, dann wieder zurück zu sich, dann wieder hin …, solange bis das zu Ver­ste­hende wirklich erfasst wurde. Beim Nicht­ver­stehen wird dieser Vorgang vor­zeitig abge­brochen, bevor das zu Ver­ste­hende adäquat in sich auf­ge­nommen wurde.

Max Hork­heimer: Über das Vorurteil

Auch Max Hork­heimer (1895–1973) befasste sich in seiner 1963 erschienen Schrift „Über das Vor­urteil“ mit diesem Thema. „Das negative Vor­urteil ist mit dem posi­tiven eins. Sie sind zwei Seiten einer Sache“, so for­mu­liert er.  Vor­ur­teile werden heute meist per se als negativ emp­funden: Wenn in Debatten über Vor­ur­teile gestritten wird, geht es fast aus­schließlich um negative Vor­ur­teile. Wie ent­scheidend Vor­ur­teile für unser täg­liches Über­leben sind, gerät darüber in Ver­ges­senheit. Der moderne Alltag ist ohne Vor­ur­teile gar nicht zu bewäl­tigen. Hork­heimer: „Im Dschungel der Zivi­li­sation reichen ange­borene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschi­nerie der Vor­ur­teile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen.“

Jedes Indi­viduum hat den Wunsch die Welt zu beur­teilen, sein Ge- oder Miss­fallen an den Gescheh­nissen, seine Bewertung dieser aus­zu­drücken. Ohne Vor­ur­teile käme dies einem unmög­lichen Unter­fangen gleich. Oftmals sind kol­lektive Vor­ur­teile das Ergebnis his­to­risch gewach­sener Inter­pre­ta­ti­ons­muster, eine ganz normale Ver­ein­fa­chung, um die Vielfalt der sozialen Wirk­lichkeit irgendwie zu bündeln und zu meistern.

Fazit

Im Vor­urteil können im Ein­zelfall auch mal Fehl­vor­stel­lungen über die Welt zum Aus­druck kommen, die der Kor­rektur bedürfen. Nicht immer, aber sehr oft stecken in diesem aber nicht Fehl­vor­stel­lungen, sondern Wissen. Wich­tiges Wissen, welches wir benö­tigen a) als Vor­wissen oder Vor­ver­ständnis, um Neues, noch Unbe­kanntes, welches nie auf leeren Boden fällt, über­haupt erst ver­stehen zu können, und b) zur Orientierung.

Meine per­sön­liche Emp­fehlung auf die ein­gangs gestellte Frage lautet daher: Hören und ver­trauen Sie auf Ihre Intuition, in welcher Vor­ur­teile in Form von Wissen, in Form von kol­lek­tiven und per­sön­lichen Erfah­rungs­werten tief ver­ankert sind, und nehmen Sie den rechten Weg.

*

Lesen Sie hier

**

Bild: Flickr.com

 ***

Dieser Artikel erschien zuerst hier:  https://juergenfritzphil.wordpress.com/2017/08/17/vom-nutzen-der-vorurteile/