Ein “Wir” kann es nur geben, wenn es auch ein “Ihr” gibt. Erst das “Ihr” ergibt das vollständige “Wir”. Die notwendige Abgrenzung der beiden Entitäten beginnt bereits beim Ich und beim Du, also bei der je eigenen Identität. Hätte das Individuum keine klare Definition (=Abgrenzung), könnte es nicht als solches existieren, es wäre austauschbar und ohne Identität. Dasselbe gilt für das Wir und für das Ihr.
Vom Ich zum Wir
Das Individuum baucht für sein Überleben natürlich andere Individuen. Die erste und ursprüngliche Erweiterung des Individuums zum Wir ist klassischerweise die Familie. In weiterer Folge ist es — historisch betrachtet — die Sippe, danach der Stamm und dann das Volk. Heute kann man getrost die Nation als die größte Form des sinnvollen Wir bezeichnen. Die Klammer, die alles zusammenhielt und noch immer zusammenhält, ist nicht nur die Sprache, sondern vor allem die gemeinsame Kultur und die jeweils miteinander geteilten Wertehaltungen samt ihren metaphysischen, rituellen, philosophischen und auch ökonomischen Hintergründen, welche wiederum das Fundament der jeweiligen Kultur bilden. Jedes bewusste “Wir” basiert also auf kulturellen Gegebenheiten und der daraus hervorgehenden sozialen Entwicklung der Bürger und ihrer jeweils für eine Zivilisation spezifischen Rechte und Pflichten. Anders gesagt: Das Wir ist ein Apriori für die Zivilisation.
Europa in der Krise
Dieses “Wir” ist aber in Europa nun in eine existenzielle Krise geraten. Der heutige Liberalismus, der im Grunde eine absurde Mischung aus trotzkistischen Ideen und extrem individualistischen Gedanken ist, hat versucht, diese Bedingungen aufzulösen, indem er eine missverstandene und nicht klar definierte Toleranz und eine ebenso diffuse Gleichheits-Maxime ins Zentrum seines in Wirklichkeit postliberalen Weltbildes stellte. Das Ergebnis ist bekannt: Es heisst Multi-Kulti-Gesellschaft.
Das Multi-Kulti-Konzept ignoriert die kulturelle Conditio qua non, die das “Wir” benötigt, um prosperieren zu können. Und es schwächt sich selber, indem es jeder Kultur von vornherein dieselbe Wertigkeit zumisst und dieser noch dazu jede nur erdenkliche Ausbreitungsmöglichkeit im eigenen Raum verschafft. Die Folgen sind fatal. Man kann nicht einfach willkürlich die Grenzen zwischen den Kulturen verwischen oder gar aufheben, essenzielle Unterschiede ignorieren oder schönreden und sich erwarten, dass danach alles wunderbar in friedlicher Koexistenz in ein positives “Ende der Geschichte” mündet. Das Gegenteil ist der Fall. Jede Kultur strebt nach Dominanz, zumindest aber will sie Selbstbehauptung, solange sie noch nicht in die Degeneration verfallen ist.
Die Leitkultur als Postulat
In Europa sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder Rufe nach der Durchsetzung einer europäischen Leitkultur lautgeworden. Weil aber das “Wir”-Gefühl durch die erwähnten krypto-trotzkistischen, gleichmacherischen und individualistischen Strömungen längst erodiert ist und der Säkularismus seine kulturelle Totengräber-Funktion erfüllt, wurden alle diese Versuche in das sogenannte “rechte Eck” gedrängt und vom Mainstream als zumindest fragwürdig punziert. Die Leute bekamen über die seit 1968 permanent stattfindende linksideologische Infiltration zunehmend Angst, ihre angestammte Identität zu leben und sich zum Traditionellen zu bekennen.
Die Vereinzelung als Folge der Moderne
Das “Wir”-Gefühl wurde ausserdem auch noch durch modernistische Philosophien, die in der Stärkung des Einzelnen und in der “Selbstverwirklichung” des Individuums die Erlösung von allem irdischen Elend sahen, zusätzlich geschwächt. Vor allem über die sogenannte Befreiung der Frau, die sich vorwiegend in Empfängnisverhütung und Berufstätigkeit manifestiert, wurde der Kern des “Wir”, nämlich die Familienstruktur, nachhaltig geschwächt. Von der Schwächung der Familie ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Schwächung der kulturellen Identität als Nation.
Es geht auch anders
Wie dringend aber dieses “Wir” gebraucht wird, erleben wir am ständig stärker werdenden “Ihr” der Parallel-Kulturen (aus deren Perspektive das “Ihr” ja ihr eigenes “Wir” ist). Und wie gut sich das für jede Kultur überlebensnotwendige “Wir” wieder neu entwickeln kann, sehen wir an denjenigen Staaten in Europa, wo patriotische, selbstbewusste und national orientierte Bewegungen die Politik dominieren.
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