Sie sprechen die Position von Martin Hellwig an, ehemals Mitarbeiter der EZB. Und auch den Präsidenten des eher regierungsnahen DIW-Institutes, Marcel Fratzscher, der in den Target-Salden ebenfalls keine reale Gefahr sieht und in der Kritik daran eine Kampagne gegen Europa erblicken will, die populistischen Kräften in die Hände spielen würde. Gehen den Target-Befürwortern die Argumente aus, verbunden mit der Befürchtung, eine Begrenzung der Targetlinien könnte eine neue Eurokrise heraufbeschwören?
Ich glaube nicht, dass Sie beide richtig interpretieren. Beide stellen heute die möglichen Verluste beim Austritt nicht mehr in Frage, sondern betonen, dass das Target-System auch deutschen Investoren und Banken in Südeuropa hilft, die durch die Möglichkeit, ihr Geld in der Krise zurückzuholen, gerettet wurden. Das ist ja auch richtig. Nicht richtig ist, dass das Anwachsen der Target-Salden damit für Deutschland zu einem Vorteil umgedeutet wird. Wir haben nämlich die Portfolios der ganzen Welt mitgerettet, indem die Investoren die riskanten Anlagen in Südeuropa nun abstoßen und durch Vermögensobjekte in Deutschland ersetzt wurden, während die Bundesbank nun auf dem Umweg über das Eurosystem, also indirekt, zum größten Gläubiger der südeuropäischen Notenbanken wurde. Ich glaube im Gegensatz zu den Kollegen, dass man die Target-Salden behutsam begrenzen kann, indem man Obergrenzen setzt, bei deren Überschreitung saftig Strafzinsen kassiert werden, denn Überweisungen zwischen den Ländern können auch durch private Banken und Clearingsysteme erledigt werden. Die Bundesbank muss sich nicht ins Risiko begeben.
Aber man muss ja wirklich die Augen verschließen, um das Problem nicht zu sehen. Schließlich begannen die Targetsalden ja just mit Beginn der Finanzkrise zu steigen und dann nochmals in einer zweiten Welle im Jahr 2014 bis heute. Zuvor waren die Salden stets ausgeglichen …
Richtig. Es gab zwei Wellen, in denen die Target-Salden gestiegen sind. Die erste Welle ging von der Lehmann-Pleite 2008 bis ins Jahr 2012. Dann kam das ‚whatever it takes‘ von Mario Draghi. Und die zweite Welle dann von Mitte 2014 bis jetzt, wobei wir die endgültige Höhe wohl noch nicht erreicht haben. Die erste Welle rollte an, als die Kapitalmärkte – die zuvor einen inflationären, wettbewerbsschädlichen Boom hervorgerufen hatten – nicht mehr bereit waren, die Leistungsbilanzdefizite im Süden weiter zu finanzieren und das Kapital zum Teil sogar floh. Man hat sich damals das Geld selbst gedruckt, das man sich nicht mehr leihen konnte. Die EZB erlaubte es den lokalen Notenbanken, ersatzweise zu niedrigsten Zinsen Kredite zu gewähren, um weitere Importe zu finanzieren. Die privaten Kreditgeber selbst waren ja nicht nur nicht mehr bereit, neue Kredite zu geben, sondern vielfach wollten sie ihr Geld bei Fälligkeit sogar zurückhaben, ohne Anschlusskredite anzubieten. Die Target-Salden messen also quasi den Stopp ausländischen Kapitalzuflusses und auch eine echte Kapitalflucht. Die Ersatzkredite aus der heimischen Notenpresse und die Überweisungen ins Ausland hängen dabei eng miteinander zusammen, denn ohne diese Ersatzkredite wäre die lokale Wirtschaft sehr schnell ausgetrocknet. Die EZB hat die Kreditvergabe durch die nationalen Notenbanken erleichtert, indem sie die Pfandqualität der zu hinterlegenden Sicherheiten absenkte. Hinzu kamen die
ELA-Kredite wie auch das geheime ANFA-Abkommen. Da die Krisenländer im EZB-Rat in den entscheidenden Jahren mehr als ein Drittel der Stimmen hatten, hätte keiner die ELA-Kredite verhindern können, denn um sie einer nationalen Notenbank zu verwehren, braucht man zwei Drittel der Stimmen.
Und dann kam die zweite Welle…
Genau, nämlich mit der Realisierung, und auch bereits mit der Erwartung des QE-Programmes ab Sommer 2014. Im Zuge dieses Programmes haben die nationalen Notenbanken in Proportion zur jeweiligen Landesgröße in einem Umfang von insgesamt 2.400 Milliarden Euro alle möglichen privaten und öffentlichen Papiere gekauft. Diese zusätzliche Liquidität, die so entstand, blieb nicht in den Krisenländern, weil diese als unsicher angesehen wurden, sondern wurde großenteils nach Deutschland überwiesen. Man hat alles gekauft, was man bekommen konnte: Aktien, Immobilien und andere Güter und man hat auch Bankkonten damit gefüllt. Das Geld in Deutschland anzulegen, galt als sicherer.
Ist Ihnen bekannt, dass sich Bundeskanzlerin Merkel irgendwann einmal zu Target2 geäußert hat?
Nein. Das ist mir nicht bekannt. Aber der Vorsitzende des Wirtschaftsrats der Union,
Wolfgang Steiger, hat kürzlich in einem Interview mit der Wirtschaftswoche vor den wachsenden Target-Salden gewarnt. Er sagte:
„Es geht es um einen wesentlichen Teil des deutschen Auslandsvermögens. Die Bundesregierung muss aufhören, das Problem herunterzuspielen. Denn über das Target-System gewährt Deutschland anderen Euroländern zinsfreie Überziehungskredite in unbegrenzter Höhe für unbegrenzte Zeit“. Ich bin nun wirklich gespannt auf die Kanzlerin. Irgendwann muss sie ihr Schweigen brechen.
Der Gedanke drängt sich auf, dass die Verantwortlichen warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, man also Fakten schafft und dann wieder von ‚Alternativlosigkeit‘ schwadroniert, um weiter in Richtung ‚Transferunion‘ zu marschieren…
Ja, die Target-Salden müssten bei Austritt eines Landes oder gar eines Kollapses des Eurosystems abgeschrieben werden und die Bundesbank sähe sich einer riesigen Überschuldung gegenüber, schließlich verfügt sie nur über wenig Eigenkapital und der Staat müsste sie rekapitalisieren. Dass eine Rekapitalisierung bei Verlusten nötig werden könnte, ist die Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes. Aber auch wenn nicht rekapitalisiert wird, sind die Verluste da, weil der ewige Zinsstrom auf die Target-Salden, den die Bundesbank sonst bekommen hätte, wegfällt. Mit diesen möglichen Folgen wird man Deutschland konfrontieren und wird es zwingen und bitten, das Portemonnaie aufzumachen für eine Transferunion, um auf diese Weise den überschuldeten Ländern der Eurozone zu ermöglichen, weiter ihren Schuldendienst zu leisten. Dann zahlen wir die Zinsen, die die Schuldner an uns zahlen, letztlich zwar doch wieder selbst, doch wird das Problem auf die lange Bank geschoben.
In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt vor gut einer Woche haben Sie geschrieben, dass selbst der größte Euro-Enthusiast zugeben müsse, dass der Euro keine Erfolgsgeschichte gewesen sei und Europa sich verhoben habe. Wenn Sie versuchen, in die Zukunft zu blicken, welche Entwicklung für die Eurozone haben Sie vor Augen?
Ich habe einen wachsenden Verteilungsstreit vor Augen. Es wird Programme zur weiteren Vergemeinschaftung der Haftung geben, eine gemeinsame Einlagensicherung, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, wie sie von den Franzosen gefordert wird, ein gemeinsames Budget für die Eurozone – letztlich mit Transfers von Deutschland in andere Länder. Deutschland wird – im Kern zwar zögerlich – nachgeben, um den Kollaps des Systems zu verhindern. Wir sind nicht mehr frei in unseren Entscheidungen. Die Target-Salden machen Deutschland handlungsunfähig, weil es nicht mehr die Option hat, ‚Nein‘ zu sagen.
Wenn über ‚EU‘, ‚Eurozone‘ und ‚Freihandel‘ gesprochen wird, wird meist alles in einen Topf geworfen, so als ob das eine nicht ohne das andere zu bekommen wäre. Wenn wir uns einmal den Euro und gemeinsame europäische Geldtöpfe wegdenken, uns wieder nationale Währungen vorstellen, gepaart mit Freihandel, wäre das eine Situation, die der heutigen vorzuziehen wäre? Nicht zuletzt unter dem Wettbewerbsgedanken?
Eine Europäische Union mit Freihandel und einer Bereitstellung grenzüberschreitender öffentlicher Güter, doch ohne Euro wäre sicher besser als das, was wir jetzt haben. Daraus folgt aber nicht, dass man den Euro abschaffen soll, schließlich darf man die Umstiegskosten nicht ausblenden. Meine Aussage dazu ist: Es wäre natürlich besser gewesen, den Euro gar nicht erst einzuführen. Aber jetzt, da wir ihn haben, müssen wir ihn reparieren. Und die Reparatur sieht für mich so aus, dass wir die Eurozone flexibler machen. Der Politologe Fritz Scharpf hat beispielsweise ein Kerneuroland mit peripheren Ländern vorgeschlagen, die in die Eurozone hinein- aber auch wieder herauskönnen. Das kommt einer ‚atmenden‘ Währungsunion nahe, wie ich sie bereits vorgeschlagen habe. Wir müssen Regeln schaffen, wie ein Land geordnet den Euro verlassen kann. Wenn ein Land jedoch nicht mit dem Euro zurechtkommt oder es sich kein Geld mehr leihen möchte, weil ihm die Zinsen zu hoch sind, darf es nicht die Möglichkeit haben, die Hand aufzuhalten oder sich nach Belieben das Geld selbst zu drucken.
Glauben Sie, Ihre Kritiker am Ende überzeugen zu können?
Mir ist es sehr wichtig, dass das Thema ‚Target2‘ richtig verstanden wird. Diejenigen, die die Logik meiner Argumente anfangs vielleicht nicht richtig verstanden haben und die andere Argumente anbringen, neigen unter Umständen dazu – jetzt, wo sie merken, dass das Target-Problem doch ein großes Problem ist – die eigenen Erkenntnisprobleme zu kaschieren, indem sie relativ wütende Vorwürfe machen, bis hin zu ‚man sei europafeindlich‘. Da macht man es sich zu einfach. Nach Jahren der Diskussion muss man sich endlich bemühen, die Wahrheiten anzuerkennen und konstruktiv nach Lösungen zu suchen, um aus der Misere herauszukommen. Es sind doch keine Europafeinde, die auf die Funktionsschwächen des Eurosystems hinweisen. Im Gegenteil. Ich sehe mich als glühenden Europaverfechter und es gibt keine Alternative zur europäischen Integration. Wer diesen Hammer der ‚Europakeule‘ schwingt, der weicht nur der Diskussion aus.
Vielen Dank, Herr Professor Sinn.