Von Bionerd - Eigenes Werk, CC BY 3.0, Link

Die Zahl gegen das Wort

In der modernen Medizin erleben wir heute einen zuneh­menden Verlust der Sprache zugunsten eines dra­ma­ti­schen Zuge­winns an Zahlen. Das Wort, welches nicht ohne Grund als biblisch-mythi­scher Anfang der Welt ver­standen wird und als solches eine Grund­be­dingung des mensch­lichen Lebens dar­stellt, dieses Wort ist scheinbar nicht mehr not­wendig, um Rahmen und Inhalt medi­zi­ni­scher Hand­lungen fest­zu­legen. Gesteuert werden die Art und Weise von medi­zi­ni­schen Maß­nahmen durch Zahlen: Labor­werte können auf Mikro­liter und Nano-Ein­heiten genau bestimmt, Dich­te­werte von Gewebe oder Knochen vom Com­puter auf Mil­li­onstel genau berechnet werden. Alle modernen bild­ge­benden Ver­fahren sind ohne die zah­len­ver­mit­telte EDV-Technik unmöglich.
Alles im und am mensch­lichen Körper Befind­liche kann ver­messen, gezählt, gewogen und somit in Zahlen gegossen werden. Und mit diesen Zahlen werden die Behand­lungs­richt­linien und The­rapie-Emp­feh­lungen vor­ge­geben. Rech­ne­rische Grenz­werte defi­nieren Gesundheit und Krankheit. Die Sprache, die Wer­tigkeit der kli­ni­schen Sym­pto­matik und die Beschwerden des Pati­enten treten dadurch in den Hin­ter­grund. Die Medien befördern mit Verve die zah­len­mä­ßigen Vor­gaben der Medizin, Ziffern lassen sich griffig und gut trans­por­tieren: Soll­werte von Blut­druck oder Cho­le­sterin zum Bei­spiel sind  heute jedermann ein Begriff.
Eine ärzt­liche Routine-Unter­su­chung ohne die Erhebung von Labor­werten, EKG, Blut­druck- und Herz­fre­quenz­messung ist im Grunde gar nicht mehr vor­stellbar, denn Arzt und Patient brauchen zumindest ein paar Basis-Zahlen, um über­haupt mit­ein­ander reden zu können. Erst die Zahl erlaubt die Sprache. Ohne das scheinbar Exakte der medi­zi­ni­schen Zahl breitet sich bei ortho­doxen Medi­zinern die Sprach­lo­sigkeit aus, denn liegen keine gemes­senen Daten vor, ist klas­sische, natur­wis­sen­schaftlich ori­en­tierte Schul­me­dizin nicht möglich. Die durch die Zahl erlaubte medi­zi­nische Sprache wird aber ten­den­ziell zu einer Pro­the­sen­sprache, da sie umso mehr an den klas­si­schen Sprach­in­halten verarmt, je mehr Zahlen vorliegen.
Letztlich wird die Sprache durch die Zahlen sogar per­ver­tiert, denn sobald sich das ärzt­liche Gespräch auf die Wie­dergabe von tech­no­lo­gisch erho­benen Befunden und Labor­werten redu­ziert, werden die mensch­lichen und emo­tio­nalen Fak­toren der ärzt­lichen Behandlung asym­pto­tisch gegen Null gehen. Sprechen heißt in diesem Umfeld dann nur mehr über­setzen. Die nackten, für sich betrachtet aus­sa­ge­losen Zahlen eines Labor­be­fundes etwa werden vom Arzt trans­la­to­risch mit Bedeutung ver­sehen und dem Pati­enten „aus­ge­deutscht“. Im Grunde spricht auf diese Weise der mes­sende Apparat durch und über den medi­zi­ni­schen Dol­met­scher mit dem Patienten.
Ein wei­teres Kenn­zeichen der Zahlen-Medizin ist, dass der kör­per­liche Kontakt zwi­schen Arzt und Patient immer weniger wird, weil der Bild­schirm des Arzt-Com­puters zum zen­tralen Akti­onsfeld geworden ist. Die Kör­per­sprache ver­schwindet so aus der Medizin. Zuerst müssen alle Daten und Zahlen in den PC ein­ge­geben sein, erst dann ist Medizin möglich. Und ohne den Pati­enten zu unter­suchen respektive zu berühren lässt sich dieser heute mittels moderner, zah­len­ba­sierter Tech­no­logien sofort ins Labor, zum Röntgen oder zum Kol­legen über­weisen. Ein Be-handeln kann sich dabei durchaus auf den Hän­de­druck bei der Begrüßung beschränken, die Medizin wird ohnehin von den mes­senden Appa­raten über­nommen. Mit Roboter- und Tele­me­dizin scheint diese Tendenz zur rech­ner­ge­stützten, tech­no­kra­ti­schen Behandlung um eine gar noch nicht abzu­schät­zende Dimension erweitert.
Freilich: Rein natur­wis­sen­schaftlich betrachtet ist das alles korrekt. Der Mensch wird durch die medi­zi­ni­schen Tech­no­logien objek­ti­viert, in seine mess­baren Anteile zerlegt und so der kon­kreten medi­zi­ni­schen Behandlung zuge­führt. Der Erfolg wird dem­entspre­chend nur durch die Kon­trolle der gemes­senen Werte fest­ge­stellt, die all­ge­meine Quan­ti­fi­zierung ist das Dogma der modernen Medizin. Fol­ge­richtig ist heute die exzessiv von Appa­raten, Zahlen und Mess­pa­ra­metern beherrschte Intensiv-Medizin die im Wortsinn als inten­sivste, also wir­kungs­stärkste Form von Medizin emp­fundene Fachrichtung.
Im Gegenzug ist die Frage „Wie geht es Ihnen?“ zur Floskel ver­kommen, deren negative Beant­wortung den Arzt in eine pein­liche Situation stürzt und sofort weitere Zah­len­er­he­bungen bzw. Unter­su­chungen not­wendig macht. Medi­zi­nische Unter­su­chungen werden heute solange fort­ge­setzt, bis irgendein mess­bares und quan­ti­fi­zier­bares Ergebnis vor­liegt. Wenn alle Zahlen und Mes­sungen dennoch unauf­fällig sind und der Patient trotzdem leidet, dann wird dieses Leiden als natur­wis­sen­schaftlich uner­klärlich qua­li­fi­ziert und dem Pati­enten emp­fohlen, es doch mit einer Psy­cho­the­rapie zu versuchen.
Das Wort, an dem der Arzt ohnehin niemals war, dieses Wort wird sol­cherart von der Medizin an sprach­mäch­tigere Ver­sor­gungs­ein­heiten wei­ter­ge­geben. Die Human-Medizin gibt aber gerade dadurch ihre humane Grundlage preis und ent­wertet sich zu einem bio­lo­gis­tisch-mecha­nis­ti­schen Instrument. Gegen­läufige Trends wie die Betonung der Wich­tigkeit von Lebens­qua­lität im Rahmen medi­zi­ni­scher Behand­lungen erscheinen nur auf den ersten Blick als solche: Alle soge­nannten Quality-of-Life-Mes­sungen laufen letzten Endes wie­derum auf Zahlen hinaus, denn sie werden in Scores und Punk­te­werten wie­der­ge­geben, das heißt gemessen.
Der Drang nach der Erhebung mög­lichst vieler Zahlen in der Medizin ist nicht nur ein Effekt des neu­zeit­lichen natur­wis­sen­schaft­lichen Para­digmas, sondern er offenbart auch ein mensch­liches Grund­be­dürfnis: Nämlich jenes nach Kon­trolle. Nur was der Mensch messen oder zählen kann, das kann er auch kon­trol­lieren und in der Folge beein­flussen. Durch die Anhäufung rie­siger Daten­mengen kann man in jeder Sparte sta­tis­tische Wahr­schein­lich­keiten errechnen und daraus Maß­nahmen für oder gegen etwas ableiten. Und natürlich will der Mensch vor allem seine Gesundheit kon­trol­lierbar, messbar und steu­erbar machen, er hat ja nur die eine. Die natur­wis­sen­schaft­liche Her­an­ge­hens­weise an die Erhaltung und Wie­der­her­stellung von Gesundheit hat sich aus diesen Gründen in den west­lichen Gesell­schaften seit der Auf­klärung in breitem Maße durchgesetzt.
Gleich­zeitig will der Mensch im medi­zi­ni­schen Bereich aber auch und vor allem die Zuwendung, die Ansprache, das Ver­ständnis und die Empathie, kurz, er will Mensch sein und bleiben, wenn er in die medi­zi­nische Maschi­nerie gerät. Neben der vor allem durch die Zahlen ver­mit­telten ratio­nalen Zugangs­weise zur Welt gibt es ja auch eine andere, wir­kungs­mäch­tigere und nicht rationale Gege­benheit: Die Rede ist vom Wesen des Men­schen per se. Ob man dieses nun als Emo­tio­na­lität, Seele, Psyche, Bewusstsein, Per­sön­lichkeit oder was auch immer bezeichnet, ist sekundär.
Spürbare Rea­lität ist, dass mit der Ratio alleine und nur mit den Zahlen mensch­liches Leben im Sinne der con­ditio humana nicht möglich ist. Dieses benötigt immer auch den Logos, das Wort. In der Welt sein bedeutet ja letztlich, in irgend­einer Form zur Sprache zu kommen. Das Wort ist das Vehikel zur Kom­mu­ni­kation und zur inter­per­so­nellen Aus­ein­an­der­setzung, es ist glei­cher­maßen wichtig für die Emo­tio­na­lität wie für die Intel­lek­tua­lität. Zahlen können Dinge beweisen, Mes­sungen belegen und Unter­su­chungs­er­geb­nisse dar­stellen, Worte aber können den Pati­enten trösten, auf­heitern, klüger machen, über­zeugen und bestärken. Anders aus­ge­drückt: Die Physik wird durch Zahlen und Formeln erkennbar gemacht, aber die Meta­physik – und diese gehört zum Wesen des Mensch­lichen ganz zwei­fellos — benötigt unab­dingbar das Wort.
Wenn also die Zahl wich­tiger wird als dieses Wort, dann gerät der Mensch in die Bre­douille. „Ihre Blut- und Rönt­gen­be­funde sind alle normal, medi­zi­nisch haben Sie nichts!“ ist ein oft geäu­ßerter Satz in Ordi­na­tionen oder Spi­tälern. Den unauf­fäl­ligen Befunden nach mag der Satz schon stimmen, er nützt aller­dings dem Betrof­fenen, der sich krank fühlt, über­haupt nichts. Doch weil dem Para­digma der Zahlen folgend auch die Finan­zierung der medi­zi­ni­schen Leis­tungen ihr Schwer­ge­wicht in den mess­baren, tech­no­lo­gi­schen Bereichen findet, wird kaum ein Arzt sich die Zeit für ein län­geres und mit ziem­licher Sicherheit hilf­reiches Gespräch mit diesem Pati­enten nehmen (können), denn der eben­falls durch Zahlen gene­rierte öko­no­mische Druck zwingt den Arzt dazu, weitere tech­no­lo­gische Unter­su­chungen anzuschließen.
Ein bezeich­nendes Licht auf diese zah­len­do­mi­nierten Zusam­men­hänge werfen dazu die Hono­rar­sätze der Kran­ken­kassen: Für die soge­nannte erwei­terte dia­gnos­tisch-the­ra­peu­tische Aus­sprache in der Länge von min­destens 15 Minuten erhält der Arzt zur Zeit etwa nur ein Drittel des Honorars dessen, was er für die Durch­führung eines EKGs bekommt, das in 3 Minuten erledigt ist. Ein EKG ist messbar und durch Zahlen defi­niert, ein Gespräch eben nicht. Allein mit diesem kleinen Bei­spiel ist der aktuelle Stel­lenwert des ärzt­lichen Gesprächs aus­rei­chend skiz­ziert. Gibt es in der Schul­me­dizin etwas appa­rativ zu messen, dann wird das gemacht und auch bezahlt. Gibt es aber etwas zu besprechen, dann ist das, auch wenn es dem Pati­enten nach­weislich hilft, kaum etwas wert und wird daher nicht oder nur selten gemacht. Das heißt, dass aus sys­tem­im­ma­nenten Gründen generell ein mas­siver Trend zu den appa­ra­tiven und inter­ven­tio­nellen Unter­su­chungen und The­rapien besteht, die wie­derum das System immer teurer machen. Der Nutzen für den ein­zelnen Pati­enten ist jedoch oft mar­ginal bis nicht vorhanden.
Unter diesem Para­doxon leidet die moderne Medizin und mit ihr der Patient ganz enorm. War vor 200 Jahren das Zuhören und das Reden in der damals noch dia­lek­ti­schen Arzt-Pati­enten-Beziehung unab­dingbar und die Dia­gnose wesent­licher Teil des oft wort­reichen Gespräches, so haben die Indus­tria­li­sierung der Medizin und die daraus ent­ste­hende Ver­schiebung der Wer­tig­keiten zugunsten des Mess- und Zähl­baren den Cha­rakter der Medizin grund­legend verändert.
Natürlich gibt es eine Menge an Argu­men­ta­tionen, welche die Natur­wis­sen­schaft in der Medizin recht­fer­tigen und niemand möchte ernsthaft auf die Mög­lich­keiten der modernen Medizin ver­zichten. Die großen und all­seits bekannten medi­zi­ni­schen Erfolge wie die maschi­nelle Beatmung oder die Ent­wicklung der Com­pu­ter­to­mo­grafie sind zwei­fellos ein­drucks­volle tech­no­lo­gisch inspi­rierte Leis­tungen. Ande­rer­seits gibt es jedoch keinen Beweis dafür, dass die auf der tech­no­lo­gi­schen Ent­wicklung beru­hende zah­len­ge­steuerte Medizin per se einen Ein­fluss auf die heute so hohe Lebens­er­wartung gehabt hätte. Dies wird von Epi­de­mio­logen, Sozio­logen und Sta­tis­tikern über­ein­stimmend auf geän­derte sozio-öko­no­mische Bedin­gungen, bessere hygie­nische Ver­hält­nisse etc. zurückgeführt.
Die tech­no­kra­tische, natur­wis­sen­schaftlich unter­mauerte Medizin hat also ihre höchst frag­wür­digen Seiten. Und dennoch gilt: Zahl schlägt Wort, absolut und in jeder Hin­sicht. Der medi­zi­nische Mate­ria­lismus und die Befund­gläu­bigkeit sind vorerst jedem meta­phy­si­schen Gedanken und jedem ärzt­lichen Gespräch über­legen, zumindest in der ortho­doxen Schul­me­dizin. Alle Leit­fi­guren des Gesund­heits­wesens, auch und vor allem die nicht-ärzt­lichen, beteuern zwar, dass der Mensch im Mit­tel­punkt jeder Medizin zu stehen habe. Aber in der Rea­lität steht er dort dem gesamten medi­zi­ni­schen System im Weg, außer er fügt sich den techno- und büro­kra­ti­schen Gege­ben­heiten, spricht nicht, meldet keine Bedürf­nisse an und verhält sich so, wie es ihm die rech­ner­ge­steu­erten Appa­ra­turen vor­schreiben, er sich also bedin­gungslos und schweigend der Zahl unterwirft.
Die Folge dieses Sieges der Zahl über das Wort ist, dass die Pati­enten von sich aus immer öfter in alter­native und para­me­di­zi­nische Bereiche abwandern. Wo alleine die nackte und stumme Zahl regiert, fühlt sich der Mensch nicht mehr wohl. Vom Heil­masseur bis zum Homöo­pathen, vom Hand­auf­leger bis zum Scha­manen pro­fi­tieren ab jetzt alle jene Akteure, welche eine medi­zi­nische Ver­sorgung abseits des natur­wis­sen­schaftlich Mess­baren anbieten, dafür aber Raum für Zuwendung und Gespräch erlauben. Alle, die das Wort an die erste Stelle rücken, sind die Nutz­nießer der vom Pati­enten als Ver­sagen emp­fun­denen Sprach­lo­sigkeit der modernen Medizin.
Doch was bedeutet dieser Befund für die Schul­me­dizin? Zunächst einmal ist er erschre­ckend: Die natur­wis­sen­schaftlich ori­en­tierte Medizin ist teuer, sie ver­bessert ins­gesamt nicht die Lebens­er­wartung und sie ver­schreckt die Pati­enten, weil sie diese a priori in ihre mess­baren bio­lo­gi­schen Para­meter zerlegt. Sie wirkt und agiert ihrem Wesen nach inhuman und sie stellt sich selbst durch ihr mate­ria­lis­ti­sches Dogma „Zahl vor Wort“ als die Medizin des Men­schen in Frage.
Um die klas­sische Medizin zu retten, bleibt für die Schul­me­di­ziner daher nur die Rück­be­sinnung auf die alten, tra­di­tio­nellen Werte ihrer Pro­fession: Das ärzt­liche Ethos, die Achtung vor dem Men­schen und die Wert­schätzung des Wortes als genuines Instrument der Begegnung zwi­schen Arzt und Patient. Die allzu lange hoch­ge­haltene rein natur­wis­sen­schaftlich ori­en­tierte Her­an­ge­hens­weise an den kranken Men­schen muss zugunsten einer erst wieder neu zu erler­nenden Raum­gebung für die meta­phy­si­schen Fragen des Daseins ver­lassen werden.
All­tags­tauglich for­mu­liert kann das heißen: Der Arzt muss zu seinen Wurzeln zurück­kehren, dem Pati­enten zuhören und mit ihm reden. Und die Zahl muss wieder werden, was sie war: Ein Hilfs­mittel für Dia­gnose und The­rapie. Die Wie­der­auf­wertung der ärzt­lichen Ur-Tugenden schließt auch mit ein, dass die Ärz­te­schaft in die immer hef­tiger wer­dende öko­no­mische Debatte, deren Ursache ja gerade im Etap­pensieg der Zahl über das Wort liegt, bestimmend ein­greift. Der Mensch soll im Mit­tel­punkt der Medizin stehen, darüber sind sich ja alle einig. Und das kann er eben nur, wenn das Wort seine ursprüng­liche Bedeutung wiedergewinnt.
 


Dr. med. Marcus Franz  — thedailyfranz.at