Von Dieter Farwick, Brigadegeneral a.D. und Publizist *)
Diese Tatsache hat zumindest in Deutschland keinen Aufschrei verursacht. Es ist der „Spiegel 43/17“, der in dem Artikel „ Das Risiko ist erheblich“ aus dem Geheimbericht folgende Kernaussagen zitiert:
„Die Fähigkeit der NATO, die schnelle Verstärkung im stark erweiterten Territorium des Verantwortungsbereichs des Oberbefehlshaber für Europa logistisch zu unterstützen, ist seit dem Ende des Kalten Krieges athrophiert…“
(Erklärung des „ Spiegel“-Wortes atrophiert: Atrophie nennen Mediziner den Schwund von Gewebe, der etwa eintritt, wenn ein Arm eingegipst wird. Es dauert lange, bis die alte Funktionsfähigkeit wiederhergestellt ist. 27 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist die logistische Infrastruktur der NATO in einem ähnlichen Zustand: nur bedingt abwehrbereit.)
„Was nützen die teuersten Waffensysteme, wenn sie nicht dorthin verlegt werden können, wo sie benötigt werden? Insgesamt ist das Risiko für eine schnelle Verstärkung erheblich“….
„gibt es keine ausreichende Sicherheit, dass selbst die NATO-Eingreiftruppe in der Lage ist, schnell und – wenn nötig – nachhaltig zu reagieren.
Der Geheimbericht aus Brüssel zeichnet ein Bild eines Bündnisses, das nicht in der Lage wäre, einen Angriff aus Russland abzuwehren, weil es seine Truppen nicht rechtzeitig in Stellung bringen könnte. Weil es in seinen Stäben zu wenig Offiziere gibt. Weil der Nachschub über den Atlantik nicht funktioniert.
Dabei ist die westliche Allianz Wladimir Putins Autokratenregime militärisch (vermutlich) und ökonomisch (mit Sicherheit) weit überlegen….,
Zwar rechnet kaum jemand damit, dass Russland tatsächlich ein NATO-Land angreifen könnte, doch nur eine funktionierende militärische Abschreckung – auch politische und wirtschaftliche (der Verfasser) -, davon sind viele in der Allianz überzeugt, wird Putin davon abhalten, politischen Druck auf die Randstaaten des Bündnisses des Bündnisses auszuüben. Auf Länder wie Estland, Litauen oder Lettland.“
Das ist eine sehr optimistische Einschätzung. Was wäre geschehen, wenn Putin aus der Übung „Zapad(Westen) 2017“ einen Überraschungsangriff gegen einen oder alle Baltischen Staaten befohlen hätte? Seine militärische Überlegenheit im September 2017 lag bei ungefähr 25:1 gegenüber den Truppen der Baltischen Staaten und der 4–5000 Soldaten der NATO, die räumlich getrennt geübt haben.
Achillesferse der NATO
Die Achillesferse der NATO ist die 65 Km lange sog. „ Suwalki Gap“ an der Grenze zwischen dem russischen Oblast Kaliningrad, Litauen, Weißrussland und Polen. In einem zügigen Zangenangriff aus dem Oblast Kaliningrad und aus Weißrussland könnte die Grenze von russischen Kräften besetzt werden, um die Unterstützung Polens für die Baltischen Staaten zu verhindern – in Kombination mit einer Seeblockade in der Ostsee. Ein Szenario, das dem Szenario der Großübung „Zapad 2017“ sehr nahekommt – ein Musterbeispiel für russisches „information warfare“:
Demoralisierung und Destabilisierung der Baltischen Staaten und ihrer Bevölkerung,. Das Signal: Widerstand ist zwecklos.
Fazit: Der Bericht des „ Spiegel“ deckt einen Offenbarungseid der NATO auf, über den man nicht zum „ Business as usual“ übergehen kann.
Wer trägt die politische und militärische Verantwortung für diese Katastrophe?
Die NATO und ihre Stäbe voller Diplomaten und hoher Offiziere aus allen Mitgliedstaaten. Dazu kommen ständige Botschafter und ständige militärische Spitzenvertretungen von Mitgliedstaaten.
Warum wurde von diesen nichts bemerkt und nicht Alarm gegeben, was sich in 27 Jahren in der NATO bis hin zu diesem Offenbarungseid getan hat – besser: nicht getan hat?
Haben die nationalen Geheimdienste nichts gemeldet, oder wurden ihre Berichte ignoriert?
Waren die NATO-Übungen nicht realistisch genug, um die gravierenden Mängel zu erkennen?
Der Hinweis auf die von der Bevölkerung geforderte „ Friedensdividende“ ist eine schwache Rechtfertigung.
Auch in Demokratien muss die politische Führung die Bevölkerung über die Realität informieren und sie von der Notwendigkeit von – auch unpopulären – Maßnahmen überzeugen.
In diesem Punkt haben die Regierungen der NATO-Mitgliedstaaten eindeutig versagt.
Wir waren „ von Freunden umzingelt“.
Wer trägt die Verantwortung? Wer wird zur Rechenschaft gezogen? Niemand. Es sind zu viele Schuldige in der Politik und im Militär.
Was ist zu tun?
Von Schnellschüssen ist abzuraten – à la Frau von der der Leyen, 100 Kampfpanzer für das deutsche Heer zu entmotten – zu hohen Kosten und ohne verfügbares Personal.
Politisch-psychologischer Paradigmenwechsel
Der Wechsel von Kriseneinsätzen in einen bewaffneten Konflikt ist ein Paradigmenwechsel, der hohe Anforderungen an die Erziehung und Ausbildung von Soldaten stellt.
Sie müssen den Wechsel von „Schützen und Helfen“ zum „Töten und getötet werden“ mental und psychisch verkraften – wie auch die gesamte Bevölkerung.
Verteidigung des Landes oder des Bündnisses setzt Behauptungs- und Verteidigungswillen voraus, die heute leider in westlichen Ländern unterentwickelt sind. Wofür kämpfen? Sterben für Tallinn? Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt heute einen militärischen Einsatz zur Hilfe anderer Staaten ab.
Wer kann eine Trendwende erreichen?
Der Gedanke einer Werte- und Solidargemeinschaft – wie es die NATO ist – muss wieder gestärkt werden. Das Ansehen des Soldaten muss wieder verbessert werden. Das geht nicht mit Mätzchen à la von der Leyen, die das Ansehen der Bundeswehr und ihrer Soldaten schwer geschädigt haben – in Deutschland und bei NATO-Partnern.
Der Kampf um Leben und Tod ist durch die jahrelangen Kriseneinsätze „vergessen“ worden. Junge Offiziere im Heer haben nur noch vage Vorstellungen vom
„Gefecht der verbundenen Waffen“
in unterschiedlichem Gelände. Die Fähigkeit zu diesem Gefecht kann nur in der Praxis von Übungen im Gelände erworben werden. Nur dort gibt es die Friktionen, die ein Gefecht maßgeblich beeinflussen können.
Die Führung des „Gefechts der verbundenen Waffen“ war ein Qualitätsmerkmal des deutschen Heeres – wie der Jointness auf der strategischen Ebene.
Dieses Wissen und Können ist verschüttet. Zum Glück gibt es noch ältere Offiziere, die noch Bilder des „Gefechts der verbundenen Waffen“ im Kopf haben. Außerdem gibt es in den Archiven gute Übungsanlagen, die man wieder entstauben und verwenden kann.
Ohne diese mentale und psychische Erziehung und Ausbildung sind technische und quantitative Verbesserungen von Waffen und Ausrüstung von geringerem Wert.
Die Mitgliedsstaaten können ihre nationalen Beurteilungen und Planungen erst beginnen, wenn die NATO ihre Überlegungen weitgehend abgeschlossen hat.
Politisch-militärische Optionen
Die NATO muss die militärische Zusammenarbeit mit Schweden und Finnland intensivieren – besonders im Ostseeraum.
Die NATO muss eine in die Tiefe gehende politische und militärische Beurteilung der Lage anstellen. Der Planungshorizont von Streitkräfteplanungen muss 30 Jahre umfassen.
Die entscheidende Frage:
# Sind die NATO-Mitgliedstaaten bereit und fähig, die Konsequenzen aus dem Geheimbericht zu ziehen?
# Sind die NATO-Mitgliedstaaten zu einer engeren Rüstungskooperation bereit – ohne verbindliche Zusagen der beteiligten Staaten bzw. Parlamente?
# Stehen die NATO-Mitgliedsstaaten zu der kollektiven Landes- und Bündnisverteidigung? Sterben für Tallinn?
# Sind die NATO und ihre Mitgliedstaaten bereit und fähig, eine dynamische Vorneverteidigung aufzubauen, die schnelle, kurze Schläge über die Ostgrenze des Bündnisses gegen Gefechtsstände, Führungs- und Kommunikationseinrichtungen nach dem Prinzip „ hit and run“ durchführen kann?
# Übernehmen starke NATO-Mitgliedsstaaten Verteidigungsabschnitte auf dem Territorium der Baltischen Staaten, Polens, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens?
# Sind die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten bereit, die USA bei den NATO-Ausgaben deutlich zu entlasten, die seit Jahren ca. 72 Prozent der Ausgaben schultern? Zusätzlich zu ihrem Engagement im pazifisch-asiatischen Raum, von dem Europa sicherheitspolitisch profitiert?
# Was müssen Streitkräfte der NATO-Mitgliedstaaten in dem Planungszeitraum leisten können? Was ist genug? In welcher Reaktionszeit?
# Kann die NATO endlich ihre Mitgliedstaaten überzeugen, durch Lastenteilung und Rollenspezialisierung Synergieeffekte zu erzielen?
# Brauchen alle Mitgliedstaaten alle Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine? Bei den Seestreitkräften gibt es gute Ansätze der Aufgabenteilung zwischen Belgien und den Niederlanden – ähnlich wie bei den Landstreitkräften zwischen Deutschland und den Niederlanden.
# Welche Entwicklungen sind durch Digitalisierung und Robotertechnologie vorherzusehen?
# Welche Auswirkungen haben „ Künstliche Intelligenz“, „ Cyber warfare“ und „information warfare“? Durch letztere sollen Bevölkerung und Soldaten eines möglichen späteres „Angriffsziels“ destabilisiert und demoralisiert werden – siehe Ukraine/Krim.
# Wie können die offensiven und defensiven „Cyber warfare-Aktivitäten“ verbessert werden?
# Wie können die Aufklärungsmöglichkeiten verbessert werden – einschl. Spione und Satellitenaufklärung, um Angriffsvorbereitungen früher zu erkennen?
# Können weiterentwickelte Kampfdrohnenschwärme bemannte penetrierende Kampfflugzeuge ablösen?
# Ist es sinnvoll, Übungen zunächst auf die Ebene der selbständig kämpfenden Brigaden zu beschränken?
# Wie kann die Interprobility zwischen den Teilstreitkräften der NATO-Mitgliedsstaaten verbessert werden
# In welchen Ländern soll schweres Gerät und Waffen eingelagert werden, um den kritischen Transportbedarf über große Strecken zu reduzieren – wie es früher bei dem System „Reforger“ praktiziert wurde – und die Reaktionszeit zu verkürzen?
# Können dezentrale territoriale Kräfte in den Anfangszeiten eines Krieges durch intelligenten Widerstand Zeit für Verstärkungen gewinnen und dann gemeinsam mit den Verstärkungskräften verteidigen? Also Kleinkriege als integrierte Bestandteile „Klassischer Kriege“, wie es der Verfasser in seinem Buch „Kleinkriege, die unterschätzte Kriegsform. Warum die Zukunft von Kriegen von Guerillas, Partisanen und Hackern gehört“ fordert. Heute muss man die Terroristen hinzufügen.
# Wie und wann können alle Mitgliedstaaten in verbindlichen Schritten die Benchmark von zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes erreichen?
# Welche Ressourcen können und werden die Mitgliedstaaten für den gesamten Planungszeitraum verbindlich zusagen können?
# Müssen europäische Staaten wieder über die Einführung der Wehrpflicht nachdenken, um Qualität und Quantität ihrer Soldaten wieder zu verbessern – besonders für den Nachwuchs für Offiziere und Unteroffiziere?
Zusammenfassung und Ausblick
Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, ob die NATO-Mitgliedstaaten die derzeitige Situation verbessern können – auch wenn es viel Geld und politische Durchhaltefähigkeit kosten wird.
Es ist eine Herkules-Aufgabe, deren komplette Umsetzung ein‑, zwei Jahrzehnte dauern wird.
Die Versäumnisse von rd. 27 Jahren können nicht durch Knopfdruck ausgemerzt werden. Politische und militärische Führung müssen den erwähnten Paradigmenwechsel ebenfalls vollziehen – mit Personal, das den steigenden psychischen und politischen Anforderungen geistig und charakterlich gewachsen ist. Dieses Personal sollte zeitnah zur Verfügung stehen.
Bei der Rüstung sollten die Waffen und Gerät vorrangig beschafft werden, die in allen Einsatzarten – Kriseneinsätze, Landes-und Bündnisverteidigung sowie Heimatschutz – benötigt werden.
Die europäischen Mitgliedstaaten dürfen die Teilhabe an der nuklearen Abschreckung nicht aufgeben.
Die USA bleiben – bei aller berechtigten derzeitigen Kritik – der Garant unserer Sicherheit und Freiheit.
Die angemahnte ausreichende Sicherheitsvorsorge schließt Gespräche mit Russland im NATO-Russland-Rat und in der OECD ein.
Die derzeit 29 NATO-Staaten haben die Menschen sowie das industrielle Potential, schrittweise eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen.
Eine Kapitulation vor dem derzeitig stark erscheinenden Russland ist keine Alternative, wenn die nachfolgenden Generation – wie wir – ein Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit erfahren sollen.
Entscheiden wird der politische Wille der Europäer, die sich Jahrzehnte unter dem Schutzschirm der USA gut eingerichtet haben.
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