Ankaras geheuchelte Charme-Initiative
Was ist das denn? Versöhnliche Töne aus Ankara? Nein, in Wirklichkeit soll das ablenken von den wirtschaftlichen Problemen der Türkei.
„Ich erwarte ein viel besseres Jahr 2018“ – so lautet die Prognose des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu mit Blick auf die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin. Doch so hoffnungsvoll die Vorhersage des höchsten türkischen Diplomaten auch klingen mag, sie entbehrt angesichts der momentanen politischen Umstände in seinem Heimatland etlicher Grundlagen. Die wichtigste hiervon ist eine einwandfrei funktionierende und vor allem unabhängige Jurisdiktion. Eine dringend benötigte Rechtssicherheit fehlt.
Cavusoglu ließ denn auch seinen anfänglichen Schalmaientönen sehr schnell wieder altbekannte Beschimpfungen folgen: Deutschland, so konstatiert der türkische Außenminister im selben Interview, lasse keine Gelegenheit aus, die Türkei anzugreifen. Vertrauenserweckend ist eine solche Argumentation nun wirklich nicht!
Die jüngsten Spannungen zwischen der deutschen und der türkischen Regierung haben eine alte Frage neu aufgeworfen: Wohin gehört das Land, das sich geographisch über zwei Kontinente erstreckt? Ost oder West, Asien oder Europa?
Keine klaren Zeichen der Veränderung
Warum, so fragt man sich, sind in den vergangen Tagen aus Ankara immer wieder solch milde, ja eigentlich pseudo-milde Töne zu vernehmen? Präsident Erdogan hatte sich kurz vor Neujahr ähnlich geäußert wie jetzt sein Außenminister. Hier dürfte wohl der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir richtig liegen, der die Entspannungssignale aus Ankara als Zeichen einer wirtschaftlichen Not des Landes interpretierte.
In der Tat ist die türkische Wirtschaft auf schlechtem Kurs. Europäische Unternehmen haben wegen fehlender Rechtssicherheit ihre Investitionen im Land gedrosselt, die türkische Lira verliert kontinuierlich an Wert, der innertürkische Bauboom ist abgeflaut, und zudem bleiben die erhofften Touristen – gerade aus Deutschland – aus.
Nach Mekka beten, an Europa orientieren – It´s the economy, stupid
Um es deutlicher zu sagen: Die Türkei braucht Deutschland (und Europa) – umgekehrt wird kein Schuh draus, auch wenn Erdogan die Backen aufbläst.
Fürwahr, schon immer war die Türkei Umschlagplatz für Produkte aus Fernost: Nelken, Anis, Muskat, Pfeffer … Nicht nur Gewürze, sondern vor allem auch Heilkräuter, getrocknete Rosenblätter und Pistazien, getrocknete Auberginen, rote Paprika, grüne Okraschoten usw. – eine orientalische Vielfalt wie das Märchen aus 1000-und-einer-Nacht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit und in Wirklichkeit ein agrarischer Nebenmarkt. Der türkischen Wirtschaft fehlen Technik und Technologie.
Europa ist ein wichtiger Markt für die Türkei. Und er könnte noch viel größer sein. Aber was das Land dafür braucht, ist mehr Bildung und technisches Know-how. Jede betroffene Berufsgruppe in der Türkei könnte von Europa profitieren. Um höchste Qualität zu produzieren, braucht die Türkei die beste Technologie. Und die gibt´s nun mal im Westen.
Mit Erdogan zurück in die Vergangenheit
Doch Erdogan ist dabei, die Uhr zurückzudrehen. Als Mustafa Kemal Atatürk 1923 die Republik ausrief und vor fast hundert Jahren die moderne Türkei gründete, lautete seine Botschaft: Weg vom religiös ausgerichteten Sultanat hin zum westlich orientierten Laizismus!
Atatürk mißtraute dem Einfluß, den die religiösen Führer im Land vor allem auf die Landbevölkerung hatten. Und ihm war klar, daß die einflußreichsten Vertreter des Islam eine moderne demokratische Gesellschaft in der Türkei ablehnen. Deshalb schafft er vollendete Tatsachen – mit einer konsequenten Laisierung.
Für den Republikgründer war klar: Die Zukunft der Türkei liege in Europa.
Ganz anders nun bei seinem Nachfolger Erdogan: Die westlichen Werte und die Politik des Staatspräsidenten erscheinen nicht kompatibel bzw. klaffen immer mehr auseinander. Erdogans Politik hat nichts mehr mit den von Atatürk geschaffenen Grundlagen zu tun.
Erdogan setzt, wie viele muslimische Türken, den Laizismus gleich mit Unglauben. Diese Stimmung in der religiös konservativen Mehrheitsgesellschaft hat Erdogan sich schon als junger Politiker zunutze gemacht. Bereits in seinen frühen Wahlkämpfen hat er sich gegen den Laizismus ausgesprochen:
„Man kann nicht zugleich laizistisch und muslimisch sein. Entweder bist du ein Laizist, oder du bist ein Muslim.“
Erdogan als neuer Anführer der islamischen Weltgemeinschaft gefeiert
Erdogan rezitiert perfekt aus dem Koran. Das kommt an bei der religiös konservativen Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Denn daß ein hochrangiger Politiker öffentlich als gläubiger Muslim auftritt, war lange Zeit in der Türkei ein Tabu. Kein Geheimnis: Die Re-Islamisierung der Türkei ist längst eingeläutet. Die „Ungläubigen“ werden schon jetzt – in finsterster Tradition des Islam – verfolgt, gequält, gefoltert oder ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt.
Viele religiös konservative Türken sehen heute in Erdogan eine religiöse Retter-Figur.
Sie haben die Kemalisten mit ihrer laizistischen Politik als repressiv empfunden und glauben, Erdogan befreie die Religion aus ihrer Unterdrückung. Wie Erdogan von vielen fast schon mit dem Prophet gleichgesetzt wird, kann man mit einem Satz ausdrücken, der heute in türkischen Islamkreisen so etwas wie ein Glaubensbekenntnis gilt:
„Wir haben Allah, wir haben unseren Propheten Hz. Muhammed Mustafa und jetzt Recep Tayyip Erdogan!“
Sie assoziieren mit diesen Worten eine von Gott gewollte neue Türkei mit Recep Tayyip Erdogan an der Spitze.
Die religiöse Rolle, die Erdogan hier zugesprochen wird, wird von ihm selbst verstärkt, indem er regelmäßig ein religiöses Gedicht vorträgt, das inzwischen zu seinem wichtigsten Slogan geworden ist: „Sag bloß nicht Schicksal, es gibt ein Schicksal über dem Schicksal. Was auch immer geschieht, die Entscheidung steigt vom Himmel herab.“
Und Erdogan „gibt den Affen Zucker“: Er tritt auf, als ob er eine besondere Führungsrolle in der gesamten islamischen Welt anstrebt – oder sogar schon wahrnimmt. Eine Position, der viele Muslime folgen. Besonders in Syrien, Palästina und in islamischen Regionen in Afrika wird Erdogan bereits als neuer Anführer der islamischen Weltgemeinschaft gefeiert
Islamisierung in vollem Gange
Der „charismatische Führer“, der Protagonist Erdogan, versucht mit Hilfe der Imame (im In- und Ausland, vor allem Deutschland), sein Volk – er sieht es tatsächlich als „sein“ Volk – ganz systematisch auf die Umwandlung von einer säkularen in eine islamische Gesellschaft vorzubereiten. Sein Weltbild, das er zunehmend vermittelt und in Schulen und Universitäten lehren läßt, ist für seine Untertanen eingängig: Seine Gegner im Inland sind „Verräter“, also vom (westlichen) Ausland gesteuerte böse Antagonisten. Wer für Erdogan ist, gehört zu den Guten, die anderen sind die Bösen („der Fluch Allahs wird sie treffen“).
Die dramatischen Ereignisse seit dem gescheiterten Putschversuch haben seine Position gefestigt: Recep Tayyip Erdoğan ist der mächtigste Politiker der Türkei seit Mustafa Kemal Atatürk und ein Mann des Volkes – zumindest was die Herkunft angeht (Sohn eines Hafenarbeiters).
Nun residiert Erdoğan in einem 1000-Zimmer-Palast in Ankara. Seine politischen Entscheidungen begründet er gerne damit, er sei der erste direkt vom Volk gewählte Präsident. Er wolle das politische System seines Landes umbauen. Die parlamentarische Demokratie sei überholt, sagt er, das Volk brauche ein Präsidialsystem mit einem starken Mann an der Spitze. Und dieses System baut er jetzt systematisch auf – vor allem bei der Zukunft des Landes, der Jugend.
Und so setzen die „Reformen“ konsequent bei der Bildung an
Schon Grundschüler befassen sich – anders als die vom Staatsgründer Kemal P. Atatürk gewollte laizistische „Lehre“ – nun z. B. mit dem „Dschihad“. Das Wort werde mißbraucht, meint Erdogan, weshalb Kinder lernen sollten, was es wirklich bedeute. Für die Kritiker Erdogans bedeutet dies das Ende des Laizismus.
Die Entlassungswelle nach dem gescheiterten (oder inszenierten?) Putsch hält nach wie vor an. Besonders betroffen: das Schulsystem. Tausende Lehrer wurden bereits vom Dienst suspendiert, viele wurden zwangsversetzt. Die Islamisierung des türkischen Schulsystems ist in vollem Gange.
An fast allen türkischen Schulen wurden während der Sommerferien Lehrer gefeuert oder suspendiert, etwa 40.000 insgesamt. Sie alle sollen der kurdischen PKK oder der Gülen-Bewegung nahestehen – und damit auch den Putschversuch vom 15.Juli zumindest ideell unterstützt haben. „Zeigt keine Nachsicht mit Lehrerkollegen, die der Gülen-Bewegung oder der PKK helfen. Laßt sie nicht in eurer Mitte leben!“, forderte Ministerpräsident Yildirim die Türken in einer Rede zum Schulstart (im letzten September) auf.
Die Entlassungen gehen immer noch weiter. Eltern wissen oft nicht, ob überhaupt noch Lehrer da sind, wenn sie die Kinder zur Schule bringen. Es gibt Schulen im Land, an denen fast das gesamte Personal suspendiert wurde.
Die Regierung sagt offen, sie wolle eine religiöse Gesellschaft formen
Und dementsprechend paßt sie das Curriculum an. Es gibt jetzt statt einer Stunde zwei Stunden Religionsunterricht in der Grundschule. Es geht auch um alle anderen Fächer. In den schulischen Türkischbüchern beschäftigen sich sämtliche Texte seit neuestem mit religiösen Themen. Und auf den Bildern tragen alle Frauen Kopftücher. Genau wie in den Lesebüchern und Lehrfilmen – und wie es Allah gefällt.
Keine andere Berufsgruppe ist härter von den sogenannten Anti-Terror-Säuberungen betroffen als die Lehrerschaft, mit denen die türkische Regierung seit Monaten gegen mutmaßliche Unterstützer des Predigers Fetullah Gülen und im gleichen Zuge gegen angebliche Sympathisanten der kurdischen Terrormiliz PKK vorgeht.
Eigentlich gehe es der Regierung bei ihren Säuberungen im Bildungswesen darum, AKP-kritische Lehrer durch loyale Kollegen zu ersetzen, argwöhnt Turgut Yokus von der als links und oppositionell geltenden Lehrergewerkschaft Egitim Sen. Tatsächlich kursieren im türkischen Internet bereits die Examensfragen, die beantworten muß, wer auf die frei gewordenen Lehrerstellen rutschen will: „Welche Zeitungen und Kolumnisten verfolgen Sie?“, heißt eine davon. Oder „wie bewerten Sie die Gezi-Proteste im Jahr 2013?“, lautet eine andere. Und schließlich: „An wen denken Sie bei dem Begriff ´Großer Führer?‘ – die entlarvendste Frage.
„Schule ist der Ort, an dem Träume und Hoffnungen mit der Kraft des Glaubens verbunden werden…“
Keine Frage, die Entlassungen und Suspendierungen nach dem Putschversuch sind nur Teil einer von langer Hand geplanten Reform des türkischen Schulsystems. Erdogans Hächer arbeiten seit Jahren daran, die Schulen in seinem Sinne umzubauen. So wurden bereits der Englischunterricht reduziert, säkulare Lehrer und aufmüpfige Schulrektoren gefeuert oder kaltgestellt.
Die fortschreitende Islamisierung und „Erdoganisierung“ des türkischen Schulsystems ist mit den Händen zu greifen. Das wichtigste Bildungsinstrument der AKP sind inzwischen die religiösen „Imam-Hatip-Schulen“, deren Zahl sich seit einigen Jahren explosionsartig vermehrt. Präsident Erdogan selbst zählt zu den Absolventen der einstigen Berufsschulen für Imame, deren Abschluß durch sein Einwirken inzwischen als Abitur anerkannt wird.
Neben Mathe und Bio stehen auf den religiösen, aber staatlichen Schulen Fächer wie Arabisch, Korankunde oder das Leben des Propheten Mohammed auf dem Stundenplan. „Hier ist der Ort, an dem Träume und Hoffnungen mit der Kraft des Glaubens zusammengeführt werden“, heißt es in einem Video, das im Internet für die ganz normal steuerfinanzierte und vom Bildungsministerium beaufsichtigte Schulform wirbt. Die Kamera begleitet Schüler im Chemieunterricht genauso wie in der Moschee und bei der Koranrezitation.
Von den Militärs verboten, von Erdogan gefördert. Ziel: eine völlig neue Gesellschaft
Man sollte sich der Brisanz der Entwicklung – gerade auch in der Beziehung Türkei/Westen – bewußt sein. Im Jahr 1997 ließ das türkische Militär die Imam-Hatip-Schulen für unter 15-Jährige verbieten. Das säkulare System der türkischen Republik sollte geschützt werden. Als jedoch drei Jahre später Erdogan und seine AKP die Macht übernahmen, begann die Renaissance der religiösen Mittel- und Oberschulen. Seit 2003 hat sich ihre Zahl mehr als verzwölffacht. Und da kann es niemanden überraschen, daß heute aus der Türkei viel mehr Islam herüberschwappt, als uns lieb sein kann.
Diese Entwicklung ist für viele Eltern in oppositionellen Kreisen eine Horrorvorstellung. Denn hinter der rasanten, von der AKP-Regierung forcierten Ausbreitung des Imam-Hatip-Systems vermuten gerade säkular eingestellte Eltern mehr als nur ein paar zusätzliche Stunden Religionsunterricht in der Woche. Erdogan versuche damit, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzudrücken.
Indem man eine ganze Generation von Imam-Hatip-Schülern heranzieht, soll eine völlig neue Gesellschaft geschaffen werden.
Angesichts dieser nicht zu leugnenden Entwicklung sind unsere Politiker aufgefordert, den viel zu weichen Kurs gegenüber einer islamisierten Türkei zu korrigieren. Ob das unter Merkel geht, darf man füglich bezweifeln.
Peter Helmes via conservo.wordpress.com
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