Als die rote Fahne über dem Kreml niederging, glaubte man für eine geschichtliche Sekunde an Perestroika und Demokratie. Doch diejenigen, die im Osten unter erheblichen Risiken gegen das unmenschliche System gekämpft hatten, wurden sofort zur Seite geschoben, und zwar in allen Ostblockstaaten. Auch in Deutschland kennen wir dies Phänomen.
(Von Adorján F. Kovács)
Als vor bald dreißig Jahren der kommunistische Ostblock unterging, fiel Beobachtern sofort auf, dass die Dissidenten, also diejenigen, die im Osten unter erheblichen Risiken gegen das unmenschliche System gekämpft hatten, sofort zur Seite geschoben wurden und im neu entstehenden liberal-demokratischen System sich plötzlich, nach ein paar Retuschen, die ehemaligen Kommunisten in hohen Entscheidungspositionen wiederfanden. Das galt für alle Ostblockstaaten. Als Beispiele seien für Ungarn die Namen Gyula Horn und Ferenc Gyurcsány, für Polen Aleksander Kwaśniewski und Leszek Miller genannt, und auch für Deutschland muss allein das nicht nur finanziell dubiose Überleben einer Partei wie der PDS als Skandalon gewertet werden („der elende Rest dessen, was als überwunden galt“).
Doch wirklich nachdenklich muss einen politisch interessierten Menschen machen, dass diese kommunistischen Politiker nicht nur geduldet, sondern hofiert und ausgezeichnet wurden. Horn, ein aktiver Unterdrücker des ungarischen Aufstands von 1956, bekam den renommierten Karlspreis; andere Beispiele lassen sich leicht finden. In Deutschland war die Aufwertung der PDS durch die Vereinigung mit einer westdeutschen kommunistischen „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ WASG zur anerkannten Partei Die Linke ein verdächtiges Zeichen dafür, dass den liberalen Demokraten Westeuropas die Kommunisten sympathischer waren als die Antikommunisten. Diese Antikommunisten, um nur einen Namen wie Vera Lengsfeld zu nennen, gerieten ins machtpolitische Abseits. Und wenn sie doch Wahlsiege wie der Fidesz in Ungarn oder die PiS in Polen aufzuweisen hatten, dann wurden sie sofort vom liberal-demokratischen Establishment in auffällig rabiater Weise bekämpft.
Die unheimliche Allianz
Diese Sachverhalte lassen daran denken, dass es Gemeinsamkeiten von Kommunismus und liberaler Demokratie geben könnte, denn es ist ja nicht so, dass die westlichen so genannten „Sozialisten“, also in der Wolle gewaschene Kommunisten, allein für diese Politik verantwortlich wären. Das wäre ja noch zu verstehen. Nein, es sind gerade die Vertreter der liberalen Demokratie, die in allen wesentlichen Parteien unangefochten anerkannt wird, deren Politik zu einer immer auffälligeren Ähnlichkeit zwischen beiden Systemen – dem des Kommunismus und dem der liberalen Demokratie – führt.
Das Totschlagargument der fundamentalen System-Unterschiede, die kein vernünftiger Mensch leugnen würde, ist unbefriedigend: Während liberale Demokraten vor allen möglichen gefühlten oder vermuteten Gefahren wie Xenophobie, Nationalismus, Intoleranz und ähnlichem lautstark warnen und aggressiv dagegen vorgehen, verwundert es schon, warum die sehr leicht erkennbare Gefahr, nämlich die immer häufigere Wahrnehmbarkeit von Entwicklungen wie im Kommunismus, vollständig ignoriert wird.
Wie die Gefahr zu erkennen ist
Der polnische Philosoph und Politiker Ryszard Legutko hat 2012 genau zu dieser Gefahr ein Buch veröffentlicht, das nun im Karolinger-Verlag in einer guten Übersetzung von Krisztina Koenen erschienen ist. Legutko ist Kenner der klassischen griechischen und der politischen Philosophie. Er lehrt an der Jagellonen-Universität in Krakau. Unter dem Kommunismus hat er eine oppositionelle Samisdat-Zeitschrift herausgegeben, nach der Wende war er kurz Bildungsminister in einer konservativen Regierung und lange Zeit Mitglied des Europäischen Parlaments. Er kennt also die Problematik aus Theorie und Praxis.
Legutko ordnet seine Untersuchung der „totalitären Strömungen in liberalen Gesellschaften“, so der Untertitel des Buches, nach folgenden Themenbereichen an, die er nacheinander vergleichend analysiert: Geschichte, Utopie (Erziehung), Politik, Ideologie und Religion. Nehmen wir die Geschichte: Während für die Kommunisten evident war, dass mit dem Kommunismus die höchste Entwicklung aller Gesellschaften überhaupt erreicht war und jede gegenteilige Meinung von ihnen sofort als verbrecherisch gebrandmarkt wurde, ist dies bei der liberalen Demokratie kaum anders. Das kann jeder selber an sich ausprobieren, der öffentlich zu äußern wagt, dass er sich eine andere Entwicklung als diejenige einer liberalen Demokratie überhaupt vorstellen kann. Wie im Marxismus werden Abweichungen von der herrschenden Ideologie immer weniger geduldet – natürlich unter dem Mantel der Toleranz. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat zum Beispiel von einer „illiberalen Demokratie“ gesprochen, die bestimmte Fehler der liberalen Demokratie (wie die PC, die Vulgarisierung des Bildungssystems oder die Selbstauslieferung an die Ökonomie) vermeiden soll, und hat dafür nur wütende Angriffe der liberalen Demokraten bis hin zu konkreten Drohungen gegen eine legitim gewählte Regierung geerntet.
Wer verzichtet schon freiwillig auf Macht?
Legutko schreibt wunderbar einfach, dabei aber niemals vereinfachend. Man merkt, dass hier ein langes Nachdenken zu klaren Ergebnissen geführt hat, die sorgfältig begründet werden, wobei auch Gegenargumente berücksichtigt, abgewogen und gegebenenfalls widerlegt werden. Nicht unerwartet konzentrieren sich die zunehmend negativen Eigenschaften der liberalen Demokratie in den Institutionen der EU, deren Reformierbarkeit Legutko skeptisch sieht. Wer verzichtet schon freiwillig auf Macht? Und wer auf die Biografien von Leuten wie Barroso und Mogherini schaut, erkennt das geschilderte Schema von den gewandelten Kommunisten wieder, die zu verlässlichen Partnern der liberalen Demokratie bei der Schaffung des „neuen Menschen“ geworden sind – auch eine Gemeinsamkeit von Kommunismus und liberaler Demokratie.
Denn Legutko weiß aus eigener Erfahrung, dass die Menschen, die gegen den alle Kulturwerte zerstörenden Kommunismus aufgestanden sind, dies in der Regel für Gott, Familie, Volk, Heimat und Tradition getan haben, alles Werte, die auch einem liberalen Demokraten wenig bis nichts bedeuten. Das Problem geht tiefer, und Legutko argumentiert, dass „der moderne Mensch, der beide Systeme entwickelt hat, ein Mensch der Mittelmäßigkeit ist, nicht von Natur aus, sondern als Ergebnis eines Programmes. Von Anfang an wurde von ihm erwartet, den großen moralischen Herausforderungen gleichgültig gegenüberzustehen und der Gefahr des moralischen Absturzes nicht bewußt zu sein. […] Beide Systeme stellten sich den Menschen als eine Kreatur mit gewöhnlichen Eigenschaften vor, und gerade diese Gewöhnlichkeit sollte ihn dafür anfällig machen, diese Welt durch seine eingeschränkte Sicht zu betrachten und Ideale, Kunst und Bildung auf sein eigenes beschränktes Maß herunterzuziehen – im Gegensatz zur alten Auffassung, die ihnen eine erhöhende Kraft zusprach.“ Die Barbarei des Kommunismus war vorkulturell, diejenige der liberalen Demokratie ist postkulturell.
Wie immer in den wesentlichen Entscheidungen der Weltgeschichte geht es um das Menschenbild. Wohin die Reise geht, kann Legutko natürlich nicht sagen. Geht sie in Richtung der „Verschmelzung des Menschen mit dem System und des Systems mit dem Menschen“? Oder wird es ein Aufbegehren geben? Letztlich wird es davon abhängen, ob es im Bewußtsein des Menschen eine Vorstellung von etwas Höherem gibt, das sein Menschenbild aus der Mittelmäßigkeit befreit. Mit diesem Buch, dessen Lektüre auf jeder Seite ein Augenöffner ist, ist eine fulminante Analyse der Gefahren gelungen, die die liberale Demokratie, so wie sie heute verstanden wird, in sich birgt. Es wundert nicht, warum dieses Meisterwerk nicht in einem der großen deutschen Mainstream-Verlage erschienen ist, die sich eigentlich ob seiner Originalität darum hätten reißen müssen. Man kann dem Buch nur möglichst viele Leser wünschen.
Ryszard Legutko, Der Dämon der Demokratie: Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften, deutsch von Krisztina Koenen, Wien und Leipzig 2017, 192 Seiten, gebunden, 23 Euro.