Pharma Crime: Kopiert, gepanscht, ver­fälscht – Warum unsere Medi­ka­mente nicht mehr sicher sind

Die Phar­ma­in­dustrie hat die Kon­trolle über ihre Pro­dukte ver­loren: Bereits jedes hun­dertste Medi­kament in unseren Apo­theken und Kran­ken­häusern ist gefälscht – und das ist nicht zu erkennen, denn äußerlich handelt es sich um Originalprodukte.
Jedes Jahr sterben min­destens eine Million Men­schen weltweit an gepanschten Arz­neien, weil diese ent­weder gar keinen oder zu viel Wirk­stoff oder giftige Trä­ger­stoffe ent­halten. Vor allem lebens­er­hal­tende und stark nach­ge­fragte Arz­nei­mittel sind betroffen.
Danuta Harrich-Zan­dberg und Daniel Harrich decken in dem Buch “Pharma Crime” auf, wie es zu den Mani­pu­la­tionen kommt und welche Rolle die Phar­ma­un­ter­nehmen dabei spielen.
Ein span­nender und erschüt­ternder Bericht über Pro­fitgier, die selbst vor unserer Gesundheit nicht haltmacht.
Von Con­tergan bis zur Arzneimittelfälschung
Phar­macrime ist ein Ver­brechen an der Menschheit, Medi­ka­men­ten­fäl­schung ist ver­suchter Mas­senmord. Vor mehr als zehn Jahren drehten wir den Doku­men­tarfilm »Con­tergan« (ARD/ARTE – 2002). Er handelt von einem Arz­nei­mit­tel­skandal, der damals schon fast vierzig Jahre zurücklag, dessen Opfer jedoch kaum Gerech­tigkeit erfahren haben. Wir wollten mit dem Film an die Opfer erinnern.
Das Beru­hi­gungs­mittel Con­tergan mit seinem Wirk­stoff Tha­li­domid, Ende der 1950er-Jahre bis Mitte der 1960er-Jahre von der Her­stel­ler­firma Grü­nenthal als unschädlich ange­priesen, zer­störte das Leben unzäh­liger Men­schen: Tau­sende Neu­ge­borene starben auf­grund von schweren Behin­de­rungen. Tau­sende Babys kamen zwei‑, drei‑, vierfach behindert zur Welt: mit miss­ge­bil­deten Armen und/oder Beinen, Herz­fehlern und Schä­di­gungen anderer innerer Organe.
Den Müttern hatten Ärzte in den ent­schei­denden Wochen der Schwan­ger­schaft Con­tergan ver­schrieben. War­nungen vor Neben­wir­kungen, die von überall her ein­trafen, igno­rierte die Herstellerfirma.
Con­tergan war ein Skandal. Er führte uns erstmals vor Augen, was ein Arz­nei­mittel anrichten kann. Doch der fol­gen­schwerste Arz­nei­mit­tel­skandal der bun­des­deut­schen Geschichte endete ohne Gerichts­urteil – und ohne Gerech­tigkeit für die Opfer. Wir waren erschüttert, ins­be­sondere weil wir die Pro­zess­akten kannten und wussten, wie skru­pellos das Phar­ma­un­ter­nehmen Grü­nenthal in unserer Wahr­nehmung über die Schicksale und das Leid Tau­sender Kinder und deren Familien hinwegsah.
Aller­dings hatten die Ereig­nisse immerhin zur Folge, dass der soge­nannte Bei­pack­zettel in Medi­ka­men­ten­pa­ckungen zur Pflicht wurde. Seither können wir uns über mög­liche Neben­wir­kungen infor­mieren. Dass die Phar­ma­her­steller sich zugleich mit den Warn­hin­weisen absi­chern, steht auf einem anderen Blatt. Obwohl es damals hieß, der ursprüng­liche Her­steller Grü­nenthal habe das Mittel vom Markt genommen, ging die Geschichte von Tha­li­domid in anderen Teilen der Welt weiter.
In Bra­silien zum Bei­spiel wurden Prä­perate mit dem Wirk­stoff Tha­li­domid kos­tenfrei zur Ver­fügung gestellt, um Lepra­kranke zu behandeln. Es han­delte sich um eine Studie in Form eines Feld­ver­suchs. Die Folge: Eine weitere Gene­ration tha­li­do­mid­ge­schä­digter Kinder wuchs in Bra­silien heran. Später besuchten wir ver­schiedene Institute in den Ver­ei­nigten Staaten, wo der Wirk­stoff Tha­li­domid bei der Behandlung von Aids- und Krebs-Pati­enten bis heute ein­ge­setzt wird.
Hier erzielt man damit beacht­liche Hei­lungs­er­folge. Medi­ka­mente sind ein zwei­schnei­diges Schwert. Con­tergan lehrte uns das. Die einen hoffen auf Heilung. Für andere geht es um viel Geld. Ihren Profit vor Augen, handeln sie ohne Skrupel, ohne Moral, ohne Rück­sicht auf das Wohl der Menschheit.
Das alles deckten wir damals auf. Während unserer Dreh­ar­beiten in Bra­silien tagte dort ein Medi­ziner-Kon­gress. Einige der süd­ame­ri­ka­ni­schen Ärzte wollten unbe­dingt mit uns, den deut­schen Jour­na­listen, sprechen. Sie wollten uns auf ein Thema auf­merksam machen, das ihnen besonders viel Sorge bereitete: gefälschte Medi­ka­mente. Alle Länder Süd­ame­rikas seien von dem Problem betroffen, berich­teten uns die Ärzte.
Gefälschte Medi­ka­mente? Ver­gleichbar mit gefälschten Hand­ta­schen und Luxus­uhren? Wir hatten nie zuvor davon gehört. Con­tergan hatte unseren Blick auf die Phar­ma­in­dustrie geschärft, unseren Glauben an die phar­ma­zeu­tische For­schung, den medi­zi­ni­schen Fort­schritt und vor allem an die Methoden der Branche jedoch nicht grund­sätzlich erschüttert. Das mag aus dem Mund von Jour­na­listen, die seit vielen Jahren inves­ti­gativ arbeiten, reichlich naiv und opti­mis­tisch klingen. Viel­leicht ist es eine Art Selbst­schutz, denn jeder braucht irgendwann Medi­ka­mente – für sich selbst oder einen Men­schen, den er liebt.
Für uns aber stand das Positive im Vor­der­grund. Erst unsere Recherchen über Arz­nei­mit­tel­fäl­schungen haben uns viel von unserem Opti­mismus genommen. Der Doku­men­tarfilm über den Con­tergan-Skandal führte uns zu einem neuen Projekt: »Wirk­stoff: Profit – Der Kampf gegen die globale Medi­ka­men­ten­fäl­scher­mafia« ent­stand für den deutsch-fran­zö­si­schen Sender ARTE und die ARD.
Wir hatten gerade erst mit den Recherchen begonnen – uns auf die Suche nach Inter­view­partnern begeben, erste Hin­ter­grund­ge­spräche mit Experten geführt, Kon­takte zu den zustän­digen Ermitt­lungs­be­hörden geknüpft –, als uns die Rea­lität grausam ein­holte: Auf einmal standen wir selbst der Bedrohung durch Arz­nei­mit­tel­fäl­schungen hilflos gegenüber.
Es kann jeden treffen 
Es war im Jahr 2007, als wir von der schweren Erkrankung unserer Mutter und Groß­mutter erfuhren. »Lasst mich nicht sterben«, bat sie. Stellen Sie sich vor, da ist dieser Mensch, der Ihnen nahe­steht, den Sie und Ihre Kinder über alles lieben. Dieser Mensch ist krank. Und er will leben. Ich denke, jeder von Ihnen kann die Gefühle zwi­schen Schmerz, Sorge, Rat- und Hilf­lo­sigkeit nach­emp­finden. Viel­leicht genährt durch die kind­liche Hoffnung, es könne ein Wunder geschehen, stimmten wir einer Ope­ration zu, die unsere Mutter/Großmutter nicht retten, ihr Leben jedoch um ein Jahr, even­tuell etwas mehr, ver­längern würde.
Dann kam plötzlich eine Meldung aus den USA, die uns restlos scho­ckierte: Acht­und­achtzig Men­schen waren an gefälschtem Heparin, einem Blut­ge­rin­nungs­mittel des Phar­ma­riesen Baxter, gestorben. Die ame­ri­ka­nische Arz­nei­mit­tel­kon­troll­be­hörde, die Food and Drug Admi­nis­tration (FDA), meldete, die Fäl­schungen, gepanscht mit lebens­be­droh­lichen Sub­stanzen, seien auch in deutsche Kli­niken und Apo­theken gelangt. Die Nach­richt, dass ein Medi­kament mit gif­tigen Inhalten in Umlauf ist, kam für uns als Ange­hörige einer Frisch­ope­rierten zum schlimmst­mög­lichen Zeitpunkt.
Der Wirk­stoff Heparin wird unter anderem nach Ope­ra­tionen ver­ab­reicht, um Throm­bosen zu ver­hindern. Nach der Ent­lassung unserer Mutter/ Groß­mutter aus der Klinik spritzten wir ihr das Mittel jeden Tag zu Hause, wissend, wie sehr sie an dem bisschen Leben hing, das ihr noch ver­gönnt war. Sie klam­merte sich nicht an das Leben, sie freute sich daran. Trotz der Schmerzen und obwohl die Krankheit sie zuse­hends zer­störte, genoss sie jeden ihr ver­blei­benden Moment.
Ihre Augen waren voller Dank­barkeit und Ver­trauen, auch wenn wir ihr das Heparin ver­ab­reichten. Wir selbst fühlten uns zer­rissen und ver­un­si­chert. Wir wussten ja nicht, ob wir unserer geliebten Mutter und Groß­mutter da etwas Gutes taten. Wir fragten in der Apo­theke, ob die Spritzen, die wir ver­wen­deten, betroffen sein könnten. So ver­suchten wir, uns zu beru­higen. Aber eines wussten wir nun ganz sicher: Wir mussten unsere Recherche fort­setzen! Wir hatten großes Glück.
Kurz nachdem der Heparin-Skandal in den USA auf­ge­deckt wurde, bekamen wir Kontakt zu der Frau, die alles hatte auf­fliegen lassen. Coline Hubly war Kran­ken­schwester in einer Spe­zi­al­klinik in Toledo, Ohio. Im Dia­ly­se­zentrum der Klinik waren ihr Ehemann und ihre Schwie­ger­mutter im Abstand von nur drei Wochen mit dem gefälschten Heparin behandelt worden und gestorben.
Nach wei­teren Todes­fällen hegte Hubly einen Ver­dacht, obwohl ihr die Vor­stellung, dass ein gän­giges und in der Praxis vielfach erprobtes Medi­kament die Ursache für eine der­artige Tra­gödie sein könnte, zunächst völlig undenkbar erschien. Zumal das Heparin von dem Phar­ma­riesen Baxter und damit aus einer absolut seriösen Quelle stammte. Die Kran­ken­schwester ris­kierte viel, als sie es mit dem mäch­tigen und ein­fluss­reichen Phar­ma­konzern aufnahm, indem sie ihre Beob­ach­tungen in die Öffent­lichkeit trug.
Doch sie hatte recht: Die Firma hatte für die Her­stellung des Medi­ka­ments einen ver­un­rei­nigten Roh­stoff aus China impor­tiert und damit weltweit das Leben unzäh­liger Men­schen aufs Spiel gesetzt.
Wie brisant ist das Thema Medikamentenfälschungen?
Als wir uns auf die jour­na­lis­tische Recherche-Reise in die Welt der Phar­ma­in­dustrie begaben, in der unvor­stellbar hohe Geld­summen fließen, gerieten wir in ein Netz von weit­ver­zweigten Ver­bin­dungen und Ver­stri­ckungen. Wir sahen uns mit einer Vielzahl von Fragen kon­fron­tiert: Sind unsere Quellen seriös? Wem können wir ver­trauen? Gibt es kon­träre Mei­nungen? Wer ist mit wem ver­bandelt? Wie fließen Waren? Wie fließen die Gelder? Wo hört die Industrie auf, wo fangen unab­hängige Wis­sen­schaft und For­schung an – wenn es sie über­haupt gibt?
Unsere Recherchen über gefälschte Medi­ka­mente führten uns rund um den Globus. Nach Vor­re­cherchen von circa 2002 bis Ende 2006 fanden zwi­schen 2007 und 2017 Inter­views und Dreh­ar­beiten für dieses Buch und den ARD-The­men­abend Wirk­stoff: Profit statt.
Drehorte waren neben Deutschland auch Frank­reich, Belgien, die Nie­der­lande, die Schweiz, die Tsche­chische Republik, Öster­reich, Groß­bri­tannien, USA, Mexiko, Bra­silien, Indien, Tan­sania, Kenia, Ban­gla­desch und Marokko. Als Jour­na­listen sind wir vor allem auf eines ange­wiesen  – gute, ver­läss­liche Quellen und Infor­ma­tionen. Die besten und belast­barsten Quellen sind häufig wis­sen­schaft­liche Ver­öf­fent­li­chungen, Unter­lagen und Doku­mente. Dabei ist vieles öffentlich zugänglich, die Infor­ma­tionen sind in Studien, an Uni­ver­si­täten, Insti­tuten und Biblio­theken einsehbar.
Andere Doku­mente werden Jour­na­listen von Gesprächs­partnern über­geben oder anonym zuge­spielt. Unsere Aufgabe ist es, die Infor­ma­tionen zusam­men­zu­fügen, Wider­sprüche zu klären und ein Gesamtbild zu schaffen, das der Rea­lität ent­spricht und gleich­zeitig für den Leser/Zuschauer ver­ständlich ist.
Eine besondere Art des Infor­manten ist der »Whist­le­b­lower«. Dabei muss man sich über eines im Klaren sein: Whist­le­b­lower sind fast immer Ver­räter. Es sind Per­sonen, die streng ver­trau­liche Berufs­ge­heim­nisse an Jour­na­listen wei­ter­geben. Um ihr bri­santes Wissen zu erlangen, müssen Whist­le­b­lower Teil des Systems sein. Als solche haben sie – nicht immer, aber sehr häufig – bei den Machen­schaften, die sie auf­decken, selbst mit­ge­macht, oft gegen die eigene Moral und Ethik.
Wenn sie beginnen zu reden, hin­ter­gehen sie ihre Behörde, ihren Arbeit- oder Auf­trag­geber und ris­kieren damit soziale Iso­lation, finan­zi­ellen Ruin und in Extrem­fällen auch die eigene phy­sische Unver­sehrtheit. Deshalb ist der Umgang mit Whist­le­b­lowern und ihren Infor­ma­tionen extrem heikel. Die Zusi­cherung von Anony­mität und ins­be­sondere der Quel­len­schutz sind essen­zi­eller Bestandteil unserer Arbeit und durch das Zeug­nis­ver­wei­ge­rungs­recht rechtlich im § 53 der Straf­pro­zess­ordnung (StPO) geschützt.
Während der Heparin-Skandal juris­tisch und poli­tisch auf­ge­rollt wurde, reisten wir für Dreh­ar­beiten in die USA. Um die Witwe Coline Hubly hatten sich weitere Familien gesammelt, die eben­falls Ange­hörige ver­loren hatten. Sie gaben uns Inter­views, und wir bewun­derten ihren Mut, als sie kurz darauf vor einer Unter­su­chungs­kom­mission des US-Kon­gresses aussagten.
Auf der Ankla­gebank saß immerhin das Top-Management des Phar­ma­riesen Baxter. In den USA sprachen wir mit Experten der für die Arz­nei­mit­tel­zu­lassung und Kon­trolle zustän­digen Behörde Food and Drug Admi­nis­tration (FDA). Die Rolle der FDA beim Heparin-Fall ist höchst umstritten  – Kri­tiker werfen ihr voll­stän­diges Ver­sagen vor. Wir trafen Ermittler der Bun­des­po­lizei FBI und der Dro­gen­fahndung DEA, die bereit­willig mit uns über ihre Erfah­rungen im Kampf gegen Medi­ka­men­ten­fäl­scher sprachen. Wieder zurück in Europa, suchten wir das Gespräch mit den hier zustän­digen Behörden.
Ins­be­sondere die Beamten der Zoll­be­hörden warnten vor den Gefahren durch Arz­nei­mit­tel­fäl­schungen. Der Zoll ist für die Bekämpfung grenz­über­schrei­tender Kri­mi­na­lität zuständig – eine unglaub­liche Her­aus­for­derung für den Export­welt­meister Deutschland, der auch Mil­li­ar­den­werte impor­tiert und gleich­zeitig Dreh­scheibe für Waren aus aller Welt ist. Die Beamten des Zolls arbeiten mit aus­län­di­schen Behörden zusammen, so auch mit der inter­na­tio­nalen Poli­zei­or­ga­ni­sation INTERPOL.
INTERPOL führt in regel­mä­ßigen Abständen eine Schwer­punkt­aktion gegen Medi­ka­men­ten­fäl­schungen durch, die soge­nannte »Ope­ration Pangea«. Innerhalb weniger Ein­satztage fahnden mehrere Behörden weltweit koor­di­niert nach Phar­ma­fäl­schern. Die Ergeb­nisse sind immer beängs­tigend, weil dabei Mil­lionen von Medi­ka­men­ten­pa­ckungen sicher­ge­stellt werden. Wir durften »Pangea« mit unseren Kameras begleiten und doku­men­tierten Ein­sätze in Nairobi (Kenia) und Dar­essalam (Tan­sania).
Auf dem afri­ka­ni­schen Kon­tinent und später in Indien wurde uns klar, was für eine Tra­gödie Medi­ka­men­ten­fäl­schungen für die Ärmsten der Armen bedeuten. Wenn der Patient nicht lesen kann und das Medi­kament mög­li­cher­weise sogar von einer inter­na­tio­nalen Hilfs­or­ga­ni­sation kommt – bezahlt mit Spen­den­geldern aus Europa und Nord­amerika –, gibt es kaum einen Schutz­me­cha­nismus. Wie so oft muss man fest­stellen, dass unsere hohen Stan­dards – seien es mora­lische, soziale oder Sicher­heits­stan­dards – für Afrika nicht gelten: Der Kon­tinent scheint der west­lichen Welt egal zu sein.
Im Laufe unserer Recherche sind wir an zahl­reiche Phar­ma­kon­zerne her­an­ge­treten – unter anderem Bayer, Merck, Cipla, Nov­artis, Baxter, Pfizer, Gla­x­oS­mit­h­Kline, Sun Phar­maceu­ticals, Emcure, Taj Pharma. Die Liste wäre endlos lang. Obwohl es unserer Auf­fassung nach nur im Interesse der Pharma-Manager sein kann, Mar­ken­pi­raten das Handwerk zu legen, erhielten wir nur Absagen – bis auf eine Aus­nahme: Pfizer, einer der weltweit größten Phar­ma­kon­zerne sagte uns volle Koope­ration zu.
Wir konnten mit lei­tenden Mit­ar­beitern der Abteilung zur Bekämpfung von Marken- und Pro­dukt­pi­ra­terie sprechen, durften in Test-Laboren filmen und erhielten interne Unter­lagen, die über das System der Medi­ka­men­ten­fäl­scher auf­klärten. Gebets­müh­len­artig wurde pro­pa­giert, wie sicher das eigene System sei. Die Fäl­scher, so wurde uns ver­si­chert, betrieben kleine Hin­ter­hof­firmen in Indien und China, wo mit Beton­mi­schern die berühmten kleinen blauen Pillen ange­mischt und hän­disch ver­packt würden – mit dem Geschäft seriöser Arz­nei­mit­tel­her­steller habe das nichts zu tun.
Bei der Zusam­men­arbeit mit Firmen – im Bereich der Phar­ma­in­dustrie sind es oft Groß­kon­zerne, die ihre hoch­kom­plexen Inter­essen ver­treten – ist jedoch immer Vor­sicht geboten. Die einen reagieren auf Jour­na­listen abweisend, wie wir es auch bei der Mehrheit erlebt haben. Andere ver­suchen geschickt, die Zusam­men­arbeit als PR-Stra­tegie zu nutzen. Auf diese Weise hofft man, ein posi­tives Mar­ken­image zu kom­mu­ni­zieren und gleich­zeitig von den eigenen internen Pro­blemen abzulenken.
Bis zu einem gewissen Grad ist es den großen Kon­zernen tat­sächlich über Jahre hinweg gelungen, die Auf­merk­samkeit der Ermittler, Kon­troll­be­hörden und Jour­na­listen von der eigent­lichen Pro­ble­matik und der höchst frag­wür­digen Rolle der Industrie abzulenken.
Über­ein­stimmend mit den Beteue­rungen der Phar­ma­kon­zerne, ver­si­cherte man uns im Bun­des­kri­mi­nalamt (BKA), die legale Ver­triebs­kette vom Her­steller bis zur Apo­theke sei nicht durch Medi­ka­men­ten­fäl­schungen gefährdet. Doch da folgte nach dem Heparin-Skandal der nächste Pau­ken­schlag: Ein Whist­le­b­lower, selbst Phar­ma­groß­händler, gab uns gegenüber zu, er habe gefälschte Krebs­me­di­ka­mente, soge­nannte Zyto­statika, an normale deutsche Apo­theken geliefert. Der Informant berichtete, als er mit Anzeige drohte, sei er von seinen Geschäfts­partnern erpresst und ein­ge­schüchtert worden. Der Vor­sit­zende des Ham­burger Apo­the­ker­ver­bands Dr. Jörn Graue ver­traute uns zur gleichen Zeit an, hinter vor­ge­hal­tener Hand spreche man schon lange über schwarze Schafe in der Branche.

Dafür, dass es min­destens schwarze Schafe in der Branche gibt, spricht schon die Zahl der Fälle, die in den ver­gan­genen Jahren in Deutschland ans Licht der Öffent­lichkeit kamen:
Pharma-Fäl­schungen seit 2009
Deutschland, Herbst 2009: Die Staats­an­walt­schaft ermittelt gegen einen Arz­nei­mit­tel­im­porteur, der uner­laub­ter­weise Zyto­statika und HIV-Medi­ka­mente aus Nicht-EULändern in den Handel gebracht haben soll.
Deutschland, April 2010: Es wird bekannt, dass von 2002 bis 2007 Apo­theker bun­desweit nicht zuge­lassene und illegal impor­tierte Zyto­statika (Krebs­mittel) ver­wendet haben sollen. Ins­gesamt sollen etwa hundert Apo­theker in die Affäre ver­wi­ckelt gewesen sein.
Deutschland, August und Sep­tember 2013: Fäl­schungen des Krebs­mittels Sutent tauchen in deut­schen Apo­theken auf.
Deutschland, Sep­tember 2013: Zum wie­der­holten Mal in diesem Jahr müssen Phar­ma­her­steller Fäl­schungen des Magen­mittels Ome­prazol aus den Apo­theken zurückrufen.
Deutschland, Juni 2014: Das Bun­des­in­stitut für Arz­nei­mittel und Medi­zin­pro­dukte warnt vor Fäl­schungen des Krebs­mittels Sutent.
Deutschland, Juni 2014: Nach Arz­nei­mit­tel­dieb­stählen in Italien warnen die Auf­sichts­be­hörden vor Fäl­schungen teurer Krebs­me­di­ka­mente, HIV‑, Mul­tiple Sklerose- und Rheu­ma­ar­z­neien und Blutdoping-Produkte.
Deutschland, Oktober 2014: Das Paul-Ehrlich-Institut, zuständig für die Kon­trolle der Impf­stoffe und Bio­prä­parate, warnt vor Fäl­schungen des Krebs­mittels Avastin.
Deutschland, Oktober 2016: Phar­ma­kon­zerne rufen drei Anti­ba­by­pillen aus Apo­theken zurück. Offi­ziell ist von Pro­blemen mit der Halt­barkeit und der Reinheit der Pro­dukte die Rede. Das heißt ver­mutlich: Es handelt sich um gefälschte Medikamente.
Gespräche mit aus­ge­wie­senen Experten während unserer Recherchen bestä­tigten, dass das Thema Medi­ka­men­ten­fäl­schungen weit bri­santer ist, als Phar­ma­in­dustrie und das BKA uns weis­machen wollten. Ein wich­tiger Inter­view­partner für uns war dabei Prof. Dr. Harald Schweim.
Er leitete im Institut für Arz­nei­mittel (AMI) und später im damals neu gegrün­deten Bun­des­in­stitut für Arz­nei­mittel und Medi­zin­pro­dukte (BfArM) jeweils die Abteilung für Arz­nei­mit­tel­zu­las­sungen. Schweim warnte aus­drücklich vor der zuneh­menden Ver­breitung von gefälschten Medi­ka­menten. Zulassung und Kon­trolle von Arz­nei­mitteln sind ein euro­päi­sches Thema und, ins­be­sondere auf­grund der offenen Grenzen des Schengen-Raums, eine euro­päische Her­aus­for­derung. Günter Ver­heugen, von 2004–2010 stell­ver­tre­tender Prä­sident der EU-Kom­mission, brachte das Problem in einem Interview mit uns auf den Punkt: »Medi­ka­men­ten­fäl­schung ist ver­suchter Massenmord.«
Die Arz­nei­mit­tel­in­dustrie fürchtet den Image-Schaden, den Berichte über zwie­lichtige Machen­schaften oder unsaubere Medi­ka­mente anrichten. Darum gehen Phar­ma­firmen überaus diskret mit dem Thema um. So zumindest lautet die immer wieder abge­gebene Erklärung dafür, dass Phar­ma­kon­zerne den Deckel auf Nach­richten über gefälschte Medi­ka­mente halten. Doch immer häu­figer dringen beun­ru­hi­gende Mel­dungen in die Öffentlichkeit.
Die Dun­kel­ziffer – die Zahl der Fälle, die bislang nicht ent­deckt wurden – dürfte wesentlich höher liegen als das, was in den Nach­richten bekannt wird. Das ist der Grund, warum wir dieses Buch ver­fassen und die Filme über Arz­nei­mit­tel­fäl­schungen gedreht haben. Wir wollen Auf­klärung leisten, wo die Ver­ant­wort­lichen versagt haben, aus welchen Gründen auch immer. Denn das Problem betrifft jeden von uns.
Hier die Lese­probe und das Inhalts­ver­zeichnis als PDF. 

Quellen: PublicDomain/randomhouse.de am 25.03.2018 und pravda-tv.com