Erdogans (un)durchsichtige Macht­spiele — Auftakt für neuen Groß­krieg in Syrien?

Die Kurden sind das größte Volk ohne Staat auf dieser Welt. Die Tra­gödie des Kampfes um einen eigenen Staat dauert schon lange. Im Jahr 1639 wurde im Vertrag von Qasr‑e Schirin Kur­distan zwi­schen dem Osma­ni­schen Reich und dem Reich der Safa­widen auf­ge­teilt. Seitdem ist „Kur­distan“ nur noch eine ideelle Größe. Heute liegt das Gebiet Kur­distan teil­weise in Syrien, in der Türkei, im Iran und im Irak. Besondere Span­nungen gibt es im tür­ki­schen Teil Kur­di­stans. Die Kurden erhoben sich dort mehrfach gegen die tür­kische Herr­schaft:  Der Scheich Said Auf­stand 1925, 1930 der Ararat-Auf­stand und 1938 der Dersim-Auf­stand wurden aller­dings von der weit über­le­genen tür­ki­schen Armee nie­der­ge­schlagen. Aus dieser Zeit ent­stand die von der Türkei als ter­ro­ris­tisch ein­ge­stufte PKK. Zwi­schen dieser Partei und der Türkei kommt es immer wieder zu Konflikten.
Im Syrien- Krieg hoffte Erdogan auf den Fall Assads. Er rechnete damit, in den Wirren des Unter­gangs Syriens kur­dische Gebiete für die Türkei hinzu gewinnen zu können. Doch die Dinge ent­wi­ckelten sich anders, als gedacht. Assad sitzt fest im Sattel, fester sogar, als vorher.
Die kur­dische YPG kämpfte gegen den IS und die anderen Söld­ner­truppen auf Seiten der regu­lären syri­schen Armee Assads. Sie haben sich Ruhm und Ehre und einen bedeut­samen Sieg auf Seiten Syriens erkämpft. Dem­entspre­chend haben die Kurden in Syrien nun einen guten Stand. Genau das kann Erdogan über­haupt nicht brauchen. Er befürchtet, dass die Kurden auf ihrem Gebiet in Syrien wei­ter­ge­hendere Rechte erhalten könnten. Bereits jetzt soll schon eine explizit kur­dische Streit­kraft den Norden Syriens, und damit auch die kur­dische Grenze bewachen und verteidigen.
So etwas ist die Keim­zelle einer auto­nomen Provinz und ein Magnet und Ansporn für die Kurden auf tür­ki­scher Seite. Mit kur­di­schen Grenzern wäre die Grenze in den kur­di­schen Teil der Türkei für Kurden leichter pas­sierbar. Das heißt, Wider­stands­kämpfer und PKK Leute können mit Unter­stützung der kur­di­schen Grenzer auf syri­scher Seite viel leichter die Grenze passieren.
Erdogan reagiert, wie man ihn kennt: zornig, brutal, aber nicht dumm.
Für die kom­menden Tage kün­digte er einen Angriff auf eine kur­dische Enklave im Norden Syriens an, die von der kur­di­schen YPG-Miliz kon­trol­liert wird. Man wolle die süd­liche Grenze der Türkei von Ter­ro­risten säubern, war die Begründung. Die kur­dische Grenz­truppe wolle er zer­stören, bevor sie über­haupt gebildet wird. Dazu würde die tür­kische Armee mit „syri­schen Oppo­si­ti­ons­kräften“ zusammenarbeiten.
Türkei: Erdogans Griff nach der Alleinherrschaft (Länderporträts) von [Gottschlich, Jürgen]Gleich­zeitig legt sich Erdogan aber jetzt auch mit den USA an. Dass die Ver­ei­nigten Staaten den IS her­an­ge­züchtet haben, ist mitt­ler­weile jedem bekannt. Erdogan stellt nun die YPG in eine Linie mit dem IS und den anderen Söldner-Ter­ro­ris­ten­truppen und rekla­miert die Ver­letzung der tür­ki­schen Grenze durch die YPG-Milizen. Als NATO-Mit­glied hat er Anspruch auf Unter­stützung durch die NATO. In einer Rede rief er vor den Abge­ord­neten: „Hallo NATO! Ihr habt die Pflicht, Euch gegen die zu stellen, die die Grenzen Eurer Mit­glieder verletzen!“
Inter­essant ist die Aussage, die tür­kische Armee werde mit syri­schen Oppo­si­ti­ons­kräften zusam­men­ar­beiten. Dieser schöne Aus­druck bezeichnet genau die von den USA aus­ge­bil­deten, bewaff­neten und bezahlten Söldner, die Assad im Auftrag der USA stürzen sollten, in Syrien gehaust haben wie die Bar­baren und zum großen Teil erst zum IS über­ge­laufen und ange­sichts der Nie­derlage und der Gefahr einfach abge­knallt zu werden, wieder zu anderen Milizen über­ge­laufen sind.
Es ist nicht davon aus­zu­gehen, dass Erdogan dieser Umstand nicht bekannt ist. Also liegt der Ver­dacht nahe, dass die Kräfte in den USA, die hinter dem Umsturz­versuch Syriens und der Absetzung Assads standen, auch hier wieder im Hin­ter­grund die Fäden ziehen.
In diesem Zusam­menhang ist auf das berühmte Statement des Generals und NATO-Ober­be­fehls­habers im Ruhe­stand, Wesley Clark zu ver­weisen, der mehrfach öffentlich erzählt hat, wie er bei einem Besuch im Pen­tagon von der Stra­tegie der USA erfuhr:
«Und dann nahm er ein Papier von seinem Schreib­tisch und sagte zu mir: „Ich habe gerade diesen Merk­zettel aus dem Büro des Ver­tei­di­gungs­mi­nisters bekommen, und hier steht: wir werden 7 Länder angreifen und deren Regie­rungen innerhalb von 5 Jahren stürzen.“ „Wir werden mit dem Irak beginnen und dann nehmen wir uns Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, den Sudan und den Iran, sieben Länder in fünf Jahren.“»
 

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Sehen wir hier den nächsten Schachzug der USA, die jetzt ver­deckt und unter nur schein­barem Dissens, zusammen mit der Türkei ihre Stra­tegie der 7 zu stür­zenden Länder weiter ver­folgt? Ist es eine abge­spro­chene Stra­tegie, dass die Türkei jetzt auch noch die NATO mit in einen neu zu ent­fa­chenden Groß­krieg hin­ein­zieht? Soll Syrien doch noch zu Fall gebracht werden, um dann leich­teres Spiel mit dem Iran zu haben? Bei genauem Hin­sehen spricht einiges dafür, dass die Falken in Amerika sich nicht mit der Nie­derlage in Syrien abfinden und einen neuen, diesmal grö­ßeren Krieg anzetteln wollen. Syrien, der Libanon und der Iran stehen in Nahost nach wie vor auf der Erle­di­gungs­liste. Es wäre naiv zu glauben, dass die Groß­macht USA einen so großen Plan mit so hohen Kosten einfach auf­geben. Das ange­schlagene Amerika kämpft mit allen Mitteln um den Erhalt seiner Macht. Es gibt viel zu tun für die CIA.
Ande­rer­seits ist auch Prä­sident Assad nicht gerade begeistert von der neuen Grenz­truppe im Norden Syriens. Die von den Ame­ri­kanern auf­zu­bauende Truppe wird zum über­wie­genden Teil aus Kurden bestehen. Wie gesagt, würde das die Auto­nomie-Träume dieses Volkes in Nord­syrien beflügeln. Auch Assad möchte keinen neuen Brandherd in Gestalt einer um ihre Unab­hän­gigkeit rin­gende Keim­zelle “Kur­distan” im Land haben.
Die Sta­bi­lität der Region würde wieder unter­mi­niert. Genau das liegt aber im Interesse Erdogans und der Kräfte hinter der CIA. Russland und Assad halten dagegen. Russ­lands Außen­mi­nister Sergej Lawrow warnte bereits deutlich vor einer „Teilung Syriens“. Ein Sprecher des syri­schen Außen­mi­nis­te­riums pro­tes­tierte am Montag gegen die Ver­letzung der „Sou­ve­rä­nität und der ter­ri­to­rialen Inte­grität und eine ekla­tante Ver­letzung des Völ­ker­rechts”. Dies sei ein Teil der destruk­tiven Politik der USA, die Region zu desta­bi­li­sieren und Kon­flikte anzuheizen.
Prä­sident Erdogan könnte bei der ganzen Gemengelage sogar gewinnen. Sollte das hier gezeichnete Sze­nario tat­sächlich beab­sichtigt sein, könnte er der USA ihm im Gegenzug zu einer Koope­ration die Zusage abnö­tigen, die “Kur­den­frage” letzt­endlich in seinem Sinne zu lösen. Im “Sei­ten­wechseln” ist der alte Fuchs nicht unerfahren.
Die offi­zielle Reaktion der NATO auf Erdogans Appell war diplo­ma­tisch. Man bezeichnete die Türkei als „geschätzten Ver­bün­deten“ und man werde sich für die Ver­tei­digung des Landes ein­setzen. Die NATO sei aber nicht in Syrien „am Boden“ präsent. Erdogan müsse sich mit seinem Anliegen an die von der USA geführte Koalition gegen den IS wenden, zu der viele Länder gehören.