Venusfliegenfalle - IGA Berlin 2017 im Erholungspark Marzahn, Berlin Marzahn - By: Gertrud K. - flickr.com - CC BY-NC-SA 2.0

„Die Welt sitzt in der Falle“

Inter­es­sante Gedanken von Pankaj Mishra: „Die Welt sitzt in der Falle“

Die NZZ festigt ihren Ruf als die (letzte?) ver­bliebene kri­tische Stimme im deutsch­spra­chigen Raum mit einem sehr inter­es­santen Interview mit dem indi­schen Schrift­steller und Essayist Pankaj Mishra, der für seine diversen sozial- und glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Bücher bekannt ist. Die Highlights:

  • „(…) die Welt steht vor einem glo­balen Bür­ger­krieg – das schreiben Sie in Ihrem Buch. Das klingt ziemlich alar­mis­tisch. Was lässt Sie zu diesem Schluss kommen? – Ich meine damit nicht unbe­dingt phy­sische Gewalt, sondern denke an den Zusam­men­bruch eines Systems, der man­chenorts statt­findet und sich andernorts abzeichnet. In all den poli­ti­schen Krisen und im Auf­stieg von Dem­agogen und Extremen spiegelt sich ein fun­da­men­taler Ver­trau­ens­verlust – nicht nur in die Eliten oder die Regie­rungen, nein, in eine Grund­er­zählung unserer Gesell­schaft. Der Traum vom sozialen Auf­stieg liegt zer­stört am Boden, (…) Sie glauben nicht mehr an eine bessere Zukunft.“
    Stelter: Ich denke, es ist die Folge der Politik der letzten Jahre, die gerade bei uns in Europa auf die fal­schen Themen und Stra­tegien gesetzt hat.
  • „Wenn wir auf Fakten und Zahlen pochen, dann müssen wir die wütenden Leute für ver­rückt halten, tat­sächlich. (…) Die Sta­tis­tiken sagen nämlich nur, dass sich der Wohl­stand ver­grössert hat (…) Die Ver­teilung ist völlig unge­recht. Egal, ob in den USA und in Gross­bri­tannien oder in Indien, Indo­nesien oder Nigeria, überall sehen wir massive Ungleichheit. Insofern haben sehr viele Leute sehr gute Gründe, sich zurück­ge­setzt zu fühlen.“
    Stelter: Hier habe ich bekanntlich eine andere Auf­fassung, weil die Ungleichheit weltweit abge­nommen hat und zudem die Sys­tem­frage eine andere ist: nämlich die Geld­sys­tem­frage.
  • „Im 19. Jahr­hundert kam eine Kraft ins Spiel, mit der man in den Gesell­schafts­kon­zep­tionen des 18. Jahr­hun­derts noch nicht gerechnet hatte: der Indus­trie­ka­pi­ta­lismus. Diese Wirt­schaftsform ver­langt sofort wieder eine Hier­archie, sie akku­mu­liert Kapital in den Händen einer kleinen Min­derheit und schafft nicht nur neue Ungleichheit, sondern bringt mit Ent­wur­zelung und Umsiedlung auch alle Arten von trau­ma­ti­schen Trans­for­ma­tionen mit sich. Die euro­päische Bevöl­kerung erlebte das im 19. Jahr­hundert, heute sind die schmerz­haften Aus­wir­kungen der Moder­ni­sierung auch in anderen Welt­teilen zu sehen.“
    – Stelter: Was er hier schildert, ist der ganz normale Debi­tismus, den ich bekanntlich gut finde, solange man ihn sozial flan­kiert und zudem die Mechanik der Pleiten nicht ausschaltet.
  • „Impe­ria­lismus, Aus­beutung und Skla­verei haben einen ebenso grossen Anteil am hie­sigen Wohl­stand wie die indus­trielle Inno­vation. Das zu igno­rieren, ist gefährlich. Denn: Weder Indien noch irgendein anderes auf­stei­gendes Land kann heute noch Ter­ri­torien und Res­sourcen erobern. Das ist passé. Die Phan­tasie des Wohl­stands aber, der für einige wenige Länder aus dieser spe­zi­fi­schen Phase resul­tierte, ist in allen Köpfen ver­ankert. Die ganze Welt ist darin gefangen und sitzt in der Falle.“
    – Stelter: Da wider­spreche ich. Ich denke nicht, dass es die sozia­lis­ti­schen Begrün­dungen sind, die zum Wohl­stand geführt haben. Es ist Inno­vation und Pro­duk­ti­vität. Dennoch stimmt es, dass, wenn es nicht wei­tergeht, die Unzu­frie­denheit zunimmt.
  • „Wer die Welt­kriege erlebt hatte, wusste, wie dra­ma­tisch und schnell jeder ver­meintlich lineare Zivi­li­sa­ti­ons­prozess scheitern kann. Die Post-1945-Gene­ration hat dagegen nur Sta­bi­lität und dau­er­haften Auf­stieg gekannt. Sie hat eine absolute Aus­nah­me­pe­riode erlebt, in der es ja nur auf­wärts­gehen konnte: Aus den Ruinen gab es keine andere Richtung. Von dieser extrem beschränkten Erfahrung aus in die Zukunft zu extra­po­lieren und anzu­nehmen, dass alles überall besser werden müsse, ist unglaublich dumm. Und doch wird es dauernd gemacht.“
    – Stelter: Und diese Illusion wird zudem von den Poli­tikern befeuert!
  • „Ich sehe absolut keinen Fort­schritt in Richtung liberale Demo­kratie. Nir­gendwo. Und ich habe auch für die Zukunft keine Hoffnung. Liberale Demo­kratien sind sehr fragile Kon­struk­tionen, die im Verlauf der Geschichte nur in wenigen Phasen und in ein paar ein­zelnen Ländern funk­tio­niert haben.“
    – Stelter: und die sich jetzt selbst zer­legen, weil sie den fal­schen Themen hin­ter­her­laufen. Es geht nicht darum, das Sozi­alamt der Welt zu sein!
  • „(…) ein Land zu erobern und ihm die liberale Demo­kratie auf­zu­zwingen (ist falsch). (…)  Klüger wäre es, Arbeits­plätze zu schaffen, erst einmal eine Basis zu legen – anstatt irgendwo anzu­kommen und Wahlen zu ver­an­stalten, die dann nur neue Dem­agogen an die Macht bringen und das System letztlich sogleich wieder desta­bi­li­sieren. Ich kann es nur wie­der­holen: Liberale Demo­kratien sind sehr brüchig und genau wie der west­liche Wohl­stand eine Aus­nah­me­erscheinung, selbst in Europa.“
    – Stelter: Das denke ich auch. Vor allem sollte man zunächst die Gebur­ten­raten nach unten bringen, dann bekommt man natürlich weniger Kon­flikte und bessere Bildung.
  • „Man kann natürlich die Augen ver­schliessen vor allem, was hinter einem solchen Ergebnis steht (gemeint: Brexit, Trump), und sich zufrie­den­geben damit, dass die Abstimmung regel­konform durch­ge­führt worden ist und eine Mehrheit eine Ent­scheidung getroffen hat. (…)  Aber wir wissen doch genau, dass diese Resultate Aus­druck von enormer Unzu­frie­denheit sind, von Wut nicht nur auf die regie­rende Klasse, sondern auf eine tief emp­fundene Benach­tei­ligung.“
    – Stelter: und natürlich auf die falsche Politik und die zunehmend erbärmlich schlechten Politiker.

Wir befinden uns in einem tief grei­fenden Wandel und mit der nächsten wirt­schaft­lichen Krise (und damit Euro­krise etc.) dürfte es erst so richtig losgehen.
NZZ: „Pankaj Mishra: ‚Die Welt sitzt in der Falle‘“, 3. April 2018


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com